E-Book, Deutsch, 333 Seiten
Holm-Hadulla Leidenschaft: Goethes Weg zur Kreativität
3., vollständig überarbeitete und ergänzte Auflage 2019
ISBN: 978-3-647-99907-4
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Eine Psychobiographie
E-Book, Deutsch, 333 Seiten
ISBN: 978-3-647-99907-4
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Prof. Dr. Rainer M. Holm-Hadulla lehrt an der Universität Heidelberg und hat sich auch international als Kreativitätsforscher einen Namen gemacht. Gastprofessuren führten ihn nach Südamerika und China. 2009 wurde er an das Internationale Kolleg »Morphomata« der Universität zu Köln berufen und 2010 an das Marsilius Kolleg der Universität Heidelberg. Er ist als Berater, Coach und Psychotherapeut von Studierenden, Wissenschaftlern, Künstlern, Unternehmern und Politikern sowie als Lehranalytiker tätig.
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Goethes Weg zum schöpferischen Leben
»Alles gaben Götter, die unendlichen,
Ihren Lieblingen ganz,
Alle Freuden, die unendlichen,
Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.«
(HA 1, S. 142)
Goethes Weg zum schöpferischen Leben war steinig und von vielfältigen Krisen erschüttert. Schon seine Geburt war dermaßen kompliziert, dass man glaubte, das Kind sei tot. Noch im hohen Alter von 74 Jahren verliebte sich Goethe so unglücklich, dass er mit ähnlichen Suizidgedanken spielte wie als 20-Jähriger. In seiner langen Lebenszeit war er oft bitteren Enttäuschungen ausgesetzt und heftigen Stimmungsschwankungen unterworfen. Goethe war nicht nur ein begabtes Kind, ein vielgeliebter Dichter und ein einflussreicher Politiker, sondern hat während seines gesamten Lebens gesucht, geirrt und gelitten. Dabei verfügte er über eine besondere Fähigkeit, seelische Leiden auszuhalten und zu kreativer Entwicklung zu nutzen. Seine Art und Weise, aus seinen Leidenschaften schöpferische Impulse zu gewinnen, ist auch für den modernen Leser höchst inspirierend. Menschen des 21. Jahrhunderts können in Goethes Leben und Werk wichtige Anhaltspunkte für ihre eigene kreative Entwicklung und Lebenskunst finden.
Die psychologische Beschäftigung mit Goethes Leben und Werk ist deswegen so lehrreich, weil er seine persönliche Entwicklung und seine Krisen in einzigartiger Weise beschreiben konnte. Zudem entwickelte er wirksame Bewältigungsstrategien von allgemeinen psychischen Konflikten, weswegen die Beschäftigung mit Goethes Leidenschaften für jeden Leser von lebenspraktischer Bedeutung ist.
Goethes Werke beschreiben eine Vielzahl von persönlichen und sozialen Erfahrungen und in seinen Briefen, Tagebüchern und Gesprächen finden sich Zeugnisse einer lebenslangen Selbstreflexion. Diese beständige Beschäftigung mit sich selbst, die manchem unsympathisch erscheint, hat für den heutigen Leser einen großen Vorzug: Wir wissen von der frühesten Kindheit bis zu seinem letzten Atemzug fast alles aus seinem Leben. Die Selbstzeugnisse sind zudem so differenziert, wie dies heute kaum noch erreichbar scheint: Zur alltäglichen Verständigung genügen heute ungefähr 500 Wörter, während in anspruchsvolleren Medien etwa 5000 Wörter verwendet werden. Goethe benutzte demgegenüber 80.000 bis 90.000 Wörter zur Beschreibung seiner Erfahrungen.
Darüber hinaus haben auch seine Mitmenschen – angefangen bei Mutter, Vater und Schwester bis zu Geliebten, Freunden und Kollegen – detailliert über Goethes Entwicklung berichtet. Dies konnte geschehen, weil er in einer Zeit und Gesellschaft lebte, in der die Aufzeichnung von Empfindungen, Ideen und inneren Erlebnissen geübt wurde wie niemals vorher und niemals nachher.
Die eindrücklichsten Zeugnisse seiner persönlichen Entwicklung sind aber seine Werke. In ihnen hat Goethe immer auch von sich selbst gesprochen und seine Hoffnungen und Sehnsüchte, Enttäuschungen und Kränkungen beschrieben. Dabei entdeckte er menschliche Wahrheiten, die sowohl dem alltäglichen Verstehen als auch dem wissenschaftlichen Denken auf anderen Wegen nicht zugänglich sind. Weil er zwar immer auch von sich selbst, aber niemals nur von sich selbst gesprochen hat, sind seine Werke bedeutsam und allgemeingültig.
Goethes Fähigkeit, trotz schwerwiegender emotionaler Turbulenzen lebenszugewandt und kreativ zu bleiben, ist psychologisch besonders interessant. Seine häufig selbstquälerische Beschäftigung mit Erinnerungen und Phantasien hat ihn stabilisiert und das kreative Schreiben wurde sein wichtigstes therapeutisches Prinzip. Auf seine erste Liebesenttäuschung und die Verwirrungen zu Beginn seines Studiums zurückblickend, spricht Goethe in seiner Autobiographie »Dichtung und Wahrheit« von dem »chaotischen Zustande […], in welchem sich mein armes Gehirn befand« (HA 9, S. 282). Er greift in seinen »eigenen Busen« und verarbeitet seine verwirrenden Erfahrungen: »So begann diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Leben über nicht abweichen konnte, nämlich dasjenige, was mich erfreute oder quälte, oder sonst beschäftigte in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und darüber mit mir selbst abzuschließen, um sowohl meine Begriffe von den äußeren Dingen zu berichtigen, als mich im Innern deshalb zu beruhigen. Die Gabe hierzu war wohl niemand nötiger als mir, den seine Natur immer fort aus einem Extreme in das andere warf« (HA 9, S. 283).
Das literarische Gestalten diente Goethe, seine Konflikte wahrzunehmen, auszuhalten und zu überwinden. Dabei schöpfte er immer aus seinem eigenen Erleben, was er in »Dichtung und Wahrheit« folgendermaßen beschreibt: »Alles, was daher von mir bekannt geworden, sind nur Bruchstücke einer großen Konfession, welche vollständig zu machen dieses Büchlein ein gewagter Versuch ist« (HA 9, S. 3). Während er mit seinen eigenen Leidenschaften, Ängsten und Verwirrungen beschäftigt ist, findet er allgemeingültige Strategien, um individuelle und soziale Konflikte zu lösen. Wie seine Werke lösen sich diese vom autobiographischen Hintergrund und entfalten ihre eigene Wirkung.
Bei der kreativen Bewältigung psychischer Krisen haben ihn viele Personen, Mutter, Vater und Schwester sowie eine Vielzahl von Freundinnen und Freunden, unterstützt. Schon in seiner Kindheit und Jugend ist sein starkes Bedürfnis, gesehen, beantwortet und bestätigt zu werden, aufgefallen und er fand sich in der glücklichen Lage, dass diesem Bedürfnis auch entsprochen wurde. Später gelang es ihm, seine Suche nach sich selbst in verwickelten Liebesbeziehungen zu inszenieren und daraus schöpferische Impulse zu gewinnen. Deswegen sind auch die psychobiographischen Kapitel dieses Buchs mit den Namen bedeutsamer Frauengestalten verbunden. Dass Goethe bei seiner Selbstfindung in Liebesbeziehungen auch rücksichtslos sein konnte, blieb ihm selbst, wie die entsprechenden Kapitel zeigen werden, nicht verborgen.
Die Psychologie hat zwar seit der Zeit Goethes große Fortschritte gemacht und die Neurobiologie gewährt uns vielfältige Einsichten in die Funktionsweise unseres Gehirns. Mit bildgebenden Verfahren und neurochemischen Methoden kann man heute darstellen, welche biologischen Prozesse das menschliche Verhalten, seine Empfindungen und Gedanken begleiten. Dennoch sind auch führende Neurowissenschaftler der Auffassung, dass man komplexe psychische Erlebensweisen nur mit ihnen entsprechenden sprachlichen Methoden erfassen kann (Andreasen, 2005). Warum eine Mozartsonate bei einem Menschen die Erinnerung an das Lächeln der Geliebten und bei dem anderen die Langeweile eines Sonntagnachmittags hervorruft, kann man nur durch Sprache und nicht durch Untersuchungen des Gehirns erfahren.
Daraus folgt, dass es auch heute noch von großem Wert ist, sich in Erzähltes und Gedichtetes zu vertiefen und es psychologisch zu verstehen. Dabei greife ich, wie jeder Leser, jede Leserin, auf ein Vorverständnis zurück, das von meiner eigenen Lebenserfahrung geprägt ist. Einer der größten Denker des 20. Jahrhunderts, der Philosoph Hans-Georg Gadamer, hat besonders in seinen 1960 und 1986 erschienenen Büchern überzeugend herausgearbeitet, wie wichtig es ist, dieses Vorverständnis bewusst zu nutzen, um einen Zugang zu schriftlichen Dokumenten zu finden. Gadamer hat auch darauf hingewiesen, dass Verstehen eine natürliche Fähigkeit des Menschen ist, die allerdings beständiger Übung bedarf. Wir erfahren uns und die uns umgebende Welt im Akt des Verstehens. Nur durch das Verstehen finden wir einen Halt in einer chaotischen Welt von Eindrücken und Erlebnissen. Aus der verständnisvollen Begegnung mit der natürlichen und kulturellen Umwelt entsteht etwas Neues, das den Horizont erweitert und Orientierung verleiht. Verstehen ist dabei mehr als die rein gedankliche Strukturierung von Erfahrungen. Es ist eine umfassende Bewegung, die sinnliche und praktische Erlebnisse umgreift und in der wir erst zu dem werden, was wir wirklich sind oder sein können. Auf eine solche Reise möchte ich die Leserinnen und Leser mitnehmen.
Im ersten Teil des Buchs werden allgemein bedeutsame Einsichten aus Goethes Leben und Werk entwickelt. Dabei liegt das Augenmerk auf seinem leidenschaftlichem Streben nach einem schöpferischen Leben. Wenn Goethes Weg unter psychologischen Gesichtspunkten betrachtet wird, so geht es nicht nicht um eine detektivische Suche nach Problemen und Störungen, sondern um die Erforschung der Umstände, die zu einem produktiven und kreativen Leben führen.
Der zweite Teil des Buchs beginnt mit der Darstellung von Goethes Auffassung des Lebens als schöpferische Selbstverwirklichung. Danach werden sein Leben und Werk unter den Gesichtspunkten der modernen Kreativitätsforschung betrachtet. Im Anschluss an die Beschreibung von Goethes Lebenskunst wird die Frage geklärt, ob Goethe – wie immer wieder behauptet wird – psychisch krank oder gestört gewesen ist.
Der dritte Teil verdichtet die gewonnenen Erkenntnisse durch lebenspraktische Interpretationen von Goethes Gedicht »Vermächtnis«, seinen letzten Briefen und von »Faust II«. Auch hier wird uns sein leidenschaftliches Ringen mit den Freuden und Leiden des Lebens beispielhaft sein. Und...