E-Book, Deutsch, 496 Seiten
Hinton America on Fire
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-641-27591-4
Verlag: Blessing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Rassismus, Polizeigewalt und die Schwarze Rebellion seit den 1960ern
E-Book, Deutsch, 496 Seiten
ISBN: 978-3-641-27591-4
Verlag: Blessing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Protest gegen strukturellen Rassismus gehört nicht erst seit der Black-Lives-Matter-Bewegung, seit den Toden von Breonna Taylor, George Floyd und vielen anderen zum alltäglichen Straßenbild in den USA. Er ist, wie die Historikerin Elizabeth Hinton in ihrem Buch nachweist, auch nicht als jeweils spontaner Ausbruch von verzweifelter Wut und Gewalt zu verstehen.
Mit erzählerischer Wucht und anhand erstmals erschlossener Quellen vollzieht »America on Fire« nach, wie die Rebellion Schwarzer Communitys seit den 1960er-Jahren nahezu ununterbrochen gegen ein System gewaltsamer Unterdrückung ankämpft.
Elizabeth Hinton, geboren 1983 in Ann Arbor, Michigan, ist Professorin für Geschichte und African American Studies an der Yale University. Sie erforscht Diskriminierung und Ungleichheit in den Vereinigten Staaten. Mit ihrem von Kritikern und Kollegen hochgelobten ersten Buch, »From the War on Poverty to the War on Crime«, etablierte sie sich 2016 als eine der maßgeblichen Stimmen, die institutionellen Rassismus mit neuen Ansätzen hinterfragen und erklären. Sie setzt sich für Reformen des US-Justiz- und Polizeiwesens sowie gegen die Todesstrafe ein. Hinton lebt in New Haven, Connecticut.
Weitere Infos & Material
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Der Kreislauf
Junge Männer werfen am Nachmittag des 7. Juli 1970, dem dritten Tag des Aufstands in Asbury Park, New Jersey, Steine auf die Polizei, während diese vorrückt, um die Menge zu zerstreuen. (Bettmann Archive/Getty Images)
Die Bewohner von Carver Ranches hatten keine Bürgersteige, keine Hydranten und auch keine Kanalisation. Doch sie hatten Polizisten, die auf den Straßen ihres Wohnviertels patrouillierten. Schwarze Amerikaner aus Miami und Schwarze Migranten von den Bahamas hatten die Gemeinde Ende der 1940er-Jahre auf einer Fläche von rund 120 Hektar in Broward County, Florida, gegründet und sie nach dem gefeierten Wissenschaftler George Washington Carver benannt. Teenager der ersten Generation von Carver-Ranches-Bewohnern standen an einem Samstagabend im August 1969 gegen Mitternacht noch auf der Straße, als ein Deputy Sheriff der Polizei von Broward County vorbeifuhr. Einer der Jugendlichen warf einen Stein auf den Streifenwagen. Dieser kleine Akt der Auflehnung provozierte eine unverhältnismäßige und gewalttätige Gegenreaktion. Der Deputy hielt an, stieg aus, stellte den Steinewerfer, packte ihn am Hemd und bugsierte ihn auf den Rücksitz seines Streifenwagens. Die Freunde des Jungen wollten nicht zulassen, dass er wegen eines ebenso spontanen wie geringfügigen Vergehens von der County-Polizei mitgenommen wurde. Sie öffneten die Wagentür und zogen ihn heraus, doch der Deputy beförderte ihn wieder zurück. Nach mehrmaliger Wiederholung dieses Vorgangs setzten sich die Jugendlichen durch, und der Steinewerfer verschwand in der rasch anwachsenden Menschenmenge, die dieses Schauspiel beobachtete. Der Deputy Sheriff forderte angesichts der Überzahl Verstärkung an. Als diese aus drei benachbarten Polizeiwachen anrückte, gab irgendjemand fünf Schüsse auf die Polizisten ab. Niemand wurde getroffen. Der Sheriff bezeichnete den Vorfall später als »Vorstufe eines Krawalls« (»near riot«).20
Aufstände entwickelten sich Ende der 1960er- und zu Beginn der 1970er-Jahre meist, wenn Polizeibeamte sich – oft gewaltsam – in ganz gewöhnliche Alltagsaktivitäten einmischten, wenn eine Gruppe von Kindern oder Jugendlichen tat, was man in diesem Alter eben tut. Aufstände brachen aus, wenn Polizisten offenbar ohne jeden Grund präsent waren oder wenn die Polizei in Angelegenheiten eingriff, die intern geregelt werden konnten – wie Streitigkeiten unter Freunden oder Familienmitgliedern. Aufstände begannen, wenn die Polizei gesetzliche Bestimmungen durchsetzte, die in weißen Wohngebieten so gut wie nie Anwendung fanden, etwa Vorschriften zu Versammlungen von einer bestimmten Größe oder zum Verhalten einer »verdächtigen Person«. Zu Gewaltausbrüchen kam es auch, wenn Polizisten es versäumten, Anwohnern das übliche Entgegenkommen zu erweisen, das Weißen wie selbstverständlich zuteilwurde – wenn sie etwa weißen Teenagern gestatteten, in einem Park Alkohol zu trinken, aber US-amerikanische Teenager mexikanischer Herkunft für dasselbe Verhalten verhafteten. »Wenn sie uns einfach nur in Ruhe ließen, würde es auch keinen Ärger geben«, sagte ein Schwarzer Teenager-Junge, der sich während eines Aufstands in Decatur, Illinois, im August 1969 als Steinewerfer betätigt hatte. Seine Lösung war eine unmittelbare Reaktion auf das Offensichtliche. Ein Aufstand war jederzeit möglich, wenn das Alltagsleben polizeilich überwacht wurde, und oft genügte schon der bloße Anblick von Polizisten – die einen potenziell verhaften, schlagen oder sogar töten konnten –, um eine gewalttätige Reaktion auszulösen. Zahllose Beispiele für scheinbar willkürliche oder unnötig aggressive Interventionen vonseiten der Polizei führten in ihrer Häufung zu Frustrationen und lösten vorbeugende gewalttätige Reaktionen aus.
Das war »der Kreislauf«: das wiederkehrende Muster von übereifriger Polizeiarbeit und Aufstand, von Polizeigewalt und Einwohnergewalt, ein prägender Faktor des städtischen Lebens in segregierten und armen Wohnvierteln von Schwarzen und von US-Amerikanern mexikanischer und puerto-ricanischer Herkunft Ende der 1960er- und zu Beginn der 1970er-Jahre. Der Kreislauf entwickelte sich in Städten im ganzen Land, oft auch in kleineren Bezirken, die in den herkömmlichen Darstellungen zu dieser Epoche gar nicht erst auftauchen. Aber genau diesen mutmaßlich zweitrangigen Städten prägte sich der »War on Crime« am dauerhaftesten auf, und er legte die Grundsteine für den Gefängnisstaat. Jeder Aufstand hatte zwar seine eigenen Ursachen und auch seine eigenen Akteure, aber das eigentlich Bemerkenswerte sind die Gemeinsamkeiten.
Die außergewöhnlichen Momente kollektiver Gewalt, zu denen es zwischen der Verabschiedung des Bürgerrechtsgesetzes im Jahr 1964 und der Ermordung von Martin Luther King im Jahr 1968 kam, wurden sämtlich von Polizisten ausgelöst, die Schwarze Menschen verhafteten. Der Aufstand in Harlem von 1964 war der Vorläufer, eine sechs Abende andauernde Revolte, die ausbrach, nachdem ein New Yorker Polizist einen 15 Jahre alten Schwarzen Jungen getötet hatte. Zwei Wochen nach der Verabschiedung des bahnbrechenden Bürgerrechtsgesetzes sorgte Harlem für den Beginn des »langen heißen Sommers« von Lyndon B. Johnsons Präsidentschaft. Watts 1965 und Newark 1967 jedoch flammten jeweils als Reaktion auf die Verhaftung eines Schwarzen Autofahrers auf. Eine Polizeirazzia gegen eine illegale Kneipe in Detroit in jenem Jahr gipfelte dann in einem Gewaltausbruch, den Johnson als den »schlimmsten in unserer Geschichte« bezeichnete. Nach der Ermordung Kings am 4. April explodierte die Gewalt dann im Frühling 1968 in mehr als 100 weiteren Städten. Das kollektive Leid, der Zorn und die Ernüchterung, die auf Kings Tod folgten, markierten einen Wendepunkt für den Mainstream der Bürgerrechtsbewegung und seine Betonung der Gewaltlosigkeit – einer Strategie, der es nicht gelungen war, ihren präsentesten Befürworter vor den gewalttätigen Kräften des Rassismus zu schützen, und die, jedenfalls nach Ansicht vieler Menschen, nicht dazu taugte, den Schwarzen Amerikanern wahre Freiheit zu verschaffen. Eldridge Cleaver, eine der führenden Persönlichkeiten der Black Panthers, schrieb kurz nach dem Mordanschlag in seinem Artikel »Requiem for Nonviolence«, Kings Ermordung sei »eine endgültige Zurückweisung jeder Hoffnung auf Versöhnung vonseiten des weißen Amerika, jeder Hoffnung auf Veränderung durch friedliche und gewaltlose Mittel«. Für Cleaver war der einzige Weg für Schwarze Amerikaner, »die Dinge zu bekommen, auf die sie ein Anrecht haben und die sie verdienen, Feuer mit Feuer zu begegnen«.21
Die King-Aufstände stellten auch für die Polizeiarbeit einen Wendepunkt dar. An Kings Todestag mobilisierte Johnson Truppen der Bundesregierung in der Hauptstadt des Landes und kurz darauf in Chicago, Baltimore und Kansas City. »Ich weiß nicht, wie wir diese Sache regeln«, räumte Johnson etwa zwei Wochen nach dem Beginn der Unruhen in einem Telefonat mit dem Chicagoer Bürgermeister Richard Daley ein. »Aber eines weiß ich: Wir müssen sie mit voller Kraft und aller Härte anpacken.« Johnson war der Ansicht, dass der aggressive Einsatz – von insgesamt mehr als 20 000 Soldaten – dafür gesorgt hatte, dass das Land nach der größten Welle gewalttätiger innerer Unruhen seit dem Bürgerkrieg »in einigermaßen gutem Zustand« war.22 Bis zum Aufstand von Los Angeles 1992 sollte dies das letzte Mal sein, dass Truppen der Bundesregierung aufgeboten wurden, um Aufstände von Schwarzen zu unterdrücken. Die Pause war nicht von Besorgnis wegen der Bürgerrechte von Amerikanerinnen und Amerikanern motiviert, sondern das Ergebnis einer Professionalisierung der Polizei, eines Prozesses, der unter Johnson einsetzte, dessen Regierung Ausbildungsprogramme zur Aufstandsbekämpfung einrichtete und örtliche Polizeikräfte mit militärischen Waffen ausrüstete.
Das polizeiliche Vorgehen gegen Alltagsdelikte hatte bereits früher in den 1960er-Jahren Aufstände ausgelöst: das Auseinandertreiben einer Menschenmenge in Omaha im Juli 1966; die Verhaftung eines Schwarzen Schnapshändlers in einem Park in Kansas City 1967 und die zwangsweise Beendigung von Auseinandersetzungen zwischen Schwarzen Teenagern in Minneapolis und Sacramento im gleichen Jahr. Aber nach Kings Ermordung wurden Polizisten zu Infanteristen mit einem umfassenderen Auftrag – dem »Krieg gegen Kriminalität« –, und dafür standen größere Ressourcen und mehr Männer zur Verfügung als jemals zuvor. Die Mittelzuweisungen für lokale Polizeikräfte aus dem Bundeshaushalt stiegen von null im Jahr 1964 auf zehn Millionen Dollar 1965, 20,6 Millionen waren es 1966, 63 Millionen 1968, 100 Millionen 1969, und 1970 war man bei 300 Millionen Dollar angelangt – eine Zunahme um 2900 Prozent innerhalb von fünf Jahren.23 Johnsons Omnibus Crime Control and Safe Streets Act von 1968 befeuerte die Einrichtung und landesweite Verteilung eines Arsenals zur Aufstandsbekämpfung, und die Verwaltungen und Polizeikräfte kleinerer Städte – diejenigen, die nicht zu den anfänglichen Nutznießern zählten, den großen Ballungsräumen mit einem hohen Schwarzen Bevölkerungsanteil wie etwa Washington, Detroit und Los Angeles – fühlten sich ermutigt. Der Safe Streets Act, der Schlussstein von Johnsons Great Society, brach mit den bisherigen 200 Jahren amerikanischer Geschichte und wies der Bundesregierung eine direkte Beteiligung beim Polizeivollzugsdienst und bei der Strafgerichtsbarkeit auf...




