E-Book, Deutsch, 324 Seiten
Reihe: Systemische Horizonte
Hutter Anstößige Bilder
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8497-8536-9
Verlag: Carl-Auer Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gesellschaftskampfspiele um den documenta-fifteen-Skandal
E-Book, Deutsch, 324 Seiten
Reihe: Systemische Horizonte
ISBN: 978-3-8497-8536-9
Verlag: Carl-Auer Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Michael Hutter, Dr. rer. pol.; Ökonom und Soziologe; Studium an der University of Washington in Seattle und Habilitation an der LMU München; 1987-2007 Leitung des Lehrstuhls für »Theorie der Wirtschaft und ihrer gesellschaftlichen Umwelt« an der Universität Witten/Herdecke; 2008-2014 Direktor der Abteilung »Kulturelle Quellen von Neuheit« am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und Professor für »Wissen und Innovation« am Institut für Soziologie der Technischen Universität Berlin; heute Professor Emeritus am WZB.
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2 Der Skandal als natürliches Experiment
Einordnung in eine Theorie ernster Gesellschaftskampfspiele
Die Darstellung des Stroms der Mitteilungen, der Ereignisse und der Handlungen, die mit dem d15-Skandal zu tun hatten, ist skizzenhaft geblieben. Diejenigen, die ihre eigene Erinnerung an und Meinung zu den Ereignissen haben, könnten abschätzen, welche Wertung der Ereignisse meine Auswahl verrät. Gleichwohl, das Konfliktereignis ist als ein Ganzes umrissen. Einzelne seiner Episoden und Dimensionen werden im Folgenden noch genauer untersucht werden.
Ich werde den Skandal als ein »natürliches Experiment« betrachten. Natürliche Experimente werden in den Sozialwissenschaften verwendet, wenn gesellschaftliche Vorgänge zu komplex und zu langwierig sind, als dass man sie unter naturwissenschaftlichen Laborbedingungen replizieren könnte. Man sucht also nach Brüchen in der historischen Entwicklung, bei denen sich eine relevante Randbedingung veränderte, wie etwa in der deutschen Geschichte durch den Fall der Mauer. Aber auch kleinere Konfliktereignisse haben Auswirkungen. Durch sie werden soziale Zusammenhänge, die im alltäglichen Lauf der Kommunikation ungesagt bleiben, nicht nur zur Sprache, sondern sogar in Schriftform gebracht. Der d15-Skandal hat eine solche Flut von schriftlichen Äußerungen generiert. Deshalb eignet er sich als natürliches Experiment.
Jedes Experiment braucht eine Theorie, in deren Kategorien das gewonnene Material sinnvoll interpretiert werden kann. Ich verwende dazu – mit einigen Erweiterungen – die soziologische Systemtheorie. In diesem Beobachtungsraster ist Gesellschaft ein ständiger Strom von Kommunikationsereignissen, oder Mitteilungen. In dem Strom ereignen sich Verknüpfungen von Mitteilungen, in denen eine je eigene Logik und eine autonome Vorstellung von Wert Gültigkeit hat. Die so gebildeten Sinnwelten nannte Luhmann »Funktionssysteme«, ich habe dafür den Begriff der »ernsten Gesellschaftsspiele« vorgeschlagen.1
Die Vermutung, dass sich im Zuge der Evolution Verdichtungen gesellschaftlicher Kommunikation gebildet haben, innerhalb derer nach eigenen Wertvorstellungen miteinander umgegangen wird, hatte schon Max Weber formuliert. Er erwähnt 1920 in der »Zwischenbetrachtung« seiner Religionssoziologie sechs solche »Wertsphären«,2 die er auch »Sphären der Weltablehnung« nennt, denn in ihnen gelten die sphäreninternen Werte mehr als die der Restgesellschaft. Ähnlich eigengesetzlich sind die »Spielfelder« konzipiert, die Pierre Bourdieu identifiziert hat.3 Er unterscheidet das dominante Feld der politökonomischen Macht von den Feldern der Kunst und der Wissenschaft, auf denen um Selbstbestimmtheit gekämpft wird. Auf diesen beiden Feldern spielen die Akteure um Einsätze, deren Wert ihnen im Zusammenhang der Spielregeln des eigenen Spiels vermittelt wird. Niklas Luhmann löste die Beobachtung von den menschlichen Akteuren und konzentrierte sich auf die Wahrnehmungsformen, die es ermöglichen, dass im Fluss der Kommunikation ein Sinn und ein Gefühl von Geschlossenheit entsteht, von Differenz zu einer Außenwelt. Das geschieht schon in einfachen Unterhaltungen, ist als Mitgliedschaft stabilisiert in Organisationen, und wird ermöglicht durch den Einsatz von »symbolisch generalisierten« Medien, mit denen, beispielsweise, religiös, wirtschaftlich oder erotisch kommuniziert wird.4 Auf allen drei Ebenen erfüllt das Geschehen die Definition eines Spiels: Spieler, die mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Ressourcen ausgestattet sind, kämpfen nach meist informellen und impliziten Regeln um einen Einsatz, um das, »was auf dem Spiel steht.« Das Ergebnis der Kämpfe in jeder Spielrunde ist unsicher – genau das macht den Reiz des Spiels aus – und äußert sich affektiv in Jubel oder Enttäuschung. Spiele sind selbstorganisierend, denn ihr Ablauf ergibt sich situativ aus der Gesamtkonstellation der Mitspielenden. Spiele verändern sich im Lauf der Zeit, sowohl durch Regeländerungen und neue Spielzüge von innen als auch unter dem Druck durch Irritationen von außen, meist aus anderen ernsten Spielen der Gesellschaft.
Es ist hilfreich, zwischen »lustigen« und »ernsten« Spielen zu unterscheiden. Lustige Spiele haben Anfang und Ende, und beide werden, ebenso wie die Einsätze, von den Mitspielern bestimmt. Die inhärente Unsicherheit über das Ergebnis einer Spielrunde dient der Unterhaltung, das Spiel fesselt die Mitspielenden, beim Publikumssport sogar Millionen von Beobachtern. Das sind die Spiele, mit denen der Begriff »Spiel« gängigerweise assoziiert wird und die Johan Huizinga als wohl erster in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung erkannt und in ihren Eigenschaften bestimmt hat.5Die ernsten Spiele dagegen haben keinen Anfang und kein Ende, man wird in sie hineingeboren, wie man in die lokalen Sprachspiele hineingeboren wird,6und sie werden in eine den Spielern unbekannte Zukunft hinein weitergespielt. In diesen großen, Jahrhunderte überspannenden Wertspielen treten Spieler auf, die mit unterschiedlichem, oft über Generationen akkumuliertem Wertkapital ausgestattet sind, und die ihr eigenes Interesse am Spielgewinn durch Allianzen mit Verbündeten fördern und durch Kämpfe – mit unsicherem Ausgang – gegen Widersacher durchsetzen. Deshalb sind die ernsten Spiele Kampfspiele, in denen ständig um Siege gerungen und über Regelverletzungen gestritten wird.
Die ernsten Spiele sind historisch so erfolgreich gewesen, weil sie dabei helfen, sich in einer Gesellschaft über existentielle Probleme des Zusammenlebens zu verständigen. Dieses Zusammenleben ist ständig von natürlichen und von menschlichen Kräften bedroht, die für alle zugänglich und beobachtbar sind und von unzugänglichen Kräften, die in der Vorstellung, der Imagination, den Illusionen der Mitspieler existieren. Auch wenn die Forschungslage an diesem Punkt noch keine abschließende Deutung erlaubt, so scheinen sich in der Weltgesellschaft ernste Spiele rund um vier existentielle Probleme entwickelt zu haben, jeweils von ihrer zugänglichen und ihrer unzugänglichen Seite: Wer hat die sichtbare und wer die unsichtbare Macht? Wie wird bei Konflikten entschieden, was richtig ist, im öffentlichen und im familiären Raum? Was gilt als wertvoll, in messbaren Einheiten, oder nach gefühlsmäßigen Qualitätskriterien? Was ist wahr, in der beobachtbaren Welt und in der sich selbst beobachtenden Welt des Denkens? Die Antworten, die in den Spielen auf diese Fragen gefunden werden, ergeben auf der zugänglichen Seite rationalen Sinn, sie gelten als vernünftig und beständig. Auf der unzugänglichen Seite ergeben sie emphatischen Sinn, sie sind begeisternd und flüchtig.7
Ernste Spiele simulieren im Einsatz ihrer spezialisierten Medien die jeweilige Problemlage. Schon prähistorische nomadische und saisonal sesshafte Gesellschaften operierten in zwei Sinnwelten: einer, in der die Machtverhältnisse in der diesseitigen und einer zweiten, in der die Einflüsse aus einer jenseitigen Welt untereinander verhandelt werden. Die erste entwickelte sich weiter zur dynastischen Herrschaft, gestützt durch das Medium des Glaubens an die Gottgewolltheit dieser Lösung. Im vergangenen Jahrtausend haben sich, zuerst in Europa, weitere ernste Spiele ausdifferenziert: Das Spiel des Rechts, mit seiner Inszenierung von Urteilssprüchen, während im Medium der familiären Liebe entschieden wird, wer bei Tod und Krankheit für wen zu sorgen hat. Kreditgeld, das Wertmedium der Wirtschaft, wird zwar schon seit der Antike verwendet, aber erst mit der Neuzeit, also seit dem 16. Jahrhundert, wird die Leistung, eine Gesellschaft mit Waren zu versorgen, auch in den schon etablierten ernsten Spielen anerkannt. Ähnliches gilt für die Spiele der Musik, Bild- und Wortkunst, in denen Werke entstehen, denen eine emphatische Qualität zugesprochen wird. Die Produktion fiktiver Welten und ihr Wert wurden nur zögerlich »ernst« genommen, und ist noch heute umstritten. Noch später setzte sich durch, über die Phänomene der physischen und psychischen Welt im Medium der Wahrheit, mit festen Prüfungsregeln, zu kommunizieren. Die zugängliche Welt wird erst seit einigen hundert Jahren in den Disziplinen der Naturwissenschaft erforscht, während die Versuche, in die unzugängliche Welt des Denkens einzudringen, in den zahlreichen Disziplinen der Geistes-, Kultur- und Gesellschaftswissenschaften8 stattfinden, die oft noch heute in einer »philosophischen Fakultät« vereint sind.9 Jedes dieser ernsten Spiele, über die sich unsere Gesellschaft mit Herrschaft, Regeln, Kredit und Wahrheiten versorgt, hat im Lauf der Jahrhunderte eigene Institutionen und Organisationen entwickelt, in denen ihre zukünftige Spielerelite ausgebildet wird. Das wird dadurch erleichtert, dass wichtige, also in den einzelnen Spielen hoch gewertete Ereignisse sehr konzentriert an wenigen spezialisierten Orten stattfinden, meist in Städten, in denen Parlamente, Kirchen, Gerichte, Warenbörsen, Museen und Universitäten den Rahmen für die nächsten Spielrunden bieten.
Diese Gesellschaftsspiele, in denen um ganz unterschiedliche Einsätze gespielt wird, geraten mit ihren Spielzügen auch aneinander und ineinander. Die Spieler kombinieren in ihren Mitteilungen untereinander die Werte verschiedener Spiele – sie spielen beispielsweise gleichzeitig auf dem politischen, künstlerischen und wissenschaftlichen »Klavier«. Das wird in den Spielen oft als Störung registriert, und Praktiken der Abwehr werden eingesetzt. Aber Irritationen, wahrgenommen als Gefühle der Verwunderung – möglicherweise gesteigert zur Empörung...