E-Book, Deutsch, 170 Seiten
Reihe: WEEERD
Hockmann Caller off Duty
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-942006-85-9
Verlag: Verlag der Ideen
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 170 Seiten
Reihe: WEEERD
ISBN: 978-3-942006-85-9
Verlag: Verlag der Ideen
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Matthias Hockmann ist das Surrogat von Bowls Götzke. Er ist der Autor des Buches 'Tridiversum ' und wurde 1983 in Papenburg geboren. Matthias studierte Jura in Osnabrück und Münster. Noch während dieser Zeit begann er, Musik- und Theaterrezensionen für die Neue Osnabrücker Zeitung zu schreiben. Er arbeitet freiberuflich als Musikprojektleiter an verschiedenen Privatschulen in Köln. In seiner Freizeit schreibt er Kurzgeschichten und Lyrik und komponiert. Die hier hinterlegte Bilddaten seiner physischen Struktur wurden von Lucas Grey erstellt.
Autoren/Hrsg.
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Abermals fahre ich mit dem Bus. Es ist das dritte Mal in meinem Leben, denn wie oft Max Mustermann Bus fährt, weiß ich nicht. Wahrscheinlich morgens zur Arbeit und abends zurück. Ich spüre, dass er mich nicht interessiert. Der Anruf seiner Mutti hat ihn nicht interessanter werden lassen. Einmal war ich kurz versucht, die Kontakte in meinem Adressbuch abzutelefonieren, aber wem würde das nützen? Unbekannte Namen, unbekannte Nummern. Ich bleibe also bei der Gleichgültigkeit für meine Gesternidentität.
An der ersten von insgesamt vier Haltestellen steigt eine Gruppe älterer Frauen in den Bus, und ich frage mich, ob die Welt am Vergreisen ist. Eine will neben mir Platz nehmen und pampt mich an: »Könnten Sie den Koffer freundlicherweise woanders hintun?«
Ich beschließe, mir einen kleinen Spaß zu erlauben, und antworte: »Sie dürfen sich gerne drauf setzen. Der hält das aus.«
»Ich möchte nicht auf Ihrem Koffer sitzen!«
»Er hat wirklich nichts dagegen! Trauen Sie sich ruhig!«
»Ich … nein.«
»Dann tut es mir Leid. Mein Koffer möchte seinen Platz nicht freigeben.«
»Verzeihung, Sie sprechen mit Ihrem Koffer?«
»Ja.«
»Wie kommt man denn auf sowas?«
»Na, er ist mir ans Herz gewachsen. Und da ich heut morgen meine Identität verloren habe, ist er mein einziger Freund. Bei mir auf der Arbeit gibt es nur Idioten. Mit denen bin ich nicht befreundet. Nicht wahr, Koffer? Wir schlagen uns schon durch!«
»Ich muss mein Ticket noch lösen.«
Die alte Frau hat es plötzlich sehr eilig, von mir wegzukommen, doch der Bus bremst an der nächsten Haltestelle so ruppig, dass sie stürzt. Ihre Handtasche fliegt durch die Luft. Ich kann mir nicht helfen: Ich muss lachen und bleibe sitzen. Die anderen Fahrgäste springen auf oder machen »Oh-mein-Gott«-Geräusche. Der Busfahrer erkundigt sich durchs Mikrophon, ob alles in Ordnung sei.
Der alten Frau wird auf die Beine geholfen, ich ernte vorwurfsvolle Blicke. Der Busfahrer wird informiert, dass »nix passiert« sei, und die Frau lässt sich auf einen Sitzplatz fallen, den ein Punker-Mädchen für sie räumt, das sowieso aussteigen muss. Ich finde meine Reaktion angemessen. Die alte Schabracke ist kein Mensch, der Freude und Glück verteilt. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass sie mich von Anfang an nicht leiden konnte, weil ich ja bloß der dekadente Schnösel bin, der vor nichts Respekt hat und aus Boshaftigkeit Sitzplätze mit Koffern belegt. Ich bin ein exzellenter Beobachter. Zwei Haltestellen lang werde ich von allen ignoriert, bis ich aussteigen muss. Da ruft mir die Frau noch hinterher: »Sie sollten sich was schämen, sie dekadenter Schnösel!«
Ich springe aus dem Bus und spaziere durch den Park. Unter Bäumen fühle ich mich wohl. Vor der Flussbrücke schlendere ich an meinem Spitzahorn vorbei. Die unscheinbare Mulde an der Wurzel, die mehrere Zentimeter unter den Baum reicht und vermutlich mal ein Kaninchenloch war, habe ich sorgsam mit Blättern und Laubholz bedeckt. Ich lasse meine To-do-Liste Revue passieren:
Karten einsammeln
Fotos und Poster loswerden
Konto leerräumen
Geld aus Versteck holen
nach Hawaii absetzen
Es ist nun möglich, den vierten To-do-Punkt dem dritten vorzuziehen. Ich könnte die Fotos und das Poster gegen das Lösegeld eintauschen und zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Doch zum Verrotten im Park sind Birte Lötschers Sexbilder wahrscheinlich zu resistent. Da ich ohnehin zur Bank muss, entscheide ich mich für den charakterstärksten Zug. , beschließe ich und überquere die Flussbrücke. Nach 200 Metern biege ich auf den Rummelplatz ab. Zielstrebig passiere ich die Empfangshalle der Erfolgsbank und fühle mich zu Hohem berufen, für Vieles bereit und zu Allem befugt. Unter dem Torbogen fällt mir ein, dass Ezra vor meinem ersten Kuriergang behauptet hat, die Lötscher sei ab 12:00 Uhr nicht mehr im Haus. Gleichzeitig kann ich natürlich nicht ausschließen, dass diese Information lediglich dazu gedacht war, mich unter Zeitdruck zu setzen, denn eben hat es auf einmal gar keine Rolle mehr gespielt, wie spät ich bei der Bank bin.
Ein Caller, der seine Identität verliert und unter Zeitdruck steht, ist vermutlich der ultimative Wunschkomplize für Verbrechen aller Art. Mit einem Caller Off Duty sieht die Sache etwas anders aus …
In der Tat ließ ich mich von Ezra wie eine Schachfigur vom Call-Center zur Erfolgsbank schieben, als Bauernopfer, doch ich gefiel mir in der Rolle des Läufers. Weil mich der neue Job einfach konsumiert hat. Der Ledersessel in meiner Kabine war ja auch ein Fest für meinen Rücken. Ich genoss Handlungsspielraum, Beinfreiheit und geheucheltes Firmenvertrauen, während mich die Geheimlogenruhe von C4 für Befehle sensibel machte, die nur geflüstert wurden … Ich bin kein poetischer Mensch, aber mein Gefühl an diese Zeit ist poetisch, was zu einem Zwiespalt mit recht apoetischen Gedanken führt: Inzwischen muss ich nämlich erkennen, dass sich die Existenz von Call-Centern erübrigt. Sowohl für mich als auch für den Rest unserer identitätslosen Gesellschaft. Gleiches gilt für die Existenz der Erfolgsbank, die eine Studie finanziert, bei der das Nutzerverhalten vor Bankautomaten unter 10- bis 30-Jährigen erfasst werden soll, um eine »bessere« Zukunft für kommende Generationen im Sinne der Bankautomatenbedienfreundlichkeit zu schaffen. , denke ich.
»Wie kann ich helfen?«, werde ich von einer bulligen Empfangsdame mit Nasenring angesprochen. »Sie wirken etwas verloren.«
»Das liegt an meiner Identität. Lassen Sie sich nicht davon täuschen. Ich weiß genau, wohin ich will.«
»Okay. Und wo genau wäre das, wenn ich fragen darf?«
Sie trägt eine weiße Weste, was ironisch ist. Bei der Erfolgsbank gibt es nur braun-weiß quer-gestreifte.
»Bei Frau Lötscher«, antworte ich. »Abteilung Marketing und Management. Ist die noch im Haus?«
Sie runzelt die Stirn, etwas Make-up bröselt ab. »Waren Sie heute Mittag nicht schon einmal bei uns?«
»Nein«, lüge ich. »Wollten Sie mir nun helfen?«
»Ja«, antwortet die Empfangsdame und lügt wahrscheinlich auch. Das Stirnrunzeln verschwindet, und jetzt grinst sie so breit, dass sich der Lippenstift an ihren riesigen Ohrläppchen abtragen könnte. »Bitte folgen Sie mir.«
Ich persönlich finde es ansprechender, wenn sich Frauen dezent schminken. Die Empfangsdame hat übertrieben und ist in sexueller Hinsicht für mich gestorben. Sollte ich später noch jemanden mit Nasenring abschleppen, dann die bestimmt nicht.
Wir benutzen die große Stahltreppe, die am gegenüberliegenden Ende der Empfangshalle beginnt und uns ins obere Stockwerk führt, wo sich ein Büro an das nächste reiht. War mir vorhin gar nicht aufgefallen. Ich hatte wohl nur Augen für die hochhackigen Schuhe der Lötscher. Die Empfangsdame trägt klobige Dominastiefel in schwarz. , finde ich.
Wir bleiben vor Birte Lötschers Büro stehen, wo ich von der Ohrläppchen-Domina nach dem Namen gefragt und gebeten werde, »ein Sekündchen Geduld« zu haben. Sie verschwindet im Büro, ich nehme die Einrichtung dieses Geldvernichtungsinstituts unter die Lupe: Das Gebäude selbst ist ein Kotzbrocken architektonischen Prunks, und – zugegeben – die riesigen Kronleuchter machen einiges her. Durch viel zu viel Glas bestrahlt die Spätmittagssonne den pompösen Flurbereich, der mit frisch gesaugtem Teppich ausgelegt ist. Braun-weiße Querstreifen selbstverständlich, und alle sechs Meter das Logo der Erfolgsbank in Übergröße: ein goldener Lorbeerkranz, der ein Euro-Zeichen umrahmt.
Die Bürotür öffnet sich: »Frau Lötscher wird Sie jetzt empfangen.«
»Sie sind doch die Empfangsdame«, entgegne ich lachend. Als Caller habe ich ein antrainiertes Gespür für Sprachspiele, in denen es um Begriffe aus der Telefonbranche geht.
»Empfangsdame?«, wiederholt sie pikiert und stiefelt sich vor mir auf. »Was sind Sie denn für ein Chauvinist?« Make-up bröselt von der Nasenspitze, der Nasenring wackelt. »Ich bin Front Officer! Wir leben doch nicht in den Vierzigern.« Erhobenen Hauptes stolziert davon, kaum Arsch in der Hose aber wenigstens braun-weiße Querstreifen drauf.
Ich schließe die Tür hinter mir. »Ein Glück, dass Sie noch im Haus sind«,...




