E-Book, Deutsch, Band 4, 323 Seiten
Reihe: Ein Joe-Pitt-Thriller
Huston The Vyrus: Bis zum letzten Tropfen
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-98690-535-4
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ein Joe-Pitt-Thriller 4 | Hardboiled-Spannung im dreckigsten New York, das man sich vorstellen kann
E-Book, Deutsch, Band 4, 323 Seiten
Reihe: Ein Joe-Pitt-Thriller
ISBN: 978-3-98690-535-4
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Charlie Huston wurde 1968 in Oakland, Kalifornien geboren. Nach einem Theaterstudium zog er nach New York, wo er als Schauspieler und Barkeeper arbeitete, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Seine »Vyrus«-Reihe, für die er unter anderem mit dem wichtigsten amerikanischem Krimipreis, dem Edgar-Award, nominiert wurde, erzählt den Überlebenskampf von Privatermittler Joe Pitt in der New Yorker Unterwelt. Charlie Huston lebt mit seiner Frau, einer bekannten Schauspielerin, in Los Angeles. Bei dotbooks veröffentlichte der Autor seine packende Serie um den New Yorker Privatermittler Joe Pitt: »The Vyrus: Stadt aus Blut« »The Vyrus: Blutrausch« »The Vyrus: Das Blut von Brooklyn« »The Vyrus: Bis zum letzten Tropfen« »The Vyrus: Ausgesaugt« Außerdem bei dotbooks erschienen ist sein Thriller »Killing Game«.
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Kapitel 1
Sie sind reif.
Das ist mein einziger Gedanke, während ich sie beobachte.
Die Menge strömt aus dem Stadion, Zehntausende verstopfen die River Avenue und den Grand Concourse und die Straße unter der Haltestelle der Linie 4, auf der die Züge kreischend ein- und ausfahren. Die Leute quetschen sich wie Sardinen in die Waggons, stolpern die Treppen hinauf, drängen sich in die Tunnel und in den Stan the Man’s Fanartikelladen. Der Verkehr in nördlicher Richtung zum Cross Bronx Expressway und nach Triborough kommt zum Erliegen, weil die Menschen die Straßen verstopfen. Sie sind betrunken oder auf dem besten Weg dazu, entweder überglücklich über einen Sieg oder stinksauer über eine Niederlage. Tausende in blau-weißen Nadelstreifen-Baseballklamotten.
Alle bis zum Platzen gefüllt.
Jeder von ihnen würde reichen, um einen von uns armen Teufeln wochenlang auf den Beinen zu halten. Wahrscheinlich sogar monatelang, eine gewisse Erfahrung und Selbstdisziplin vorausgesetzt. Viele von ihnen kennen sich in der South Bronx nicht aus, haben außer dem Weg von der U-Bahn-Haltestelle oder dem Parkplatz zum Stadion noch nichts gesehen. Und jeder Einzelne ist bis zu seinem pumpenden Herzen randvoll mit Blut.
Wen wundert’s also, dass es nach jedem gottverdammten Spiel Ärger gibt?
Klar, ist schließlich kein großes Geheimnis. Deshalb sind auch so viele Cops unterwegs. Die Cops regeln den Verkehr, so gut es eben geht. Sie halten die fanatischen Yankees davon ab, denjenigen Sox-Fans die Ohren abzubeißen, die dumm genug waren, das Spiel ihres siegreichen Teams bis zum Ende anzusehen. Sie haben ein Auge auf Taschendiebe und passen auf, dass die Besoffenen nicht unter die Busse geraten.
Würde mich dieser ganze Scheiß auch nur im Geringsten interessieren, würde ich auf der Stelle hingehen, einem der Beamten auf den Rücken klopfen und ihm ein Bier ausgeben.
Doch das Ganze geht mir, gelinde gesagt, am Arsch vorbei.
Was mir Sorgen bereitet, sind die Wilderer, die halbverhungerten Eindringlinge, die Gierigen und Schwachen, die Kranken, Verirrten und die, die einfach nur bescheuert sind. Die beschäftigen mich so sehr, dass ich versuche, mich nach jedem Spiel hier zu zeigen. Nur um einige Dinge klarzustellen.
Zum Beispiel, dass sie besser aus der Gegend hier verschwinden, bevor ich mich eines Nachts in einer dunklen Seitenstraße an sie ranschleiche und ihnen zwei Kugeln in ihre bescheuerte Rübe jage, bevor sie überhaupt wissen, wie ihnen geschieht.
Die Schwachen und Kranken haben hier nichts verloren. Nicht, solange ich hier oben gestrandet bin.
Hier oben.
Wenn man, lange nachdem das Spiel vorbei ist, auf dem Bahnsteig der Linie 4 steht und Richtung Süden blickt, kann man sie sehen. Die Stadt. Gleich hinter dem Fluss.
Aber für mich ist sie so weit entfernt wie Scheißchina.
Wenn man dann runter zur Straße geht, an den eisernen Treppengeländern und Drehkreuzen vorbei, unter den Stahlpfeilern der Haltestellen hindurch, kommt man sich vor, als würde man in einem Käfig hin und her tigern.
Aber es handelt sich um meinen Käfig.
Und niemand scheißt in meinen Käfig.
Deshalb sehe ich mich nach jedem Spiel hier um. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Ich würde vermutlich auch ohne diese praktischen Überlegungen hier auftauchen. Denn nach einem Spiel ist so ziemlich der einzige Zeitpunkt, an dem ich mich auf der River Avenue blicken lassen kann, ohne Aufmerksamkeit zu erregen.
Ein weißes Gesicht in der South Bronx bei Nacht, das fällt zwangsläufig auf. Tagsüber sind hier zwar eine Menge Weiße unterwegs, Cops, Anwälte und gelegentlich sogar jemand von der Anklägerseite. Aber sobald es dunkel wird, machen sie sich auf den Heimweg. Und sie wohnen alle in sicherer Entfernung von der 161st Street und dem Concourse, also in Jersey, Queens oder allerhöchstens Riverdale.
Am helllichten Tag könnte ich mich also ohne weiteres unters Volk mischen. Ich müsste mir nur was zum Mitnehmen von der Havanna Sandwich Queen holen und mich auf eine der Bänke neben der Statue von Moses setzen, der gerade die Zehn Gebote den Berg hinunterträgt. Ein Blick auf meine Statur, mein Gesicht, meine schwarzen Stiefel, die schwarze Hose, die ich trotz des Sommertages trage, und die Lederjacke, die auf der warmen Steinbank liegt, und die Leute würden denken: undercover. Sie würden mich für einen Cop halten, der hier oben eine Aussage macht.
Aber das würde natürlich voraussetzen, dass ich am helllichten Tag draußen unterwegs bin.
Was aber nicht passieren wird. Niemals.
Es sei denn, ich kriege irgendwann Lust darauf, an plötzlich aus meinen Augen wuchernden Krebsgeschwüren zu krepieren.
Wenn ich also ein bisschen Luft schnappen will, muss das im Schutz der Dunkelheit geschehen. Aber genau das ist das Problem ? sobald die Sonne untergeht, lässt sich kein Scheißweißer mehr in der Gegend blicken. Und ich habe kein Interesse daran, allzu viel Aufsehen zu erregen.
Was is’n das für einer?
Hast du den schon mal gesehen?
Wahrscheinlich ein Bulle.
Nee, der schwirrt hier schon seit Monaten rum. Hat noch keinen festgenommen.
Wird ja wohl kaum hier wohnen.
Keine Ahnung, vielleicht doch.
Wo denn? Welche Straße? Welches Haus?
Man muss nur in einer heißen Sommernacht die Straße runtergehen: Die alten Knacker haben den Kartentisch und die Lieblingsgartenstühle ihrer Frauen auf den Gehsteig gestellt und spielen Domino; die Jungspunde stehen vor einem geleasten Cadillac, dessen Bassboxen ihre Baggy Pants erzittern lassen, und schicken eine SMS an ihre Späher, die auf den Feuerleitern auf der anderen Straßenseite Ausschau halten; durch die geöffneten Fenster hört man die Mütter, Großmütter und schwangeren jungen Frauen lachen; sie trinken Sangria aus billigem Rotwein und 7Up; doch sobald mich einer von ihnen bemerkt, ist die Party vorbei. Man hört nichts mehr außer meinen Stiefeln auf dem Asphalt, ihre Blicke folgen mir, bis ich am Ende der Straße um die Ecke biege, und dann sehen sich alle an.
Wer ist denn das beschissene Weißbrot?
Und vermutlich würde diese Frage manchen Leuten keine Ruhe lassen. Leuten, die es genauer wissen wollen. Früher oder später würde mich jemand anquatschen. Und das nimmt dann ein böses Ende.
Aber das wäre noch nicht mal das größte Scheißproblem.
Das eigentliche Scheißproblem bestände darin, dass besagte Frage die Runde macht, dass die Gerüchteküche zu brodeln beginnt. Die Leute erzählen sich Geschichten, und diese Geschichten breiten sich aus.
Auch wenn ich selbst den Fluss nicht überqueren kann, diese Leute können es. Und wenn sie es tun, bringen sie ihre Fragen und Gerüchte und Geschichten mit nach drüben. Sobald dieser ganze Scheiß die Insel erreicht, kann niemand vorhersehen, was dort damit passiert. Kann sein, die Geschichte kommt dem Falschen zu Ohren. Jemandem, der sich entschließt, der Sache auf den Grund zu gehen, der hier aufkreuzt, herumschnüffelt und mich erkennt. Wenn mich jemand von der Insel hier aufspürt, ist das Spiel aus. Dann bin ich ein toter Mann.
Tja, diese Gefahr besteht. Aber ich werde mich wohl später darum kümmern müssen. Im Moment hab ich Wichtigeres zu tun.
Ich habe Termine. Muss Leute treffen.
Und Leute umbringen.
Ehrgeiz und ein klares Ziel vor Augen ? das hält einen auf Trab.
Wie dem auch sei, in dieser eher feindlich gesinnten Nachbarschaft stellt ein Baseballspiel die einzige Möglichkeit dar, mich unters Volk zu mischen. Mal wieder rauszukommen. Inkognito. Um die Luft der Freiheit zu schnuppern, wenn man es so ausdrücken will. Aber ich will jetzt nicht ironisch werden.
Und da ich schon mal unterwegs bin, um mir die Beine zu vertreten, kann ich mich ebenso gut gleich umsehen, selbst ein bisschen herumschnüffeln. Vielleicht wittere ich ja was, das mir nicht gefällt. Dann kann ich feststellen, wer der Stinker ist, und vielleicht finde ich ja sogar inmitten der Menge einen Augenblick der Ruhe und Vertraulichkeit, um ihm meine Bedenken vorzutragen.
Und prompt ergibt sich an diesem Abend so eine Gelegenheit.
Während des letzten Innings hocke ich vor einem Plastikbecher mit Bier bei Billy’s, zähle im Kopf das Kleingeld in meinen Taschen zusammen und überlege, ob es noch für einen richtigen Drink reicht, bevor ich mich auf den Heimweg mache. Plötzlich weht von der Straße ein bestimmter Geruch rein. Ich knalle den Becher auf den Tisch, beobachte, wie der Schaum aufsteigt und sich wieder legt, kippe den letzten lauwarmen Schluck und trete hinaus auf die Straße. Die ersten Zuschauer verlassen nach einer ziemlich eindeutigen Niederlage bedrückt das Stadion.
Man macht sich keine Vorstellung davon, wie sehr ein paar tausend Baseballfans an einem schwülen Abend nach einer schweren Niederlage stinken. Durchgeschwitzte Pullover, uringetränkte Turnschuhe, Nacho-Käse-Spritzer, eine Wolke aus Erdnussatem und Hot-Dog-Fürzen.
Unangenehm.
Trotzdem, ich kann es wittern.
Ein Gestank wie nach verdünnter Säure beißt in meinen Nasenlöchern. Scharfes, starkes Gift.
Das Vyrus.
Ich dränge mich durch die Menge, überquere auf der Fährte des Geruchs in Zickzacklinien die Straße. Dann stoße ich darauf. Die Luft ist geschwängert davon.
Der Trottel vor mir folgt offensichtlich einer ähnlichen Fährte, allerdings hat er es auf eine andere Art Beute abgesehen. Er sucht nach einem Opfer, das sich im Suff von der Herde getrennt hat und eine falsche Straße hinunterstolpert, direkt auf eine dunkle Ecke zu, in der alle möglichen üblen...