Hoeg Der Susan-Effekt
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-446-25002-4
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-446-25002-4
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Peter Høeg, 1957 in Kopenhagen geboren, ist mit dem Roman Fräulein Smillas Gespür für Schnee (Hanser 1994) zum internationalen Bestsellerautor geworden. Bei Hanser liegen außerdem vor: Vorstellung vom zwanzigsten Jahrhundert (Roman, 1992), Der Plan von der Abschaffung des Dunkels (Roman, 1995), Die Liebe und ihre Bedingungen in der Nacht des 19. März 1929 (Erzählungen, 1996), Die Frau und der Affe (Roman, 1997), Das stille Mädchen (Roman, 2007), Die Kinder der Elefantenhüter (Roman, 2010), Der Susan-Effekt (Roman, 2015) und Durch deine Augen (Roman, 2019). Peter Høeg lebt in der Nähe von Kopenhagen.
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Wer sich für den Ehrenwohnsitz der Carlsberg-Stiftung in Valby interessiert, 850 Quadratmeter, voll unterkellert, mit Park, mietfrei und auf Lebenszeit, tut gut daran, sich beizeiten den Nobelpreis für Physik zu besorgen. Das hat Andrea Fink schon in jungen Jahren getan, weshalb sie das Haus irgendwann in den Sechzigern als Nachfolgerin von Niels Bohr übernehmen konnte und seit fünfzig Jahren bewohnt.
Jetzt bereitet sie sich darauf vor, es zu verlassen. Sie liegt im Sterben.
Die meisten nähern sich dem Tod widerstrebend, ich zum Beispiel werde ihn schreiend erwarten und dabei mit den Armen fuchteln. Andrea Fink schwebt ihm entgegen wie eine Operndiva bei ihrem Abschiedskonzert.
Es wird eine Wohltätigkeitsveranstaltung, sie hat alles verschenkt. Der Saal, den ich betrete, ist vollkommen nackt, mit Ausnahme ihres Krankenbetts. An den Wänden sind nur noch cremefarbene Felder übrig, wo die Gemälde hingen.
Nicht mal ein Stuhl ist noch da. Ich gehe zum Bett und stütze mich auf meine Krücke.
Ihr Gesichtsfeld ist eingeschränkt, erst als ich vor ihr stehe, sieht sie mich.
»Susan«, sagt sie. »Was würdest du tun, um deine Kinder wiederzubekommen?«
»Alles.«
»Dazu wirst du Gelegenheit bekommen.«
Sie öffnet die durchsichtige Hand, die auf der Decke ruht, ich lege meine Hand in ihre. Sie wollte denjenigen, mit dem sie sprach, immer berühren.
»Du bist dünn.«
Ich spüre ihr Mitgefühl rein physisch. Bohr hat über sie gesagt, sie sei die einzige Berühmtheit, die er kenne, die durch ihre Berühmtheit nicht korrumpiert wurde.
»Ruhr. Aber ich werde behandelt.«
Irgendetwas drückt mir von hinten gegen die Beine, ein Stuhl wurde doch noch aus dem Nichts herbeigezaubert. Der Zauberkünstler bewegt sich im Halbkreis um mich herum und geht hinter dem Bett in Deckung.
Ein kleiner eleganter Mann mit starkem Glauben.
Er glaubt fest daran, den besten Schneider und den mächtigsten Staatsapparat zu haben. Sein Name ist Thorkild Hegn, angeblich ist er Staatssekretär im Justizministerium gewesen. Es ist das zweite Mal, dass wir uns begegnen.
Das erste Mal ist zwei Wochen zuvor, im Tula-Gefängnis in Manipur an der Grenze zu Burma, im Besuchszimmer, wie sie es nennen, einem fensterlosen Grabgewölbe aus Beton.
Das Erste, was mir auffällt, als sie mich ihm gegenüber plazieren, ist: Hier haben wir einen Mann, der den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik außer Kraft gesetzt hat. In einer Stadt und einem Raum, wo alles und alle schwitzen, auch der Beton, wirkt er kühl und aufgeräumt in Jacke, Schlips und weißem Kragen.
»Ich komme von der dänischen Botschaft.«
Natürlich kommt er nicht von der Botschaft. Sein Teint ist weiß und zart, er kommt direkt aus Dänemark.
»Wo sind meine Kinder?«
»Ihr Sohn befindet sich in Almoeda in Haft, einer kleinen Grenzstadt zu Nepal. Wegen versuchten Antiquitätenschmuggels. Ihre Tochter ist offenbar mit einem Priester des Kalitempels in Kalkutta durchgebrannt.«
Wir sehen uns an. Die Zwillinge sind sechzehn Jahre alt.
»Ihr Mann …«
»Von dem will ich nichts hören.«
Er legt irgendetwas auf den Tisch. Ich habe Sehstörungen, deshalb kann ich zunächst nicht erkennen, was es ist. Allmählich kommt es, es ist das Time Magazine.
Auf dem Titel sind vier Menschen abgebildet. Ein Mann sitzt an einem Konzertflügel, an den sich zwei Kinder mit je einer Geige lehnen. Neben dem Mann steht eine Frau, die ihre Hand auf seine Schulter legt; rücksichtslose Menschen haben sie dazu überredet, sich mit Talar und Doktorhut auszustaffieren.
Die Kinder sind blond gelockt und blauäugig und sehen aus, als gewännen sie alle Herzen im Handumdrehen und würden im nächsten Augenblick ein Aufenthaltsstipendium für die exquisitesten Konservatorien des Auslands erhalten. Der Mann hat seelenvolle und melancholische Augen, und sein feines Lächeln verrät, dass es jedenfalls kein mangelndes Selbstwertgefühl ist, das seine Seele belastet.
Unter dem Bild steht »The Great Danish Family«.
Die Kinder mit der Geige sind meine. Die Frau mit dem Doktorhut bin ich. Der Mann am Klavier ist Laban Svendsen, mein Gatte. Es ist meine eigene Familie, die ich im Blick zu behalten versuche.
»Ihr Mann ist nach Goa gefahren. Mit einer Maharadschatochter. Siebzehn Jahre alt. Mit der versammelten südindischen Mafia auf den Fersen. Und wie ist es hier? Komfortabel?«
»Tadellos. Wir sind dreißig Frauen auf fünfzehn Quadratmetern. Türkisches Klo in der Ecke. Eine Tonne Regenwasser und eine Schale Reis pro Tag für alle. Jede Nacht Schlägereien mit Rasierklingeneinsatz. Drei Wochen, ohne einen Anwalt gesehen zu haben. Letzte Woche hab ich Blut gepisst.«
»Wir können Ihnen Arzneimittel besorgen. Das Mädchen in Gewahrsam nehmen. Wir arbeiten an der Freilassung des Jungen. Vielleicht finden wir Ihren Mann, bevor die Mafia ihn findet. Wir hoffen, Sie alle in einer Woche in Dänemark begrüßen zu dürfen.«
Er will wedische Wunder vollbringen. Das herrschende Chaos der indischen Rechtsprechung überwinden. Auslieferungsvereinbarungen umgehen, einen Menschen ausfindig machen, der im indischen Weltmeer verschwunden ist. Und trotzdem fällt einem nur eine Frage ein: Nicht ob er es schafft, sondern warum er es tut.
Der zunehmend kleiner werdende Teil der dänischen Bevölkerung, der noch nie gesessen hat, hält Gefängnisse für stille Orte, niedergedrückt von Reue und Selbstprüfung. Das ist ein Irrtum. In Gefängnissen herrscht ein Lärm wie in Raubtierkäfigen zur Fütterungszeit. Aber im Besuchszimmer sind die Wände massiv, sie halten die Hochfrequenzschwingungen auf. Hier drinnen ist der Krach eher eine Vibration als ein Geräusch.
In dieser relativen Stille hätte er aufstehen und gehen können. Das tut er nicht. Irgendetwas hält ihn fest, er weiß nicht was.
»Sie sind wegen versuchten Totschlags mit bloßen Händen angeklagt. Nach dem Polizeibericht zu urteilen muss Ihr Opfer ein Mann von einem Meter neunzig und athletischer Statur wie ein griechischer Held gewesen sein. Wie hängt das zusammen?«
Seine Verwunderung ist ganz normal. Ich bin ja selbst verwundert. Wenn ich je wiedergewinnen sollte, was mich die letzten Monate gekostet haben, kann ich mich glücklich schätzen, wenigstens wieder die Fünfundfünfzig-Kilo-Marke erreicht zu haben.
Die Veränderung besteht darin, dass er seine Neugier nicht verbergen kann.
»Das Kasino hat der Polizei erzählt, Sie wollten Jetons kaufen und hätten ihnen dafür seine Organe versprochen.«
»Das war ein Scherz.«
»Das Kasino hat es nicht so verstanden. Der Mann auch nicht.«
In dem Moment dämmert es ihm, dass er die Kontrolle verliert. Seine Fassade beginnt zu bröckeln. Einen kurzen Augenblick huscht der Schock, eine unbekannte Schwäche bei sich selbst entdeckt zu haben, über sein Gesicht. Dann steht er auf.
Hier und jetzt, vierzehn Tage später in Carlsbergs Ehrenwohnsitz, ist der Schock immer noch nicht ganz verschwunden. Aber dieser Mann begeht nicht zweimal denselben Fehler. Deshalb sorgt er dafür, dass das Krankenbett zwischen uns steht.
Er hält eine Aktenmappe in der Hand. Und dieselbe Nummer des Time Magazine wie vor zwei Wochen im Gefängnis.
Das Kopfende von Andrea Finks Bett steht vor einer Wand aus Glas. Draußen ducken sich aus fremden Erdteilen eingeführte Bäume und Büsche unter zehn Zentimetern schmuddeligem Tauschnee und wundern sich mit uns, was man in Dänemark in dieser Jahreszeit eigentlich zu suchen hat. Aus dem Park erklingen Kinderstimmen. Ihr Gesicht hellt sich auf. Vielleicht sind es die Enkelkinder, vielleicht hat sie die Familie zusammengerufen, so kurz vor der Ziellinie.
In diesem Augenblick spüre ich, dass die Zwillinge in der Nähe sind.
Es ist eine irrationale Wahrnehmung, keine Reaktion auf einen physisch messbaren Reiz. Ich komme hoch und humple auf eine Doppeltür zu und schiebe sie auf.
Thit und Harald, die Zwillinge, das ist das Erste, was ich wahrnehme. Aber nicht das Erste, auf das ich den Blick richte. Als Erstes sehe ich den Mann am Flügel an, Laban Svendsen, meinen Mann, den Vater der Kinder.
Zur Bedeutung seines Vornamens sind im Laufe der Zeit viele Meinungen kundgetan worden. Ich kenne die autoritative Erklärung. Seine Mutter erzählte mir einmal, sie habe ihn so getauft, weil er schon von Geburt an eine so starke Ähnlichkeit mit einem Barockengel hatte, dass ihr Mutterinstinkt es für notwendig erachtete, ihm so früh wie möglich ein hübsches Knüppelchen zwischen die Beine zu werfen.
Er ähnelt noch immer einem Engel. Aber mittlerweile ist er fünfundvierzig. Und hatte die indische Mafia auf den Fersen.
Zu meiner Zufriedenheit stelle ich fest: Das hat ihn gezeichnet. Und zu meinem Bedauern bemerke ich, dass es ihn nicht tiefer gezeichnet hat.
Dass ich ihn zuerst ansehe, ist einer fest verankerten Vereinbarung zu verdanken. Schon vor der Geburt der Zwillinge wussten er und ich, dass wir Gefahr liefen, in unserer Beziehung zu den Kindern zu ertrinken. Deshalb verständigten wir uns auf einige Spielregeln. Die auch jetzt noch gelten, wo die Familie in Auflösung begriffen ist. Die erste dieser Regeln lautet: Wenn wir uns treffen und die Kinder sind zugegen, bestätigen wir, die Erwachsenen, zunächst einmal unsere eigene Existenz.
In grauer Vorzeit geschah das mit Küssen und Umarmungen. Nun sind es nachdenkliche Blicke, die lebenslangen Groll und Sanktionen...