E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Reihe: Piper Taschenbuch
Huxley Eiland
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-492-97658-9
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Reihe: Piper Taschenbuch
ISBN: 978-3-492-97658-9
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Aldous Leonard Huxley, geboren 1894 in Godalming/Surrey, in Eton erzogen, studierte nach einer schweren Augenkrankheit englische Literatur in Oxford und war ab 1919 zunächst als Journalist und Theaterkritiker tätig. 1921 begann er mit der Veröffentlichung seines ersten Romans »Die Gesellschaft auf dem Lande« seine literarische Laufbahn. Von 1938 an lebte er in Kalifornien. Huxley starb 1963 in Hollywood.
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ERSTES KAPITEL
»Gib acht«, rief eine Stimme, und es klang, als hätte eine Oboe plötzlich zu sprechen begonnen. »Gib acht«, wiederholte sie in demselben nasal eintönigen Ton. »Gib acht.«
Wie ein Leichnam in dem Haufen dürrer Blätter liegend, mit verfilztem Haar, das Gesicht grotesk verschmiert und abgeschürft, die Kleider zerfetzt und schlammverkrustet, fuhr Will Farnaby aus dem Schlaf hoch. Molly hatte gerufen. Er mußte aufstehn. Sich ankleiden. Durfte nicht zu spät ins Büro kommen.
»Dank dir, Liebste«, sagte er und setzte sich auf. Ein schneidender Schmerz durchzuckte sein rechtes Knie, und im Rücken, in den Armen, hinter der Stirn verspürte er noch andere Schmerzgefühle.
»Gib acht«, sagte die Stimme beharrlich, ohne daß sich ihr Ton im geringsten verändert hätte. Auf den einen Ellbogen gestützt, blickte Will umher; verwirrt sah er statt der grauen Tapete und gelben Vorhänge seines Londoner Schlafzimmers eine Lichtung zwischen Bäumen und die langen Schatten und schrägen Sonnenstrahlen eines frühen Morgens im Wald.
»Gib acht.«
Was sollte dieses »Gib acht«?
»Gib acht, gib acht«, beharrte die Stimme – auf dieselbe seltsame, sinnlose Weise. »Molly?« sagte er fragend. »Molly?«
Der Name schien ein Fenster in seinem Kopf zu öffnen. Plötzlich, mit diesem gräßlich vertrauten Schuldgefühl in der Magengrube, roch er wieder Formalin, sah er die kleine energische Krankenschwester ihm eilig durch den grünen Korridor vorangehn, hörte er das trockene Rascheln ihrer gestärkten Tracht. »Nummer fünfundfünfzig«, sagte sie, blieb stehn und öffnete eine weiße Tür. Er trat ein und sah Molly auf einem hohen weißen Bett liegen, das halbe Gesicht bedeckt von einem Verband, den Mund weit offen, mit klaffendem Unterkiefer. »Molly«, hatte er gerufen, »Molly …« Die Stimme brach ihm, und er weinte jetzt, er flehte: »Mein Liebes!« Es kam keine Antwort. Durch den klaffenden Mund drangen geräuschvoll die kurzen, stoßweisen Atemzüge. »Mein Liebstes, mein Liebstes …« Und mit einemmal wurde die Hand, die er hielt, für einen Augenblick lebendig. Lag dann wieder still.
»Ich bin's«, sagte er, »ich – Will.«
Abermals bewegten sich die Finger. Langsam, mit einer offenbar ungeheuren Anstrengung schlossen sie sich um die seinen, drückten sie und erschlafften wieder.
»Gib acht«, rief die so gar nicht menschliche Stimme, »gib acht.« Es war ein Unfall gewesen, beteuerte er sich hastig. Die Straße war naß, der Wagen schlitterte über die weiße Linie hinaus. Einer dieser Unfälle, wie sie sich immer wieder ereignen. Die Zeitungen waren voll davon; er selber hatte oft und oft darüber berichtet. »Mutter und drei Kinder bei Zusammenprall getötet.« Aber darauf kam es nicht an. Es kam darauf an, daß er ja gesagt hatte auf ihre Frage, ob es wirklich das Ende bedeute; es kam darauf an, daß sie, kaum eine Stunde später, nachdem sie von jener letzten, so sehr beschämenden Unterredung in den Regen hinausgegangen war, im Krankenwagen lag, und im Sterben.
Er hatte sie nicht angesehen, als sie sich zum Gehn wandte, hatte es nicht gewagt. Noch einen Blick auf dieses blasse leidende Gesicht hätte er nicht ertragen können. Sie war von dem Stuhl aufgestanden und langsam durchs Zimmer gegangen, war langsam aus seinem Leben hinausgegangen. Sollte er sie nicht zurückrufen, sie um Verzeihung bitten, ihr sagen, daß er sie noch immer liebte? Hatte er sie je geliebt?
Zum hundertstenmal rief die artikulierte Oboe ihm ihr »Gib acht« zu.
Ja, hatte er Molly je wirklich geliebt?
»Leb wohl, Will.« In der Erinnerung hörte er sie es flüstern, als sie sich auf der Schwelle nochmals umwandte. Und dann war sie es gewesen, die es sagte – leise, aus tiefstem Herzen. »Ich hab dich noch immer lieb, Will – trotz allem.«
Gleich darauf schloß sich die Wohnungstür fast geräuschlos hinter ihr. Das knappe, leise Einschnappen des Schlosses, und sie war gegangen.
Er war aufgesprungen und rannte ihr nach, öffnete die Tür und horchte auf ihre Schritte, die sich die Treppe hinunter entfernten. Wie ein Geist beim Hahnenschrei verweilte noch ein schwaches vertrautes Parfüm zerfließend in der Luft. Er schloß die Tür, ging in sein grau- und gelbfarbenes Schlafzimmer und blickte aus dem Fenster. Sekunden später sah er sie den Gehsteig überqueren. Er hörte das bohrende Geräusch des Anlassers, einmal, zweimal, und dann das Aufheulen des Motors. Sollte er das Fenster öffnen? »Warte, Molly, warte«, hörte er sich in der Einbildung rufen. Das Fenster blieb geschlossen; der Wagen fuhr an, bog um die Ecke, die Straße war wieder leer. Es war zu spät. Zu spät, gottlob! sagte eine barsche, höhnisdie Stimme. Ja, gottlob! Und dennoch, das Bewußtsein seiner Schuld verblieb, saß ihm tief in der Magengrube. Seine Schuld, die nagende Reue – aber durch die hindurch konnte er auch ein gräßliches Jubelgefühl verspüren. Jemand gemeiner, geiler, brutaler, jemand, der ihm fremd war und hassenswert und der dennoch er selber war, frohlockte, daß ihn nun nichts mehr daran hindern konnte zu haben, was er haben wollte. Und was er wollte, war ein anderes Parfüm, war die Wärme und Geschmeidigkeit eines jüngeren Körpers. »Gib acht«, sagte die Oboe. Ja, gib acht, sei gewahr. Dessen gewahr sein, wenn er sich in Babs' schwül duftendem Schlafzimmer befand mit der erdbeerroten Bettnische und den zwei Fenstern auf die Charing Cross Road, durch deren Scheiben die ganze Nacht die riesige Dachreklame für Porter's Gin vom Haus gegenüber hereinblickte. Gin in königlichem Purpur – und zehn Sekunden lang war die Bettnische das heilige Herz, zehn wundervolle Sekunden lang erglühte das angeflammte Gesicht neben ihm wie das eines Seraphs, verklärt wie von einem inneren Feuer der Liebe. Dann kam die noch tiefere Verklärung durch Dunkelheit. Eins, zwei, drei, vier … O Gott, laß es ewig dauern! Aber pünktlich bei zehn schaltete das elektrische Uhrwerk auf eine andere Offenbarung um – diesmal jedoch eine des Todes, des Ur-Grauens; denn nun war das Licht grün, und zehn grausige Sekunden lang wurde Babs’ rosiger Alkoven zu einem Sdioß aus Schlamm und der Leib auf dem Bett leichenhaft fahl, ein zu postumer Epilepsie galvanisierter Kadaver. Wenn Porter's Gin sich in Grün proklamierte, ließ sich schwer vergessen, was geschehen war, und wer man war. Da gab es nur eins: die Augen schließen und, falls es einem gelang, sich noch tiefer in jene andere Welt der Sinnenlust zu stürzen, sich leidenschaftlich und voll bewußt in jene entfremdenden Rasereien zu stürzen, denen die arme Molly (jetzt in ihrem feuchten Grab in Highgate – weshalb man jedesmal die Augen schließen mußte, wenn das grüne Licht aus Babs’ nacktem Leib einen Leichnam machte) immer und so völlig verständnislos gegenüber gewesen war. Und nicht nur Molly. Hinter den geschlossenen Lidern sah Will seine Mutter, das Gesicht blaß wie eine Kamee, vergeistigt von hingenommenem Leid, die Hände durch Arthritis unförmig und kaum mehr menschlich. Seine Mutter und Maud, seine Schwester, die hinter deren Rollstuhl stand, schon etwas in die Breite gegangen und schwabblig wie Gallerte von all den Gefühlen, die nie ihren richtigen Ausdruck im vollzogenen Liebesakt gefunden hatten.
»Wie kannst du nur, Will!«
»Ja, wie kannst du nur«, sekundierte Maud, die vibrierende Altstimme tränenumflort.
Darauf gab es keine Antwort. Keine nämlich in Worten, die vor den beiden hätten ausgesprochen werden können und die, wären sie ausgesprochen worden, von diesen beiden Märtyrerinnen – die Mutter durch ihre unglückliche Ehe, die Tochter durch hingebungsvoll aufopfernde Pflege – verstanden worden wären. Keine Antwort außer in Ausdrücken der unflätigsten wissenschaftlichen Objektivität, der unzulässigsten Offenheit. Wie er das konnte? Er konnte es, war sozusagen dazu gezwungen, weil – nun ja, weil Babs gewisse körperliche Eigenheiten besaß, die Molly fehlten, und sich in gewissen Augenblicken so benahm, wie es Molly einfach undenkbar erschienen wäre.
Die Stille hatte eine ganze Weile angedauert; nun aber nahm unvermittelt die fremdartige Stimme ihren alten Refrain wieder auf.
»Gib acht, gib acht.«
Gib acht, sei gewahr, sei Mollys gewahr, Mauds, deiner Mutter, Babs'. Und plötzlich tauchte eine andere Erinnerung aus dem Nebel von Unbestimmtheit und Verwirrung auf. Der erdbeerrote Alkoven beherbergte jetzt einen andern Gast, und der Körper seiner Besitzerin erschauerte nun ekstatisch unter den Liebkosungen eines andern. Zu dem Schuldgefühl in der Magengrube kam die Qual in der Herzgegend, eine Beengtheit der Kehle.
»Gib acht.«
Die...