E-Book, Deutsch, 244 Seiten
Hutter / Priddat Geben, Nehmen, Teilen
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-593-45409-2
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gabenwirtschaft im Horizont der Digitalisierung
E-Book, Deutsch, 244 Seiten
ISBN: 978-3-593-45409-2
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Michael Hutter ist Professor emeritus am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Birger P. Priddat ist Professor emeritus des Lehrstuhls für Wirtschaft und Philosophie an der Universität Witten/Herdecke.
Autoren/Hrsg.
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Einleitung
– die Welt der digitalen Kommunikation ist voller Wirtschaftspraktiken, die dem Geben, Nehmen und Teilen näher sind als dem Verkaufen, Kaufen und Leihen. Das Internet liefert ständigen Zugriff auf endlos große Mengen von Bildern, Filmen, Texten und Informationen. Die Datenformate, die, auf meist kostenlos zur Verfügung gestellten Plattformen, mit anderen geteilt werden, sind der digitale Humus für wiederum unendliche Mengen an Metadaten, die dann freilich von den Plattformbetreibern gesammelt, ausgewertet und in Marktgüter verwandelt werden. Wir haben es mit einer gigantischen Geschenkökonomie zu tun, deren Valenzen für Wirtschaft und Gesellschaft noch auszuleuchten sind. In der Wirtschaftswissenschaft gelten gleichwohl Geben und Teilen eher als Fossile eines vorökonomischen Zeitalters denn als Zukunftsformen des Wirtschaftens. Abweichungen von der klassischen Kauftransaktion werden ignoriert, oder über eine »Präferenz für Altruismus« zum Verschwinden gebracht.
Die Texte in diesem Band sind auf zwei Tagungen, im April 2021 und im März 2022, erstmals vorgestellt worden.1 Sie sollen dazu beitragen, dass Erkenntnisse und Beobachtungen aus den Sozial- und Geisteswissenschaften zugänglich gemacht werden. Die Beiträge zeigen, dass die Marktform der effizienten Kaufhandlungen nur Teil eines größeren Spektrums diverser Wirtschaftspraktiken ist.
Ein derart multidisziplinäres Projekt verlangt ein hohes Maß an Reflexion: Jede der involvierten Disziplinen hat ihre eigene Literatur, ihre Beobachtungspraktiken, ihren Stil. Diese Unterschiede sind mitzudenken, wenn Soziologie, Anthropologie, Ökonomik, Literaturwissenschaft und Kulturgeschichte aufeinandertreffen. Wir haben deshalb Überschneidungen in der Präsentation und in der von den Autor:innen zitierten Literatur nicht beseitigt. Gemeinsamkeiten – etwa der durchgängige Bezug auf Marcel Mauss’ – treten ebenso deutlich hervor wie die Unterschiede in den Argumentationspraktiken. Die hier gewählte Anordnung der Texte liefert deshalb nur eine denkbare Abfolge, mit der Vergleiche, Perspektivwechsel und dadurch neue Erkenntnisse ermöglicht werden sollen.
Den Anfang machen Autoren, deren Forschung unmittelbar auf das Geschehen im Kontext digitaler Plattformen gerichtet ist. argumentiert, dass die Gesetze der Ökonomie der Aufmerksamkeit den Schwerpunkt des Austausches von der Gabe zur Aneignung verschieben. betont, dass gabenökonomische Aspekte sowohl in marktförmigen als auch in gemeinschaftlichen Settings vorkommen und somit Teil höchst unterschiedlicher ökonomischer Systeme sein können. In einem gemeinsamen Text untersuchen sie die zentrale Frage der Reziprozität auf digitalen Plattformen und stoßen dabei an die Grenzen der Belastbarkeit des gabenökonomischen Ansatzes. Die beiden Autoren verstehen die drei Texte als ein geteiltes Projekt, mit gemeinsamem Literaturverzeichnis.
führt vor, wie in der digitalen Wirtschaft die Allmende, eine traditionelle Form des gemeinschaftlichen Wirtschaftens, wieder an Bedeutung gewinnt. Digitale Allmenden oder »Commons« entstehen in den Bereichen des Internets, die nicht dem Warencharakter unterworfen und für alle frei zugänglich sind. So wird regionale Gemeinschaft in globaler Dimension möglich, und es entstehen neue Formen von Beziehungen, »weil Kreativität zunimmt, wenn sie geteilt wird«.
Die folgenden Beiträge befassen sich mit grundlegenden Dimensionen des Gabenparadigmas. Sie beziehen Anwendungen ihrer Beobachtungsperspektive auf die digitalisierte Wirtschaft in unterschiedlicher Detailschärfe mit ein. hat den Begriff des »Gabenparadigmas« mitgeprägt, er folgt dabei der französischen Tradition von Marcel Mauss und Alain Caillé, wonach die Gabe ein »fundamentaler Mechanismus der Sozialität« ist. sind die klassischen Arbeiten von Malinowski und Mauss nicht nur vertraut, sondern als Anthropologin kennt sie auch deren Grenzen. Gabentausch fand schon in den vermeintlich archaischen Gesellschaften Ozeaniens unter den Bedingungen von Kolonialherrschaft und Gebrauchsgütermärkten statt. Das kritische Potential der Denkfigur im Horizont der Digitalisierung sieht sie beim vermehrten Einsatz fehlerhafter und falscher Gaben, der tatsächlich in den meisten Beiträgen thematisiert wird.
Unsere eigenen Beiträge bringen die Dimensionen des Rechts und die des Bewusstseins ins Spiel. erweitert die gegenseitige juristische Bindung durch Vertrag um die wechselseitige »mutualistische Bindung«, die durch das Vertrauen der Akteure auf Gegengabe oder Weitergabe geschaffen wird. In digitalen Transaktionsfeldern steht die Mitnahme im Vordergrund, während im Hintergrund die unintendierten Geschenke der Metadaten angenommen werden. beobachtet unterschiedliche Ebenen des »Gabenbewusstseins« beim Teilnehmen an Gaben, beim Zurückgeben von Gaben, und beim sich Benehmen mit alltäglichen Gaben. In der digitalen Wirtschaft kommt es vermehrt zur Produktion teilnehmergetriebener Gemeingüter, zu Formen des »sharing«, also des gegenseitigen Zurückgebens, und zu einem Überfluss an alltäglichen Kommunikationsgaben, der herkömmliche Formen des Benehmens gefährdet.
Beide Experten für innerorganisatorische Prozesse operieren mit der Gegenüberstellung von Tausch und Gabe. Beide sind in ihrem Ansatz von Luhmanns Systemtheorie geprägt, und beide verwundert, wie nachlässig er die Gabe behandelt. Günther Ortmann widerlegt die Behauptung, dass die Gabe nichts weiter als beschönigter Tausch sei, und er beobachtet die ungebrochene Relevanz gerade der alltäglichen Gabe inmitten der Organisation, wo der Austausch von »Rat, Tipps, Hilfe, Entgegenkommen« gegenseitig erwartet wird. Das sich Kümmern um ein gemeinsames Projekt sieht er als eine Form von Hin-Gabe. verwendet die Unterscheidung zwischen Sach-, Sozial- und Zeitdimension des Sinns und zeigt, dass sich Warentausch fast ausschließlich in der Sachdimension abspielt, während beim Gabentausch Sozial- und Zeitdimension im Vordergrund stehen. Im Horizont der Digitalisierung setzen sich die Unterschiede fort: während einerseits Online-Geschäfte eine gesteigerte Beziehungslosigkeit der Akteure ermöglichen, werden andererseits »kleine Geschenke« zur informellen Kundenbindung eingesetzt.
Die letzten vier Beiträge erweitern den Beobachtungsraum noch einmal in ganz unterschiedlicher Weise. Das erste Paar spannt den Bogen zwischen fundamentaler Soziallphilosophie und dem singulären Fall einer speziellen Gabe, der Organspende. Frank Schulz-Nieswandt dekliniert die mannigfaltigen Bezugssysteme und Relationen, die theologischen ebenso wie die phänomenologischen, um das breite Band der Gabentheorien auszufalten, worin die Gabenökonomie eine Dimension vorstellt, in der die »Vorgängigkeit des Anderen als ein immer schon Gegeben-Sein des Mitmenschen« sichtbar wird. Der Mediziner nimmt die »Organspende« als zeitgenössische Variante der Gabenrhetorik in den Blick. Bei dieser Gabe nach dem Tod erfolgt die Gegen-Gabe der »moralischen Erhabenheit« schon zu Lebzeiten. Allerdings wird der moralische Druck sinken, wenn – auch dank digitaler Technologie - künstliche Ersatzorgane produziert werden können.
Das zweite Paar lenkt den Blick in die Sprache hinein, und damit in die Tiefe der Geschichte der Gabe. präsentiert zwei aus der Antike überlieferte Anekdoten, also kurze Narrationen, und leuchtet sie detailreich aus: Die eine erzählt von einem angebotenen und erwiderten Geschenk, die andere von einem verweigerten und negativ beantworteten. Beide Texte handeln jedoch von komplexen agonistischen Interaktionen und zeigen beispielhaft »die Unwägbarkeiten wechselseitigen Gebens«. legt historische Bedeutungsverknüpfungen und etymologische Verwandtschaften bloß, die zwischen Geben, Vergeben und Vergessen, und die zwischen genealogischer, moralischer und ökonomischer Schuld. Er macht darauf aufmerksam, dass das Vergessen, bislang auch in der Wirtschaft unvermeidlich, in digitalen Netzwerken mit Aufwand hergestellt werden muss. Wie kann das gelingen im Kontext einer Wirtschaftsideologie der »fortschreitenden Verschuldung«?
Der explorative Charakter dieses Buchs...