Hirschfelder / Hauser / Schultz | Wer bestimmt, was wir essen? | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 190 Seiten

Hirschfelder / Hauser / Schultz Wer bestimmt, was wir essen?

Ernährung zwischen Tradition und Utopie, Markt und Moral

E-Book, Deutsch, 190 Seiten

ISBN: 978-3-17-041676-5
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



The topic of nutrition has become a major issue since the turn of the millennium. Ethical aspects of nutrition are playing an increasingly important role in public discussions, alongside health considerations. What one should eat, and even what it is permissible to eat, is a matter of controversy and is charged with ideology and emotion. It is becoming increasingly difficult to keep track of the issues. The essays included in this book sum up the various facets of the topic in a compact and readable way from the viewpoint of various scientific disciplines. In addition to the food situation in Germany, issues involving the structure of the food sector, the formative power of tradition, food scandals and mechanisms of scandalization, food policy and the role of the media are addressed. Last but not least, it is important to take into account the global interconnectedness of our food supplies and look at the prospects for the future of nutrition.
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Essen heute: Praktiken, Diskurse, Widersprüche
Gunther Hirschfelder
In Europa und vor allem in Deutschland war die Versorgung mit Essen noch nie so einfach: Lebensmittel sind im geschichtlichen und im räumlichen Vergleich außerordentlich leicht verfügbar, sicher und preiswert. Würde ein Mensch des Mittelalters heute durch Fußgängerzonen oder Einkaufszentren schlendern – er würde sich im Schlaraffenland wähnen. Gleichzeitig scheint Essen zunehmend kompliziert; Ernährung ist zum Politikum mutiert. Wer sich zu Bratwurst oder Steak bekennt, läuft Gefahr, dass sich andere angegriffen fühlen, und auch die Vorliebe für Kunstfleisch-Burger oder Sojamilch hat programmatischen Charakter. Wenn es um Essen in Deutschland geht, können alle mitreden, denn jeder Mensch isst und trinkt täglich, sein ganzes Leben lang. Besteht die ganze Bevölkerung deshalb aus Expertinnen und Experten? Das glauben viele, aber Experten sind wir noch nicht einmal für die eigene Ernährung, geschweige denn für die des ganzen Landes. Die Situation ist unübersichtlich. Seit langer Zeit macht die Rede von der Consumer Confusion die Runde – der Verbraucherverunsicherung. Tatsächlich sind aber nicht nur die Verbraucher verunsichert, sondern alle: die Politik ebenso wie die Agrar- und die Ernährungsbranche, die Ernährungsbildung oder auch die Ernährungsforschung. Oder weiß jemand verlässlich, wie eine Ernährung funktioniert, die den Spagat zwischen physiologischen, psychologischen, politischen, ökonomischen, ökologischen und vor allem auch kulturellen Determinanten schafft? Eine Ernährungslehre, die nicht nur verordnet, sondern auch gerne umgesetzt wird? Offenbar nicht – und auch das vorliegende Buch kann und will dies nicht leisten, denn beim Blick auf die Ernährung der Gegenwart und die der Zukunft zeigt sich eine Gleichung mit (zu) vielen Unbekannten. Wenn aber keine Lösung präsentiert werden kann, was dann? Es geht in einem ersten Schritt darum, den Ist-Zustand der Ernährung kritisch darzulegen und zu reflektieren: Welche Faktoren wirken auf den Komplex der Ernährung? In welchem Spannungsfeld bewegen sich jene, die Lebensmittel produzieren oder konsumieren? Dabei sei vorausgeschickt, dass der Autor der vorliegenden Zeilen nicht für oder gegen irgendeinen Produktions- oder Ernährungsstil ist, sondern für die Auswertung von Daten – freilich auf wissenschaftlicher Ebene und in einem freiheitlich-demokratischen Kontext und somit bekennend, dass die Freiheit des Einzelnen immer nur so weit geht, wie die Freiheit der Anderen dies zulässt, und dass Produktionsbedingungen und Ernährungsstile eng mit Nachhaltigkeit und planetarer Zukunftsfähigkeit verzahnt sind. Nach einem einführenden Problemaufriss kreisen die Autorinnen und Autoren, denen an dieser Stelle besonders gedankt sei, das Themenfeld ein: Welche historischen Prägekräfte wirken auf die Gegenwart? Wie viel Macht hat das Lebensmittelbusiness, welche Rolle spielt es in der deutschen Wirtschaft und wie frei sind Individuen tatsächlich in ihren Konsumentscheidungen? Warum steht die Ernährungsindustrie so oft am Pranger? Wie funktionieren Skandale und Skandalisierungen? Es folgen Analysen der Ernährungspolitik, der Rolle des Essens in den Medien und der globalen Verwobenheit unserer Lebensmittel, ein Ausblick auf die Zukunft der Ernährung und eine Zusammenschau. Heile Welt auf dem Teller? Die Prägekraft der Tradition
Strukturell ist Esskultur konservativ, also bewahrend. Das liegt einmal daran, dass Menschen eine regelmäßige Zufuhr von Nährstoffen benötigen, die abhängig von Alter und Geschlecht zu etwa 50 bis 65 Prozent aus Kohlenhydraten bestehen sollte, zu 15 bis 25 Prozent aus Eiweiß und zu 20 bis 30 Prozent aus Fett. Abhängig von Alter und Geschlecht liegt der Energiebedarf ungefähr zwischen 1600 und 2500 Kilokalorien pro Tag, und wer körperlich schwer arbeitet oder intensiv Sport treibt, braucht leicht 4000 Kilokalorien oder mehr. Diese Bedarfe unterliegen keinen Moden, sondern sind durch unsere Körperlichkeit determiniert. Neben der physiologischen Zwangsläufigkeit bestimmen weitere Bedingungsfelder, was gegessen wird: Die Palette reicht vom Klima und der Geografie über die Ökonomie und die Kommunikationsstrukturen bis hin zu Tradition und Religion. Diese äußeren Einflussfaktoren können wir als Makroebene der Ernährung bezeichnen. Wer allerdings gerade einkaufen oder essen möchte, macht sich diese strukturellen Parameter in der Regel nicht bewusst – damit sind wir auf der Mikroebene der Ernährung angelangt. Auf dieser Ebene spielen kulturelle und psychologische Determinierungen eine maßgebliche Rolle, denn zwischen der Notwendigkeit der Nahrungsaufnahme, die sich als Hungergefühl äußert, und der Befriedigung dieses Bedürfnisses steht das kulturelle System der Esskultur. Wesentliche Prägekraft dieses Systems ist zunächst die Tradition: Esspraxen werden im Laufe des Lebens erlernt, und ihnen kommen viele Funktionen zu. Das gemeinsame Mahl ist wesentlicher Ort der Sozialisation, beim Essen werden soziale Bindungen ausgehandelt, hier finden Rollenzuschreibungen statt, auch Hierarchisierungen. Freilich war das in der Vormoderne bis ins 19. und zum Teil sogar bis ins 20. Jahrhundert hinein stärker ausgeprägt: Damals bedienten sich in agrarisch strukturierten Regionen Großbauer und erster Knecht bei Tisch oft zuerst, dann die Bäuerin, danach die größeren Jungen und zum Schluss Mädchen und Alte. Noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts gab es vielerorts an Werktagen nur für den Vater prestigeträchtiges und teures Fleisch, nicht aber für Frauen und Kinder. Aber auch heute ist am Esstisch noch immer die Frage von Belang, wer Deutungshoheit über das hat, was gegessen wird: Können sich Jugendliche mit ihren Konzepten von veganer Kost hier durchsetzen oder führen andere Ansichten über das Essen zu Konflikten? Gibt es soziale Gemeinschaften, in denen patriarchale Vorstellungen auch über den Essalltag bestimmen? Wir wissen es nicht genau. In jedem Fall ist Tradition auch weiterhin stark prägend, denn Essen verleiht emotionale Sicherheit. Daher nimmt es nicht wunder, dass die Werbung mit Traditionsbildern arbeitet, mit Frakturschriften, mit Versprechen von einer heilen bäuerlichen Welt, die es so nie gegeben hat, mit Eintopfgerichten, die Traditionen eher erfinden als abbilden. Auch für Individuen spielen eingravierte Muster eine große Rolle, denn beim Essen werden Geschmackserinnerungen abgerufen. Menschen hegen eine Vorliebe dafür, Dinge zu essen, die sie an eine sorgenfreie, geborgene Zeit erinnern, an die schöne Kindheit. Ob Kartoffelsalat mit Bockwurst, Brötchen mit Schoko-Creme oder das türkische Frühstück »Kahvalti« – den Geschmack der Kindheit wird niemand so leicht los, es sind dies die schwersten Gepäckstücke in jenem kulturellen Rucksack, der uns durch das ganze Leben begleitet. Bei einer Feldforschung in der Kantine der orthodoxen Synagoge in Budapest traf ich im Herbst 2021 einen Geschäftsmann, der mir erzählte, er sei nur gekommen, um einfach einmal wieder »Knaidlech« zu essen, Suppe mit Matzeknödeln, die für ihn Sinnbild seiner Kindheit sind. Dieser Effekt kann natürlich auch umgekehrt funktionieren: Speisen, die man in Momenten von Angst und Stress gegessen hat, werden später häufig gemieden. Abb. 1: Speisen können eng mit individuellen und kollektiven Erinnerungen verbunden sein. Hier: Matzeknödel, ein beliebtes Suppengericht in der ostjüdischen Küche (Quelle: Gunther Hirschfelder). Essen hat oft auch Symbolcharakter, selbst wenn sich die Essenden dessen gar nicht bewusst sind. Lebensmittel werden eben nicht beiläufig gekauft, vielmehr sind Erwerb und Verzehr Resultate von Reflexions- und Kommunikationsprozessen. Dabei hat die tragende Abb. 2: Trotz des Trends zu einer fleischlosen Ernährung ist der Fleischkonsum in Deutschland nach wie vor hoch. Hier: Schweinehälften (Quelle: Lars Winterberg). Rolle psychologischer Faktoren nicht zuletzt zur Folge, dass das Nahrungsverhalten häufig widersprüchlich ist: Sich auch nach den eigenen Überzeugungen konsequent optimal zu ernähren, bedeutet, in der Einkaufssituation viele Parameter berücksichtigen zu müssen. Das überfordert viele, zumal Hunger und Lust auf Leckeres sich lautstark zu Wort melden. Daher essen die meisten Menschen anders, als sie es sich wünschen. Wirft man etwa einen Blick auf den Fleischkonsum in Deutschland, so steht dieser in Kontrast zum medial dominierenden Ideal eines pflanzenbasierten, nachhaltigen und tierethisch motivierten Ernährungsstils: Tatsächlich verzehrten die Deutschen laut dem Bundesinformationszentrum Landwirtschaft im Jahr 2020 pro Kopf gut 57 Kilogramm Fleisch – im Vergleich zur Mitte der...


Prof. Gunther Hirschfelder teaches Comparative Cultural Studies at the University of Regensburg.


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