Ivanji | Der Aschenmensch von Buchenwald | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 152 Seiten

Ivanji Der Aschenmensch von Buchenwald

Roman
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7117-5507-0
Verlag: Picus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 152 Seiten

ISBN: 978-3-7117-5507-0
Verlag: Picus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Bei Renovierungsarbeiten im Krematorium der Gedenkstätte des Konzentrationslagers Buchenwald macht ein Dachdecker im Mai 1997 einen ungeheuerlichen Fund: 700 Urnen mit der Asche von namenlosen Häftlingen. Erste Ratlosigkeit mündet in dem Beschluss, die Asche der Toten in einem Gemeinschaftsgrab beizusetzen.
Basierend auf dieser Begebenheit lässt Ivan Ivanji, selbst einst Häftling in Buchenwald, aus den Genen der anonymen Verstorbenen eine neue Gestalt von mythischer Wucht erstehen: den Aschenmenschen von Buchenwald, ein wolkenförmiges Wesen, das hinabsteigt vom Ettersberg nach Weimar.
Sind die im Aschenmenschen versammelten Individuen Erinnyen, rachesuchende Seelen Ermordeter? In einem Stimmenkonzert der Toten lässt Ivanji sie zu Wort kommen, ihre Geschichten erzählen, nach Gemeinsamkeiten und Erklärungen suchen.

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die beisetzung
Etwas musste mit den letzten Überresten der Asche aus den Urnen geschehen. Für das meiste im Leben gibt es entsprechende Institutionen. Auch für den Tod. Menschen mit besonderen Vorstellungen darüber, wie sie verabschiedet werden wollen, können ein Testament aufsetzen. Wenn sie reich genug sind und Fantasie haben, können sie zum Beispiel einen Hubschrauber bestellen, aus dem dann ihre Asche über einem besonders schönen Teil des Ozeans über die Fluten gestreut wird. Über die dunkelblaue, kühle Tiefe. Oder, sollte das zu umständlich oder zu teuer sein, wenigstens aus einem Boot über die Donau oder den Rhein, unter dem Felsen der Lorelei. Oder in irgendeinen anderen Fluss. Das könnte mir gefallen. Aber meine Kinder sollen machen, was sie wollen, ich möchte ihnen nichts vorschreiben, ich werde ja nicht mehr dabei sein. Meine sogenannten sterblichen Überreste interessieren mich nicht, an das Weiterleben meiner »ewigen Seele« glaube ich nicht. Warum aber bewegen mich die Aschenreste in den letzten in Buchenwald gefundenen Urnen so sehr, warum regen sie mich auf, warum bereiten sie mir schlaflose Nächte, warum suche ich so verzweifelt nach Worten, die ich dazu sagen könnte? Die Menschen, deren Asche im Gebälk des Krematoriums über fünfzig Jahre lang darauf gewartet hat, jetzt als Flocken in die Luft aufsteigen zu dürfen, werden vor ihrem Tod nicht viel Zeit gehabt haben, sich Wünsche über ihre Bestattungsart einfallen zu lassen. Und wenn sie sie trotzdem hegten – die Nachwelt weiß nichts davon. Tausendmal haben wir uns im Lager über Nahrungsmittel unterhalten, über Festbankette und die Zubereitung verschiedenster Speisen, über Saufgelage, über Orgien mit Frauen, aber nie über die Bestattung nach dem Tod. Hartnäckig haben sich alle, deren Asche zum Teil nun daliegt – noch im Angesicht des Todes –, bis zum letzten Augenblick an das Leben geklammert. Es sind ganz sicher keine Testamente vorhanden. So muss ohne Kenntnis ihrer möglichen Wünsche eine unübliche Zeremonie gestaltet werden. Niemand weiß, wessen Asche da überhaupt bestattet werden soll. Nach langen Gesprächen werden Geistliche der vier größten Religionen, denen die Toten wahrscheinlich angehört haben, gebeten, den kirchlichen Rahmen zu bestimmen. Für die Kirchen gehört das Begräbnis zu den wichtigsten weltlichen Geschäften. Sie haben die notwendige Erfahrung. Was noch an Rückständen in den Urnen klebt, wird in einen Sammelbehälter gefüllt, und dieser soll in einem Sarkophag am Glockenturm von Buchenwald beerdigt werden. Ein ehemaliger Häftling wird gebeten, eine Ansprache zu halten. Sozusagen eine Grabrede am Grab, in dem nur zufällig nicht auch er selbst liegt. Makaber, denkt der Auserwählte, sehr makaber. Es ist ausgerechnet der wärmste Tag des Sommers. Die sengende Augustsonne würde besser zu einer Ausflugsgesellschaft in einer Badeanstalt passen als zu einer Trauergemeinde. Die Gestalter der ökumenischen Zeremonie finden sich rechtzeitig im Büro des Direktors der Gedenkstätte ein. Der hat kleine Happen auftischen lassen, denn die Feierlichkeit wird sich lange hinziehen. Mit Rücksicht auf den Rabbiner ist die Hälfte der Brote mit Lachs oder Salaten belegt. Der fragt nicht lange, ob Teller und Gläser auch wirklich koscher behandelt worden sind, sondern lässt es sich schmecken. Ein stattlicher, wenn auch nicht besonders groß gewachsener Mann in Schwarz, der Stärkung braucht. Dann stellt sich heraus, dass der orthodoxe Diakon, ein magerer Herr mit schütterem Bart, zufällig Vegetarier ist, obwohl seine Religion das keineswegs fordert – wenn nicht gerade Fastenzeit ist. Er nimmt auch von den Gurkensandwiches. Um keine Ausnahme zu bilden, folgen die anderen dem Beispiel der beiden: der katholische Geistliche, der evangelische Pfarrer und die »Zivilisten«, der Direktor als Gastgeber und der ehemalige Häftling mit seiner Frau. Die Semmeln mit dem saftigen Schinken bleiben übrig. Es gibt nur Obstsäfte. Bei den Begräbnissen, an denen der ehemalige Häftling in seiner Heimat teilgenommen hat, musste Hochprozentiges auf das Seelenheil der Verstorbenen getrunken werden, aus jedem Gläschen pflegte man, bevor man es zu den Lippen hob, einige Tropfen als Opfergabe auszuschütten. Trotz der Hitze hätte er sich auch hier Feuerwasser gewünscht und sich gerne an die Sitte seiner Heimat gehalten: etwas davon auf den Boden geschüttet, auf dem SS-Offiziere auf und ab spaziert sind. Er hätte sich gerne Mut angetrunken, aber er sagt nichts, sonst wäre der höfliche, freundliche Direktor vielleicht verwirrt oder würde wegrennen, um Schnaps aufzutreiben. Die Priester fachsimpeln, wie Ärzte, wenn sie in der Kantine des Spitals zusammensitzen, über bevorstehende Operationen oder Computerfachleute über Programme: welches Gebet wer von ihnen sprechen solle, welchen Psalm wer zitieren wolle, welches Ornat man anzulegen gedenke. Das Ritual ist ihr Geschäft. Wie für den Chirurgen nicht der Mensch auf dem Tisch liegt, sondern der Blinddarm oder dieser schöne Lungentumor, so sind für die Gottesmänner nicht die ermordeten oder vor Hunger gestorbenen Häftlinge das Thema, sondern eine recht simple Handlung, die an sich Alltag ist, aber in diesem besonderen Fall ihre sonst ganz seltene Zusammenarbeit erfordert und deshalb zum merkwürdigen Ereignis selbst für sie wird. Nebenbei bemerkt der junge evangelische Pfarrer: »Es gibt keine gottesdienstliche Form für das, was wir hier zu tun haben« – doch ein Disput über ökumenisches Zusammenwirken und liturgische Fachfragen entwickelt sich nicht, vielleicht nur, weil dafür keine Zeit mehr ist. Der Pope verteilt an alle Anwesenden kleine Briefe, mit dem Auftrag, sie erst später zu lesen. Der ehemalige Häftling hält sich nicht daran, da er am Gespräch über die religiöse Verabschiedung der Asche der Unbekannten nicht teilnimmt, und wirft einen Blick auf die Zeilen. Der Mann, der als Protodiakon der russisch-orthodoxen Kirche der Moskauer Patriarchie zeichnet, bittet »eingedenk der furchtbaren Stätte, an der wir einander treffen«, seine Brüder, alle Adressaten »als Kinder des einen großen Gottes« ansprechen zu dürfen, und fordert »Mitleid und Erbarmen mit allen Geschöpfen«. Neugierig, worauf das hinaussoll – er selbst hat die Absicht, Homosexuelle und Zeugen Jehovas in seiner Ansprache als Opfer zu erwähnen, da ihrer selten gedacht wird und auch sie Teil der Asche in der neuen, gemeinsamen Urne sein könnten –, liest er auch den zweiten Zettel, der in dem Umschlag steckt. Es geht um Tiere. Die empfänden, so wird ein gewisser Andrew Tyler aus England zitiert, »aufgrund ihrer extrem feinen Wahrnehmung Schmerzen noch viel stärker als wir!« Auch ein Satz des rechtzeitig nach Amerika ausgewanderten polnisch-jüdischen Schriftstellers Isaac Bashevis Singer wird wörtlich wiedergegeben: »Was die Tiere angeht, so sind alle Menschen Nazis, für die Tiere ist immer Treblinka.« Der ehemalige Häftling aber ist Fleischesser, gedenkt es zu bleiben, hält sogar den Gott der Juden, Christen und hier nicht erwähnten Moslems keineswegs für den einzig möglichen, kokettiert – eher unseriös, weil er zu wenig von ihm weiß – lieber mit Buddhas dickem Bauch und seinem geheiligten Nichts, sucht nach Worten, um den Unterschied zwischen dem lieben Rindvieh und den ermordeten Menschen hervorzuheben, muss aber seinen Gedankengang unterbrechen, weil der Direktor der Gedenkstätte fragt, ob man mit dem Auto zum Glockenturm gefahren zu werden wünsche oder lieber zu Fuß gehen wolle. Zu Fuß? Nun, dann wäre es aber höchste Zeit aufzubrechen … Der Weg ist lang und führt nur teilweise durch den Schatten des Waldes. Man muss sich beeilen, um pünktlich zum Glockenschlag dort zu sein, wo eine kleine Trauergemeinde schon wartet. Auch die Vertreter der Fernsehanstalten und der Presse. Eine überregionale deutsche Zeitung hält später fest, dass neben dem »monströsen Glockenturm« ein junges Pferd weidete und dass es durch dumpfe Schläge der Glocke im Turm aufschreckte. Die vier Geistlichen in ihren Ornaten – der Rabbiner begleitet von einem aus Russland stammenden jüngeren Mann, der sein Gehilfe, Chauffeur und Leibwächter zu sein scheint –, der ehemalige Häftling Arm in Arm – Stütze suchend – mit seiner Frau und einige, wenngleich in Zivil ein wenig militärisch wirkende junge Herren marschieren energisch drauflos. Da kommt eine Kolonne hupender Autos und drängt sie fast in den Straßengraben. Mit polizeilichem Begleitschutz fährt in seinem gepanzerten Mercedes, nachdenklich auf seinem Polstersitz zurückgelehnt, in staatsmännischer Pose der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland vorbei. Wie ein Monarch durch eine...


Ivan Ivanji, 1929 im Banat geboren, war unter anderem Journalist, Diplomat und Dolmetscher Titos. Romane, Essays, Erzählungen und Hörspiele. Er lebte als freier Schriftsteller und Übersetzer in Wien und Belgrad. Im Picus Verlag erschienen zahlreiche Romane, darunter »Das Kinderfräulein«, »Der Aschenmensch von Buchenwald«, »Geister aus einer kleinen Stadt«, »Buchstaben von Feuer«, seine Familiensaga »Schlussstrich«, »Tod in Monte Carlo«, »Hineni« und »Corona in Buchenwald«. 2023 erschien »Der alte Jude und das Meer«. Ivan Ivanji verstarb am 9. Mai 2024 in Weimar.



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