E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Humpert A Tale of Foxes and Moons
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-96981-070-5
Verlag: Moon Notes
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-96981-070-5
Verlag: Moon Notes
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Rebecca Humpert, geboren 1995, studierte Psychologie in Freiburg im Breisgau. Heute arbeitet sie an der Universität Tübingen und liebt es, mit ihren Geschichten in düstere Mythologien abzutauchen.
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 2
»Was sagst du, Yuki?«, fragte Ojichan, als wir uns dem Schreingelände näherten. Meine Katze war mittlerweile auf seine Schulter geklettert und rieb unentwegt ihr Köpfchen an seiner Wange.
Auch das hatte sie bei mir noch nie gemacht.
Verräterin.
»Ah, du möchtest wissen, worum es sich bei diesen leuchtenden Kugeln handelt, die auf dem Boden herumtollen und in der Luft schweben? Eine sehr gute Frage.« Ojichan wandte sich an mich. »Ich habe immer gewusst, dass Katzen Kodama sehen können«, fügte er flüsternd hinzu. »Vielleicht können sie sogar die Geisterwelt betreten und Seelen hinübergeleiten. Yuki-chan, warst du schon einmal in der Geisterwelt? Nein? Aber du würdest gerne hin, oder?«
Ich stieß ein ungläubiges Lachen aus. »Es wäre mir neu, dass du mit Katzen reden kannst, Großväterchen.«
Ojichan sah mich sichtlich empört an. »Natürlich kann ich mit ihnen reden. Ich verstehe alle Tiere.« Als hätte ich ihn zutiefst beleidigt, fokussierte er seine Aufmerksamkeit wieder auf meine Katze.
»Was? Nein, du kannst die leuchtenden Kugeln nicht fressen. Glaub mir, sie würden dir garantiert nicht schmecken. Probier lieber Sake. Sake schmeckt so viel besser.«
Ich hob beide Brauen. »Sie hat nicht mal miaut. Und untersteh dich, meiner Katze deinen ekligen Reiswein anzudrehen.«
»Wir kommunizieren in Gedanken«, erklärte er, ein stolzes Lächeln auf den Lippen. »So wie du und Keiko. Und mein Sake ist nicht eklig.«
»Aha.« Mental machte ich mir eine Notiz, dass ich Yuki das nächste Mal nicht mit zum Schrein bringen würde. In den letzten Wochen hatte ich aufgrund ihrer Reaktionen Keiko gegenüber bereits bemerkt, dass Yuki Kodama sehen konnte. Ojichan hingegen konnte keine Geisterwesen sehen, denn für gewöhnliche Menschen waren sie unsichtbar. Zumindest konnte er die Anwesenheit von Naturgeistern spüren. Dank der Jahrzehnte, die er schon im Shinto-Schrein inmitten der Wälder Hinoharas lebte, hatte er eine tiefgehende Verbindung zu allem Übernatürlichen entwickelt.
»Die leuchtenden Kugeln sind Kodama«, erklärte Ojichan meiner Katze nun. »Das sind Baumgeister, die seit Anbeginn der Zeit existieren. Seit die Natur atmet, gibt es auch Geister. Aber du musst wissen, dass die Welt früher eine andere war, kleine Yuki. Eine bessere. Einst gab es viel mehr Kodama als heute. Damals sind sie nicht gestorben, heute tun sie es viel zu oft.« Ojichan deutete auf einen verkümmerten, abgestorbenen Ahornbaum. »Denn sie sind immer ein Spiegel der Natur. Und leider geht es dieser seit Langem nicht mehr so gut wie damals.« Im Vorbeigehen berührte er die Stämme der Ahornbäume und Scheinzypressen, die den Großteil des Waldes ausmachten.
Ich tat es ihm gleich, während mir jeder tote Baum einen schmerzhaften Stich versetzte. Denn sie waren eine Erinnerung an all die Baumgeister, die bereits den Tod gefunden hatten.
»Kodama sind die Beschützer der Wälder«, fügte Ojichan nach einer Weile hinzu, in der wir schweigend weitergegangen waren. »Und sie sorgen dafür, dass deine Aiko so ist, wie sie ist. Baumgeister sind nämlich auch Wächter von Seelen. Von göttlichen See–«
»Okay, das reicht, Großväterchen.« Ich blieb abrupt stehen und wollte Yuki von seiner Schulter nehmen, aber sie fauchte mich an. »Du musst meiner Katze nicht meine ganze Lebensgeschichte erzählen.«
Ojichan hielt ebenfalls inne. Er drehte den Kopf zur Seite und musterte Yuki mit hochgezogenen Brauen. Als er mich schließlich wieder ansah, war sein Blick ungewöhnlich ernst. »Yuki-chan spürt, dass du eine alte Seele besitzt«, murmelte er.
Verwirrt starrte ich meine Katze an. Ihre wachsamen grünen Augen waren auf mich gerichtet, ihr Köpfchen leicht schief gelegt. »Tut sie das?«
Ojichan schenkte mir ein Lächeln. »Das spürt jeder, der dir in die Augen sieht, Aiko.« Damit setzte er seinen Weg fort, während das letzte Sonnenlicht durch die Baumkronen drang und Lichtflecke auf die Erde malte, die allmählich aus dem Winterschlaf erwachte.
Hastig folgte ich dem Priester, bis der Wald lichter wurde und zwischen den Bäumen ein hölzerner orangefarbener Torbogen mit zwei Querbalken auftauchte, der etwa doppelt so hoch war wie ich.
»Das hier ist ein Torii«, erklärte Ojichan meiner Katze und deutete auf den Torbogen. »Er markiert den Übergang vom Alltäglichen zum Heiligen, zum Zuhause der Kodama. Du und ich dürfen das Torii nicht mittig durchschreiten, sondern müssen uns entweder etwas rechts oder links halten. Der mittlere Weg ist den Kodama und Göttern vorbehalten. Und siehst du die Treppe, die hinter dem Torii beginnt? Keine Sorge, du musst sie nicht selbst hochlaufen, das werde ich für dich übernehmen.«
Ojichan und ich stiegen die Stufen hinauf und betraten anschließend den breiten, steinernen Weg, der zum Hauptheiligtum führte. Das Schreingelände, das etwa so groß war wie ein halbes Fußballfeld, wurde von einem hohen, ebenfalls hölzernen Zaun umschlossen, an den sich kahle Ahornbäume schmiegten. Kodama schwebten über den Weg und tummelten sich in der Luft.
Augenblicklich ergriff eine tiefe Ruhe von mir Besitz. Das tat sie immer, wenn ich hier war. Ich mochte in Tokyo leben, aber dieser Schrein war der Ort, an dem ich mich wirklich lebendig fühlte. An dem ich sein durfte, wer ich war. Selbst wenn ich mich nicht um die Kodama kümmern würde, würde ich jeden Tag nach Hinohara kommen, um diese Stille zu genießen.
Ich räusperte mich geräuschvoll, als Ojichan Anstalten machte, an dem Brunnen, der zu unserer Linken neben dem Weg stand, vorbeizugehen.
»Oh, fast vergessen. Danke, Aiko.«
Ich hatte in diesem Leben zwar noch nicht viele Priester getroffen, aber ich war mir ziemlich sicher, dass Ojichan der Einzige war, der regelmäßig vergaß, Hände und Mund am traditionellen steinernen Brunnen, dem Chozuya, zu reinigen, wie es die Regeln aller Schreine vorschrieben.
Mit einer bereitliegenden Bambuskelle schöpfte ich Wasser aus dem Brunnen, trat einen Schritt zurück und übergoss meine linke Hand damit, dann meine rechte, und schließlich goss ich noch einmal etwas Wasser in meine linke Hand. Dieses führte ich vorsichtig an meine Lippen und wusch mir damit den Mund aus. Danach reinigte ich mir ein letztes Mal die linke Hand, ehe ich mich wieder dem Hauptweg zuwandte.
»Ganz wichtig, Yuki-chan, du darfst das Wasser nicht schlucken, du musst es ausspucken. Und nicht in den Brunnen, damit verunreinigst du ihn. Du – Yuki-chan, nein!«
Als ich mich umdrehte und eine wild strampelnde Katze im Brunnen entdeckte, verschluckte ich mich an meinem eigenen Wasser.
Ojichan sah mich so anklagend an, als wäre das meine Schuld. »Aiko, deine Katze hat unser heiliges Brunnenwasser verseucht.«
»Auf einmal ist sie wieder meine Katze?« Hastig fischte ich eine fauchende Yuki aus dem Becken.
Zum Dank zerkratzte sie mir meine Hände.
»Du hasst mich, schon verstanden. Das musst du mir nicht immer wieder von Neuem zeigen«, brummte ich, während ich meinen weißen Schal abnahm und Yuki unter Protest damit trocken rieb. Als ich fertig war, schüttelte sie sich, warf mir einen verächtlichen Blick zu und stolzierte zurück zu Ojichan, der sie erneut auf seine Schulter setzte. Ich würde dieses Tier wohl nie verstehen.
Trotz der Katzenhaare, die nun an meinem Schal hafteten, wickelte ich ihn wieder um meinen Hals, dann folgte ich den beiden den Hauptweg entlang.
»Siehst du die Laternen, Yuki-chan?« Ojichan deutete auf die etwa kniehohen steinernen Laternen, die den Weg auf beiden Seiten säumten. »Das sind Toro. Wenn es dunkel wird, entzünde ich sie. Kodama lieben diese Laternen. Und das hier«, der Priester nickte zu einer kleinen hölzernen Bühne, die zu unserer Linken neben dem Weg stand, »ist eine Kagura-Bühne. Normalerweise finden auf solchen Bühnen die traditionellen Kagura-Tänze statt. Sie … was soll das heißen, du weißt nicht, was ein Kagura-Tanz ist?«
Ojichan warf mir schon wieder einen empörten Blick zu. »Langsam bekomme ich das Gefühl, dass du Yuki überhaupt nichts von unserem Schrein erzählt hast, Aiko.«
Ehe ich auch nur die Möglichkeit hatte, etwas zu entgegnen, fuhr der Priester fort: »Angeblich wurde die Sonnengöttin Amaterasu einst mit einem Kagura-Tanz aus einer Höhle herausgelockt, in der sie sich vor den Menschen versteckt hielt. Als sie schließlich herauskam, wurde den Menschen das Tageslicht geschenkt.«
Ich hatte so einen Tanz einmal in einem Schrein in Kyoto erlebt. Und sosehr ich wünschte, diese Bühne würde auch hier benutzt werden, wusste ich, dass das nicht möglich war. Denn dieser Ort war alles, nur kein gewöhnliches Heiligtum. Es war das Zuhause der Kodama, und zu ihrem Schutz war der Schrein so tief im Wald versteckt, dass sich kaum Besucher hierherverirrten.
Ich schüttelte die Gedanken ab und beobachtete, wie Ojichan mitsamt Yuki erneut vom Hauptweg abdriftete und mit ihr zu einem hölzernen, etwa einen Meter langen und einen Meter breiten Gitter trat. Dieses befand sich direkt neben der Kagura-Bühne und war in die Erde gerammt.
Ojichan schien meiner Katze wirklich jede Einzelheit eines Shinto-Schreins genaustens erklären zu wollen.
Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen, während ich die beiden beobachtete, meine Hände in den Taschen meines gelben Parkas vergraben. Keiko schwebte rechts von mir, direkt neben meinem Ohr. Auf meiner verletzlichen Seite. Ihre Nähe wärmte meine Wange und ließ mich ruhiger atmen.
»Siehst du, Yuki-chan? Das hier sind sogenannte Ema.« Ojichan deutete auf die kleinen Holztäfelchen, die mit einfachen roten Schnüren an dem Gitter befestigt waren. »Auf ihnen kannst du...