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E-Book, Deutsch, 244 Seiten

Hoyer Trost


1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7017-4613-2
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 244 Seiten

ISBN: 978-3-7017-4613-2
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eine namenlose Frau reist alleine nach Lissabon, Berlin und Brüssel. In jeder Stadt beginnt sie eine Beziehung: einmal mit einem Mann, einmal mit einer Frau und zuletzt mit einem viel jüngeren Mann. Drei Begegnungen zwischen Anonymität und Begehren, drei Großstädte, drei Paare, die sich im Trubel einer atemlosen Gegenwart finden. Alle sind auf der Suche, versuchen aber zugleich im Schutz der Unverbindlichkeit zu bleiben. Immer wieder lässt die Frau sich auf Nähe ein, Intimität entsteht, ohne zu wissen, ob der Andere Gefahr oder Trost bedeutet. Immer wieder wird dem Fremden die Türe geöffnet, um nicht in der Kälte und Einsamkeit der Großstädte ersticken. 'Trost' erzählt mit großer Unmittelbarkeit von der Liebe in Zeiten der Rastlosigkeit.

Ida Hegazi Høyer, geboren 1981 auf den Lofoten im nördlichen Norwegen, stammt aus einer dänisch-ägyptischen Familie und lebt in Oslo. Ihr Debütroman 'Under verden' erschien 2012, seitdem hat sie fünf weitere Romane veröffentlicht, zuletzt 'Ene. Skissen' (2018). Für ihren dritten Roman 'Unnskyld' (2014) erhielt sie den Literaturpreis der Europäischen Union 2015, im selben Jahr zählte sie das Morgenbladet zu den zehn besten norwegischen Autoren unter 35. 'Das schwarze Paradies' (2015, dt. 2017) stand wochenlang auf allen nationalen Bestenlisten, 'Trost' (Orig. 'Historier om trøst', 2016) ist ihr zweiter Roman in deutscher Übersetzung.
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II.


Du kannst bleiben, solange du willst, sagt Kimmy. Sie gießt Wasser aus dem Topf in die Teetasse und rührt Honig hinein, während sie die Zeitung überfliegt, die vor ihr auf der Arbeitsplatte liegt. Man kann sich nur schwer eine souveränere Form von Neutralität vorstellen. Wie viel sie kostet, diese Einladung, ob sie überhaupt etwas kostet und wenn, dann wen.

Meinst du das ernst?

Sie dreht sich ohne ein Zögern in ihren Bewegungen um, mit großen, sanften Augen. Natürlich meine ich das ernst! Du kannst bleiben, solange du willst, wiederholt sie. Und für einen Fremden wäre es unmöglich zu wissen, in welch hohem Grad sie sich ähnlich sind, diese beiden – dass beide schon längst die haarfeine, bleischwere Grenze zwischen dem, was Freiheit ist, und dem, was nur frei von Bedeutung ist, ausradiert haben.

Sie ist gekommen, um zu helfen, auf ihre Weise. Um zu bezeugen. . Die Leute stehen Schlange und drängen sich. Diejenigen, die konnten und wollten – entweder aus Nächstenliebe oder um noch mehr Chaos zu verhindern –, haben sich von ihrem gewohnten Leben freigenommen, um zur Organisation beizutragen. Und hier treffen sie sich, über der endlosen Kleidersortierung, in einer freiwilligen oder auferlegten Pflicht.

Sie geht durch die Lagerhalle, nimmt sich ausreichend Zeit, um zu betrachten, beinahe zu glotzen, vielleicht ohne sich über ihre eigene Sichtbarkeit vollständig im Klaren zu sein. Notizen ohne Stift. Memorieren der Bilder. Sie geht immer weiter durch das stillgelegte Fabrikgebäude, vorbei an Massen von Leuten, Paletten und Schachteln, Türmen von Waren, während sie nach etwas sucht, das sie dazu bringen könnte, anzuhalten. Sie geht und geht, vorbei an der Suppenküche und der Kaffeebude, vorbei an den Grüppchen bei den Fahrrädern, vorbei an den Stapeln mit Puzzles und Spielen, bis sie ans andere Ende kommt, zum Bereich für Kinderbekleidung, und sie sieht.

Welche Größe brauchst du, fragt Kimmy. Die Fremde könnte eine von denen sein, denen ein Kleidungsstück oder eine ganze Garderobe fehlt, das ist nicht leicht zu sagen. Sie kann irgendjemand sein, bloß nicht der Gedanke an eine gemeinsame Zukunft. Aber dann hebt die Fremde den Kopf, dann hebt sie das Gesicht, und die beiden sehen einander an – so wie jede gewöhnliche Abfolge menschlicher Begegnungen früher oder später von etwas unterbrochen wird, was außerhalb der Konventionen steht –, sie sehen einander blinzelnd an, als würden sie einander möglicherweise von früher kennen –, Frauen aus ganz verschiedenen Teilen der Welt, aber mit demselben strahlenden Licht in den Augen. Trippelnd, blinzelnd, wartend. Schließlich fragt Kimmy weiter, hast du einen Jungen oder ein Mädchen? So sanft und umsichtig, ihre weiche Stimme. Die Fremde schafft es endlich zu antworten. Ich brauche keine Kleider. Ich bin hier, um zu helfen.

Sie weiß nicht, warum sie das sagt. Sie ist gekommen, um eine Reportage zu machen, nicht um aufzuräumen und zu sortieren. Aber etwas an Kimmy, der Blick oder die Haltung, lässt sie noch damit warten, es zu erzählen. Bringt sie dazu, in einem konkreteren Sinne beitragen zu wollen, hier zu stehen, mit ihr, auf derselben Linie mit den anderen, die helfen wollen. Vielleicht kann sie sich nicht daran erinnern, wann sie zuletzt die Möglichkeit bekommen hat, sich tatsächlich nützlich zu machen, oder wann jemand zuletzt dankbar war, ihre Hilfe entgegenzunehmen. Denn die Freude strahlt aus ihr. Beinahe herzzerreißend ist es. Als wäre die Hilfe ihr ein privates Anliegen, wegen der anderen. Wir brauchen jede Hand, die sich anbietet, sagt Kimmy. . Und sie beugen sich über das Meer von Kinderbekleidung, für das Kimmy verantwortlich ist. Alles soll nach Größe und Geschlecht sortiert werden, von Kleidung für Teenager bis hinunter zu den kleinsten Babyklamotten. Alles soll gefaltet und gestapelt und in Schachteln auf die richtige Palette gelegt werden. Kolossale Mengen von Kleidung sind gespendet worden, und es werden noch regelmäßig Ladungen entgegengenommen. Die Busse draußen erzeugen ein kontinuierliches Echo. Ein Dröhnen, das so gleichmäßig ist, dass man allmählich vergisst, dass man es hört.

Mitunter lächeln sie einander an, durch den Lärm, vorbei an den anderen Gesichtern. Ziemlich oft eigentlich, ohne dass es deshalb peinlich wird. Seite an Seite arbeiten sie. Und auch wenn die Lagerhalle zu groß ist, um warm zu werden, steht die Sonne in den Fenstern und erleuchtet den Hintergrund. Es gibt ein Land zu entdecken, in ihnen beiden. Eine Stadt, ein Haus, ein kleines Zimmer. Ein gemeinsames Zimmer. Man kann es möglicherweise spüren, auch wenn es gegen alle Wahrscheinlichkeit ist – gleich einem Herzschlag inmitten aller anderen Herzschläge, dieses: bleib – bleib, solange du willst.

Sie sind leicht, haben eine Leichtigkeit an sich. Nicht unbelastet oder schwerelos, aber sie haben die Schwere im Griff, eine Fähigkeit, die sich in ihnen beiden spiegelt und die sie intuitiv aneinander wiedererkennen. Einfachheit ist eine Möglichkeit. Alle, die mehr lächeln, als es Gründe dafür gibt, tun es, weil es die einzige Möglichkeit ist. Und sie ähneln einander, diese beiden. In ihrem Lächeln liegt die Akzeptanz. In der Akzeptanz gibt es einen Übermut. Und der ist so groß, dass man die eigene Last darüber vergessen kann.

Den ganzen Tag hindurch ist es dieses Lächeln, an das sie sich anlehnen. Sie tauschen es untereinander aus, große, verborgene Worte, wieder und wieder. Jedes Mal, wenn jemand kommt, um Kleider zu holen, verfolgt sie mit, wie Kimmy mit den Leuten spricht. Sie hört nicht zu, aber sie verfolgt es, und sie betrachtet Kimmys Lächeln, und dass es ein anderes Lächeln ist als das, das sie ihr gibt. Ganz verschiedene Arten von Fürsorge.

Lange nachdem es dunkel geworden ist und die meisten nach Hause gegangen sind, fragt die Fremde, ob sie irgendwohin ein Glas Wein trinken gehen sollen. Das fängt an, deprimierend zu werden, sagt sie, wir brauchen etwas, um ein bisschen zu entspannen. Kimmy schaut auf. Okay, sagt sie, nur noch zwei Säcke, dann hauen wir ab. Und obwohl sie sich nur über Dinge unterhalten haben, die mit der Arbeit zu tun haben, haben sie genug übereinander erfahren, um zu wissen, dass keine von ihnen jemanden hat, der auf sie wartet. Alleinsein ist etwas, das man ausatmet. Es leuchtet wie jede andere Art von Licht, dunkel, ununterbrochen. In der beruhigenden, wortkargen Stille, auf die sie sich in der U-Bahn zurückziehen, haben beide eine klare Meinung davon, was die andere denkt, und keine von ihnen macht sich Sorgen, sie könnten kein Gesprächsthema haben.

Dein Name ist sehr schwer auszusprechen, sagt Kimmy. Ich werde Zeit brauchen, um zu lernen, wie man ihn richtig sagt. Die Fremde zuckt die Achseln. Ist Kimmy dein richtiger Name? Nein, das ist nur eine Abkürzung, antwortet sie. So wird es einfacher, mit Abkürzungen.

Und sie lächeln einander wieder an, dieses ruhige, neugierige Lächeln, nehmen einander in Augenschein, sehen sich die Details an. Kimmy hat einen Jungenhaarschnitt und eine Narbe an der Stirn. Zierliche Hände, schmale Finger, kurze Nägel. Die Fremde hat langes, kraftloses, ungewaschenes Haar. Dunkle Ringe unter den Augen. Ich kenne ein nettes Lokal in der Nähe von da, wo ich wohne, sagt Kimmy, und die Fremde kennt sich nicht sonderlich gut aus in der Stadt, hat keinen anderen Vorschlag. Also wird es das. Sie steigen an der Schönhauser Allee aus, von dort die ruhigen Straßen hinunter Richtung Mauerpark. Die Fremde erzählt, dass sie vorher noch nie in dieser Gegend gewesen ist, dass sie in einem Hotel im Zentrum wohnt. Es gibt kein Zentrum in dieser Stadt, sagt Kimmy da. Entfernungen und breite Straßen, das ist alles.

Alle Tische sind besetzt, aber sie finden freie Stühle und setzen sich in die Ecke, ganz nahe an den Ofen, wo es unverhältnismäßig warm ist. Es ist so gemütlich am Feuer, sagen sie im Chor und kichern ein wenig, während sie die Jacken ausziehen. Kimmy erzählt, dass sie schon einmal in dieser Bar gewesen ist, aber dass damals kein Feuer im Ofen brannte, weil es mitten im Sommer war. Magst du Bier, fragt Kimmy. Selbst trinkt sie nur Wein, und es ist ein wenig komisch, denn sie hat ein Lokal gewählt, das auf selbst gebrautes Ale und Dunkles spezialisiert ist, aber nur roten und weißen Hauswein zur Auswahl hat. Ich finde, sie haben so lustige Bilder an den Wänden hier, sagt sie und lehnt sich zurück. Ihr Nacken ist ungewöhnlich fein. Er sieht aus, als könnte er schon unter dem Gewicht ihres Kopfes brechen. Vielleicht muss sie sich auch deshalb an etwas abstützen, muss die kleine Hand in den dünnen Mädchennacken legen – sie ist erwachsen, aber sie hat einen Mädchennacken, eine Mädchenhand –, die Bewegung könnte zarter sein, aber sie ist es nicht. Es gibt etwas Hartes, das in das Weiche einbricht. Eine jungenhafte, scharfkantige Sanftheit.

Kimmy kommt aus dem Süden, ungefähr so weit südlich, wie es möglich ist, aus einem Land, in das die Fremde schon immer reisen...


Ida Hegazi Høyer, geboren 1981 auf den Lofoten im nördlichen Norwegen, stammt aus einer dänisch-ägyptischen Familie und lebt in Oslo. Ihr Debütroman "Under verden" erschien 2012, seitdem hat sie fünf weitere Romane veröffentlicht, zuletzt "Ene. Skissen" (2018). Für ihren dritten Roman "Unnskyld" (2014) erhielt sie den Literaturpreis der Europäischen Union 2015, im selben Jahr zählte sie das Morgenbladet zu den zehn besten norwegischen Autoren unter 35. "Das schwarze Paradies" (2015, dt. 2017) stand wochenlang auf allen nationalen Bestenlisten, "Trost" (Orig. "Historier om trøst", 2016) ist ihr zweiter Roman in deutscher Übersetzung.



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