E-Book, Deutsch, 279 Seiten
Hohlfeld Tage der Kirschblüte - oder: Ein Weg zurück
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-96655-907-2
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman über ein deutsches Dorf und ein Familiengeheimnis aus der DDR
E-Book, Deutsch, 279 Seiten
            ISBN: 978-3-96655-907-2 
            Verlag: dotbooks
            
 Format: EPUB
    Kopierschutz: 0 - No protection
Kerstin Hohlfeld wurde in Magdeburg geboren, studierte Theologie in Naumburg und Berlin und verließ die Hauptstadt kurz vor dem Mauerfall, um später zurückzukehren und in verschiedenen Berufen, u.a. als Autorin, zu arbeiten. Sie ist Mutter von drei erwachsenen Kindern. Bei dotbooks veröffentliche Kerstin Hohlfeld ihre Romane »Tage der Kirschblüte«, »Der Duft von Muskat und weißem Jasmin«, »Die Apfelkuchen-Freundinnen« und »Der Duft von Winterschokolade«.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Biebersleben, Juni 1980
Noch zehn Minuten! Kathrin hatte während der Schulstunde wohl an die fünfzig Mal auf ihre zerkratzte Armbanduhr gesehen. Aufgeregt zappelte sie mit ihren Beinen unter der Schulbank herum. Gleich kam der große Moment. Alle Kinder mussten aufstehen, und Frau Berger würde das Geburtstagslied anstimmen. Die Kinder würden singen, klatschen und das Geburtstagskind hochleben lassen. Kathrin liebte Geburtstage. Einmal im Jahr war man der Mittelpunkt der Klasse.
Und heute war es so weit. Sie wurde zehn!
In ihrem Schulranzen steckte eine Überraschung – eine braune Papiertüte mit neunundzwanzig genau abgezählten Pfeiflutschern. Einen für jedes Kind in der Klasse.
Pfeiflutscher waren einfach herrlich. Man konnte wunderbar Krach mit ihnen machen. Alle Kinder liebten die klebrige Süßigkeit. Deshalb war sie im Konsum manchmal ausverkauft und wochenlang nicht zu haben. Was Kathrins Überraschung nur perfekter machte.
Eisern hatte sie gespart, denn so viele Lutscher waren ziemlich teuer. Ihre Eltern konnten ihr kein Geld geben. Das Wenige, das sie hatten, brauchten sie selbst. Also hatte Kathrin einen kleinen Handwagen aus dem Schuppen gezerrt und war zu den Nachbarn klingeln gegangen. Für ein Kilo alte Zeitungen gab es in der Altstoffsammlung 25 Pfennige und für eine Weinflasche 5 Pfennige. Manche Nachbarn hatten sie böse angeschaut und gesagt, dass sie ihr Papier gerade selbst weggebracht hätten, aber einige gaben ihr etwas. Mal ein paar Blätter Papier, mal ein leeres Gurkenglas. So war Pfennig für Pfennig zusammengekommen.
Endlich war es so weit. Kathrin durfte aufstehen und zu Frau Berger nach vorn kommen. Beim Gehen zog sie ihr Kleid ein bisschen nach unten, damit niemand das große Loch in der Strumpfhose sah. Ihre Mutter hatte noch nicht geschafft, es zu stopfen und Kathrin konnte es nicht. In den Handarbeitsstunden in der Schule lernten sie gerade erst Knöpfe annähen.
Frau Berger gratulierte der aufgeregten Kathrin zu ihrem Ehrentag und stimmte endlich das Geburtstagslied an.
»Weil heute dein Geburtstag ist,
 da haben wir gedacht,
 wir singen dir ein kleines Lied,
 weil dir das Freude macht.«
Die Klasse klang ein bisschen dünn heute. Michael in der ersten Reihe sah so aus, als bewegte er nur die Lippen und Matthias in der zweiten auch.
Aber das war Kathrin egal. Sie hatte sowieso keine Jungen zu ihrer Feier eingeladen. Es sollten selbstverständlich nur Mädchen kommen. Saskia und Carmen, Annegret und Mandy.
»Und wenn du einen Kuchen hast,
 so groß wie’n Mühlenstein
 und Schokolade auch dazu,
 dann lad uns alle ein.«
Ihre Mutter würde einen Kuchen backen. Das hatte sie versprochen. Anschließend könnte sie mit den Freundinnen zum Spielen in den Garten gehen. Im Haus sah es nicht schön aus, weil Mutter das Aufräumen nicht schaffte und zu wenig Zeit zum Saubermachen hatte. Aber im Garten, da blühten gerade die Sommerblumen, und sie konnten Kirschen von Frau Lehnbergs Baum stibitzen.
Vor lauter Vorfreude auf ihre Feier hopste Kathrin fröhlich auf und ab, obwohl Frau Berger missbilligend die Stirn runzelte.
Mit dem letzten Takt des Liedes klingelte es, und Kathrin stürmte zu ihrem Platz. Sie riss die braune Tüte aus der Schulmappe, stellte sich an die Tür und hielt den Klassenkameraden, die eilig ins Freie drängten, strahlend ihre große Überraschung entgegen.
Dann geschah das Unfassbare.
Entsetzt sah Kathrin, wie ein Kind nach dem anderen an ihr vorbeilief, ohne in die Tüte hineinzugreifen. Sie sahen nicht einmal zu ihr hin. Niemand wollte einen ihrer mühsam zusammengesparten Pfeiflutscher haben.
Frau Berger registrierte Kathrins bestürztes Gesicht und sprang ihr bei. »Schaut mal, die Kathrin hat Süßigkeiten für euch mitgebracht.«
Aber es nützte nichts. Gerade gingen Saskia und Annegret vorbei, ohne Kathrin auch nur eines Blickes zu würdigen. Dann kam Mandy, blickte in die Tüte und wedelte kurz mit der Hand vor ihrer Nase, als müsste sie einen üblen Geruch verscheuchen.
Nur der dicke Jens griff zu. Dem war alles egal. Hauptsache, es gab Süßigkeiten. Nicole, die Streberin, musste einen Lutscher nehmen. Schließlich war Frau Berger ihre Mutter.
Die Klasse war fast leer. Kathrins Tränen liefen. Die anderen waren so verdammt gemein. Sie behandelten Kathrin fast immer schlecht, aber heute war ihr Geburtstag, und sie hatte allen etwas mitgebracht. Was stimmte denn nur nicht mit ihr?
Kathrin bemerkte, dass Frau Berger sie mitleidig musterte, und sah an sich hinab. Ihr Kleid war fleckig und zu kurz, die Strumpfhose an den Knien ausgebeult. Die Sandalen besaß sie schon zwei Jahre. Das Leder war schmutzig und Kathrins große Zehen standen vorn über. Lag es an der Kleidung?
Vielleicht hätte sie sich die Haare nicht abschneiden sollen, da, wo die Bürste beim Kämmen gar nicht mehr durchging. Jetzt hatte sie eine kahle Stelle am Hinterkopf. Annegret und Saskia hatten sie deshalb laut ausgelacht.
Alle anderen Mädchen besaßen schöne Kleider und neue Lackschuhe. Ihre Mütter kämmten ihnen die Haare und kauften hübsche bunte Gummis für ihre Zöpfe. Kathrins Mutter konnte das alles nicht machen. Sie war oft traurig und fühlte sich schlecht. Die Leute sagten: Sie trinkt zu viel und ihr Mann genauso. Die Neumanns sind Assis und stinken.
»Jetzt geh besser nach Hause, Kathrin«, sagte Frau Berger und schob das Kind sanft aus der Klasse.
»Warte«, rief plötzlich eine helle Stimme. »Ich habe noch keinen Lutscher.«
Als sich Kathrin umdrehte, stand Viola hinter ihr und lächelte aufmunternd. Die zarte Viola mit den wilden braunen Locken, die alle nur Pippi nannten und die mit ihren zehn Jahren aussah wie sieben. Sie hatte selten Zeit zum Spielen, weil sie nachmittags in der Bäckerei ihrer Eltern aushalf. Aber sie war beliebt in der Klasse, und zu ihrem Geburtstag hatten sich alle gierig auf die mitgebrachten Streuselschnecken gestürzt.
Annegret und Saskia, die noch vor der Tür standen, schauten überrascht.
»Willst du etwa was aus dem Stinkehaus nehmen, Viola?«, ätzte Annegret. »Komm, wir gehen lieber ins Eiscafé.«
Viola schüttelte energisch den Kopf. »Ich hab keine Lust auf Eis«, sagte sie und blickte Annegret gerade an. »Ich will lieber Kathrins Pfeiflutscher.« Sie hakte sich bei Kathrin unter und zog sie weg.
»Ich habe Saskia und Annegret eingeladen«, schluchzte Kathrin.
»Ich weiß«, entgegnete Viola und nickte. »Mandy und Carmen genauso. Die werden aber nicht kommen.«
»Woher willst du das wissen?«, fragte Kathrin trotzig und wischte sich mit dem Ärmel die Nase.
»Alle wissen es«, antwortete Viola schlicht. »Die wollen nichts mit dir zu tun haben. Oder warst du letzte Woche zu Saskias Feier eingeladen?«
Viola sagte die Wahrheit. Und das tat weh. Fast alle Mädchen waren letzte Woche bei Saskia, dem beliebtesten Mädchen der Klasse, eingeladen gewesen, nur sie selbst und Jana nicht. Die konnte ebenfalls keiner leiden.
Am nächsten Tag hatten alle begeistert von der Feier erzählt. Sie hatten Himbeer-Biskuittorte mit Schlagsahne gegessen und später zusammen Topfschlagen und Sackhüpfen gespielt. Am Abend waren sie mit leuchtenden Lampions durch das Dorf gelaufen.
Seitdem hatte Kathrin von ihrer Feier geträumt. Die sollte genauso schön werden wie Saskias. Und jetzt?
»Soll ich zu dir kommen?«, fragte Viola, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. »Ich bringe gefüllte Streuselschnecken mit.«
»Ehrlich?« Kathrin konnte es kaum glauben. Gefüllte Streusel waren der absolute Renner in Königs Bäckerei. Die waren immer ganz schnell ausverkauft. Es war ewig her, dass Kathrin Kuchen gegessen hatte. Ihre Eltern hatten kein Geld dafür.
»Also abgemacht?«, hakte Viola noch einmal nach. »Am besten bringe ich noch Jana mit.«
»Jana?« Kathrin hielt die Luft an. Was hatte sich Viola denn da ausgedacht? Jana, die Witzfigur.
»Gudn Dach. Ich bin die Joona aus Dräsdn.«
Wenn sie den Mund aufmachte, lag die halbe Klasse am Boden vor Lachen. Kathrin dachte kurz nach. Jana hatte kaum noch gesprochen in letzter Zeit. Sie war sehr still geworden in den drei Monaten, nachdem sie von Sachsen nach Biebersleben gezogen und in ihre Klasse gekommen war. Freunde hatte sie keine. Seitdem sie nicht mehr sprach, hatten die Kinder vergessen, dass es Jana gab. Alle, außer Viola.
Kathrin zuckte die Schultern. Sollte Jana ruhig mitkommen.
»Einverstanden«, gab sie sich geschlagen. »Bis heute Nachmittag!«
Nachdem sich Viola im Sauseschritt auf den Weg nach Hause begeben hatte, trödelte Kathrin noch ein Weilchen herum. Ihr Schulweg war weit und so konnte der leichte Sommerwind ihre Tränen endgültig trocknen. Sie würde eine Geburtstagsfeier haben, zwar nicht mit den Mädchen, die sie sich gewünscht hatte, aber sie würde Besuch bekommen und vielleicht sogar Geschenke.
Als sie an den dichten Holunderbüschen am Ortsrand vorbeilief, raschelte es. Hinter ihr sprang jemand aus dem Gestrüpp.
Kathrin quiekte. »Mensch Hase! Du hast mich erschreckt.«
Ein hoch aufgeschossener, dünner Elfjähriger trat neben sie und grinste sie leicht verlegen an. Kathrin hätte auf ihn gefasst sein müssen, denn er wartete fast immer an dieser Stelle auf sie. Manchmal saß er auf einer kleinen morschen Bank. Meist jedoch hielt er sich im Gebüsch versteckt, falls irgendeiner der Dorfjungs hier vorbeikam. Aber das geschah selten. In der kleinen Siedlung außerhalb des Dorfes wohnten nicht viele Leute.
»Ich hab was für dich«, sagte Hase, der eigentlich Benjamin hieß, aber von niemandem so genannt wurde. Seine Aussprache klang schleppend, so als wäre ihm seine eigene Zunge zu schwer....




