Ibbotson | Ein Tanz für mich allein | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Ibbotson Ein Tanz für mich allein


1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-311-70612-0
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-311-70612-0
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wer an der University of Cambridge aufwachsen darf, kann sich wahrlich glücklich schätzen, sollte man meinen. Harriet Morton sieht das anders. Ihr Vater, Professor für klassische Philologie, ist ernst, streng und prinzipientreu, ihre Tante eine hagere alte Jungfer, die ihrem Bruder den Haushalt führt und das Mädchen für töricht und nutzlos hält. Harriet will dem trostlosen Leben in dem kalten grauen Haus entkommen. Denn wenn nicht bald ein Wunder geschieht, muss sie Edward heiraten, der am selben College lehrt wie ihr Vater. Vollkommen glücklich ist die lebenshungrige Neunzehnjährige nur, wenn sie tanzt. Ungehörig für ein Mädchen ihres Stands im Jahr 1912. Als ein gewisser Monsieur Dubrow auf der Suche nach jungen Ballerinen für eine Südamerika-Tournee in Harriets Klasse kommt, ergreift sie die Chance und stiehlt sich davon. Inmitten des Regenwaldes, am legendären Opernhaus von Manaus, wird sie zum umjubelten Star und tanzt den Schwanensee vor heimwehkranken Europäern und kulturhungrigen Brasilianern. Und hier lernt Harriet Rom Verney kennen, den gut aussehenden und geheimnisvollen britischen Exilanten und Besitzer des Opernhauses. Die junge Ballerina ahnt nicht, dass ihr Vater und der Mann, dem sie versprochen wurde, sie bereits aufgespürt haben …

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1


Einen schöneren Ausblick als von dieser Brücke gabes in ganz England nicht, das wusste Harriet. Zu ihrer Rechten ragten die Türme der Kapelle des King’s College empor, und makellose Rasenflächen erstreckten sich bis hinunter zum Flussufer; zu ihrer Linken leuchteten Blausterne und goldene Narzissen in prachtvoller Fülle zwischen den Bäumen des Campusgartens. Dennoch war ihr Gesicht nachdenklich, als sie sich über die steinerne Brüstung beugte, und ihre Füße nahmen – ein eher ungewöhnliches Benehmen für die Tochter eines Professors für klassische Philologie im Jahr 1912 – die fünfte Position ein.

Sie war ein mageres Mädchen mit braunen Haaren und braunen Augen und einem ernsten, sanftmütigen Charakter, der ihren wachen Geist und ihren ausgeprägten Lebenshunger jedoch nicht immer verbergen konnte. Mit ihrer dunkelblauen Pelerine, der Schottenmütze – zweckmäßiger Kleidung, die vor allem haltbar sein sollte – und ihrer Notenmappe, die sie im Augenblick neben sich an die Mauer gelehnt hatte, war sie für die anderen Passanten ein vertrauter Anblick: Professor Mortons kluge Tochter, Miss Mortons folgsame Nichte.

Wer in Cambridge aufwuchs, konnte sich wahrhaft glücklich schätzen. Harriet, die gerade Brot ins Wasser krümelte, um die blasiertesten Enten der Welt zu füttern, hatte sich das wieder und wieder vor Augen gehalten. Aber nicht die Städte bestimmen das Schicksal achtzehnjähriger Mädchen, sondern die Menschen – und während sie so auf den trägen, schlammigen Fluss hinunterschaute und an ihre Zukunft und ihr Zuhause dachte, stand in ihren Augen ein trostloser und verzagter Ausdruck.

Professor Morton hatte bereits die vierzig überschritten, als er anlässlich einer Vortragsreise in der Schweiz eine junge Engländerin kennenlernte, die als Gouvernante im Haushalt eines Schweizer Industriellen arbeitete.

Sophie Brent war ein hinreißendes Geschöpf mit großen braunen Augen, weichem Goldhaar und einem betörenden Kichern. Sie war eine Waise, so arm und schutzlos, wie nur eine Gouvernante es sein kann, und zutiefst beeindruckt von den Aufmerksamkeiten des ernsthaften, gestrengen Professors mit den festen Überzeugungen und der kultivierten Stimme.

Sie heirateten und kehrten in das hohe graue Haus in Cambridge zurück, wo Louisa, die ältere Schwester des Professors – eine hagere alte Jungfer mit stahlgrauem Haar –, ihrem Bruder den Haushalt führte. Nach außen hin fügsam, doch innerlich verdrossen hieß sie das törichte, nutzlose Mädchen, das ihren Bruder eingefangen hatte, willkommen.

In der Scroope Terrace Nr. 37 galt das Motto: »Spare in der Zeit, so hast du in der Not.« Louisa Morton zählte donnerstags die Fischmesser nach und samstags das Tafelsilber, und in ihrem Schlafzimmer bewahrte sie eine Schachtel mit der Aufschrift auf. Obwohl der Professor neben seinem Gehalt über ein beträchtliches privates Einkommen verfügte, hatte man gehört, wie seine Schwester der Köchin wegen der zügellosen Verschwendung von drei Viertelpennys für ein Büschelchen Petersilie die Leviten las. Einladungen bei den Mortons gehörten zu den gefürchtetsten Ereignissen im Universitätskalender.

In dieser kalten, düsteren Umgebung verlor die hübsche junge Sophie schon bald allen Mut und alle Lebensfreude, und auch die Leidenschaft des Professors für seine Frau schwand schnell dahin. Es war unübersehbar, dass sie ihm bei seiner Karriere nicht von Nutzen sein würde. Obwohl Louisa und er selbst sie mit Belehrungen überhäuften, schien sie außerstande zu sein, auch nur die elementarsten Regeln des akademischen Protokolls zu erlernen. Als er in seinem College bei der Neubesetzung des Rektorenstuhls übergangen wurde, gab er Sophie die Schuld daran, und Louisa, die die Zügel im Haus nie wirklich aus der Hand gegeben hatte, zog diese jetzt um so fester an.

In dieses Haus wurde Harriet geboren, die während ihrer ersten beiden Lebensjahre ein glückliches, sonniges Baby war. Dann zog sich Sophie Morton, deren ganze Liebe dem Kind gegolten hatte, eine Erkältung zu, die sich in eine Lungenentzündung verwandelte, und starb. Zwei Wochen später entließ Louisa das Bauernmädchen, das sich bislang um Harriet gekümmert hatte.

Innerhalb weniger Monate wurde aus dem pummeligen, rosigen Baby ein in sich gekehrtes, mageres und beinahe stummes kleines Mädchen. Allzu früh brachte Harriet sich selbst das Lesen bei und verschwand für lange Stunden mit einem Buch auf dem Dachboden. Wenn sie überhaupt etwas sagte, galt es ihrem unsichtbaren Spielgefährten – einem Zwillingsbruder, wieselflink und stark – oder den kleinen Geschöpfen, mit denen sie sich in diesem lieblosen Haus angefreundet hatte: den Spatzen, die sich auf ihrem Fenstersims niederließen; einem Eichhörnchen, das sie auf dem glatt geharkten kleinen Kiesplatz, dem Garten der Mortons, vom Baum gelockt hatte.

Dennoch wäre es falsch zu behaupten, dass Harriet vernachlässigt wurde. Wenn es Louisa auch unmöglich war, dieses Kind zu lieben, so war sie doch fest entschlossen, ihre Pflicht zu tun. Harriet erhielt Musikstunden und – auf Empfehlung des Arztes der Familie, den ihre Blässe und Magerkeit beunruhigten – sogar Ballettunterricht. Sie bekam regelmäßig frische Luft und Bewegung und wurde mit jeder bärbeißigen ältlichen Dienstmagd, die Louisas Regime ertrug, auf lange Spaziergänge geschickt. Obwohl ihr Vater im Laufe der Jahre immer barscher und selbstgerechter wurde, war er doch in der Lage, ihren scharfen Verstand zu bemerken, und so brachte er ihr persönlich Latein und Griechisch bei.

Zu gegebener Zeit schickte man sie dann auf eine exzellente Mädchenschule, welche die Damen des Teekränzchens, die Louisa Mortons Leben beherrschten, überaus empfehlenswert fanden.

Kein Kind liebte die Schule je so sehr wie Harriet. Alles dort gefiel ihr, weil sie es mit anderen teilen konnte, weil es eine Welt voller Wärme und Freundlichkeit war.

Dann kam eine neue Direktorin, die in dem verwundbaren, dunkeläugigen Kind eine potenzielle Gelehrte witterte und es persönlich in Englisch und Geschichte unterwies: Unterrichtsstunden, an die Harriet sich bis an ihr Lebensende erinnern würde. Nach zwei Trimestern bat die Direktorin Professor Morton zu sich, um Harriets Universitätslaufbahn mit ihm zu besprechen. Am Ende dieser Unterhaltung kochten beide Parteien vor Zorn. Für den Professor war vollkommen unverständlich, wie jemand auch nur eine Woche in Cambridge leben konnte, ohne seine Ansichten über »Frauen an der Universität« zu kennen. Und da er sich außerstande sah, seine Tochter weiter dieser emporgekommenen Suffragette anzuvertrauen, nahm er Harriet von der Schule.

Das war nun ein Jahr her, und Harriet konnte noch immer nicht an dem vertrauten roten Backsteinbau vorbeigehen, ohne einen Kloß in der Kehle zu spüren.

Jetzt warf sie ihre letzte Brotkruste ins Wasser, die nur knapp den Kopf des Propstes von St. Anne verfehlte. Dieser war plötzlich mit seiner blonden Frau und seinen hübschen Töchtern in einem Kahn, den er flussabwärts stakte, unter der Brücke aufgetaucht. Wenn die Brotkrume ihn getroffen hätte, wäre das ein besonderes Desaster gewesen, denn der Propst war der wissenschaftliche Widersacher ihres Vaters, und mit der Frau des Propstes stand es sogar noch schlimmer: Man hatte sie vor dem Haus von Freunden gesehen, wo sie in einer wartenden Kutsche schamlos in die Lektüre eines Buches vertieft war, das von einem Schmutzfinken namens Sigmund Freud stammte.

»Armes Kind!«, sagte der Propst, als sie außer Hörweite waren.

»Ja, wahrhaftig«, pflichtete seine Frau ihm grimmig bei, nachdem sie noch einen Blick auf die verlorene kleine Gestalt auf der Brücke geworfen hatte. »Ich werde nie begreifen, wie ein so bezauberndes, empfindsames Kind in diesen Haushalt bigotter Pedanten hineingeboren werden konnte. Es war ein Verbrechen, sie von der Schule zu nehmen. Wahrscheinlich finden sie dieses Leben jetzt passender für die Kleine – Blumen arrangieren in einem Haus, in dem es keine Blumen gibt, und den Hund ausführen, obwohl sie gar keinen Hund haben.«

»Man munkelt, es gebe da einen jungen Mann«, murmelte der Propst.

Und der Propst hatte recht: Es einen jungen Mann. Sein Name war Edward Finch-Dutton, er war Fellow am selben College wie der Professor, St. Philip, und obwohl sein Fach die Zoologie war – eine neue, mit Skepsis betrachtete Disziplin –, hatten die Mortons ihm gestattet, ihr Haus zu besuchen. Denn die Entscheidung, Harriet zu Hause zu halten, hatte zu einer gewissen »Missstimmung« geführt. Selbst der Rektor des Trinity College, der bei den Mortons gleich nach Gott kam, hatte den Professor nach der Sonntagspredigt beiseitegenommen, um seiner Verwunderung Ausdruck zu verleihen.

»Schließlich haben Sie selbst sie zu einer richtigen kleinen Gelehrten gemacht«, sagte er.

»Wenn ich Harriet in den klassischen Sprachen unterwiesen habe, so geschah dies, damit sie sich mir zu Hause nützlich machen konnte, und nicht, damit sie sich zu einer unweiblichen Range und einer Schande ihres Geschlechts entwickelte«, hatte der Professor erwidert.

Aber ein Stachel war geblieben, und als dann Mrs Belper, Louisas Busenfreundin, eines Tages bemerkte, die beste Lösung für Harriet läge vielleicht in einer frühen Heirat, hatten die Mortons Edward Finch-Dutton auserwählt.

Eben diesen hervorragenden jungen Mann mit seinem langen, ernsten Gesicht sah Harriet jetzt, als sie ins Wasser hinunterblickte, vor sich, und wie immer erfüllte sein Bild sie mit...


Ibbotson, Eva
Eva Ibbotson, 1925 als Maria Charlotte Michelle Wiesner in Wien geboren, 2010 in Newcastle upon Tyne, England gestorben, floh 1933 vor den Nazis aus Österreich. Nach der Trennung ihrer Eltern – ihre Mutter war die Schriftstellerin Anna Gmeyner, ihr Vater der Physiologe Berthold P. Wiesner – wuchs sie in einem Kinderheim auf. Nach Kriegsende studierte sie zunächst Physiologie, später Erziehungswissenschaften und arbeitete dann als Lehrerin. Sie heiratete ihren Kollegen Alan Ibbotson und bekam vier Kinder mit ihm – als das jüngste in die Schule kam, schrieb sie ihr erstes Kinderbuch. In Das Geheimnis von Bahnsteig 13 erfand sie ein geheimes Gleis im Londoner Bahnhof King’s Cross, das J. K. Rowling zu Gleis neundreiviertel inspirierte. Viele von Ibbotsons Romanen, darunter auch mehrere für Erwachsene, waren Bestseller.



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