E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Jackson Das verlorene Wochenende
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-908778-44-8
Verlag: Dörlemann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-908778-44-8
Verlag: Dörlemann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Charles Jackson, wurde 1903 in Summit, New Jersey, geboren. Er wuchs in Arcadia, New York, auf. Sein Debüt Das verlorene Wochenende erschien 1944, wurde sofort ein Bestseller und 1945 von Billy Wilder verfilmt mit Ray Milland und Jane Wyman in den Hauptrollen. Der Film wurde im Frühjahr 1946 mit vier Oscars ausgezeichnet. Charles Jacksons Ruhm verblich rasch, und er starb 1968 an einer Überdosis Seconal (Secobarbital) im Chelsea Hotel in New York City. The Lost Weekend wurde 2013 mit großem Erfolg bei Vintage neu aufgelegt.
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Zweiter Teil
Die Ehefrau
Die Fenster waren blau-weiß. War es früher Morgen oder Abend? Er lag da, betrachtete die Scheiben zwischen den Vorhängen und fragte sich, ob sie heller oder dunkler, sich mit Tages- oder Dämmerlicht füllen würden. Wie spät es war, welcher Tag. Die Uhr zeigte 6:10 an, doch das half ihm nicht weiter.
Er war vollständig bekleidet auf dem Wohnzimmersofa aufgewacht. Seine Füße brannten. Er griff hinunter, schnürte seine Schuhe auf und schleuderte sie weg. Dann richtete er sich zum Sitzen auf, zog Jackett und Weste aus, band die Krawatte ab, lockerte den Kragen. Automatisch tastete seine Hand neben dem Sofa nach der Flasche am Boden. Ihm wurde bang ums Herz, als er sie fand und sah, dass sie leer war.
Hatte er die ganze Nacht geschlafen oder die ganze Nacht und den ganzen nächsten Tag? Unmöglich, das festzustellen, bevor das Licht sich nicht veränderte, zum Besseren oder zum Schlechteren. Wenn es Abend war, gottlob. Dann könnte er losgehen und noch eine Flasche kaufen, etliche Flaschen. Andernfalls … Ihm graute davor, es herauszufinden; denn wenn es Morgen war, Tagesanbruch, säße er bis neun oder noch länger auf dem Trockenen und müsste genau die Strafe erleiden, der zu entgehen er sich immer wieder versprach. Es wäre wie der gefürchtete Sonntag, von allen Tagen der Woche (in diesen Phasen) der schlimmste; denn sonntags öffneten die Kneipen nicht vor zwei und die Spirituosenläden überhaupt nicht. Wieder einmal war er nicht schlau genug gewesen, für eben diese Situation einen Vorrat bereitzuhalten; wieder hatte er gänzlich den Überblick verloren und die unentrinnbare Verzweiflung des Morgens vergessen, die so viel dringlicher und fordernder war als jedes Bedürfnis des Abends davor. Am Abend war es nur Alkohol gewesen. Jetzt war es Medizin.
Er führte die leere Flasche an den Mund. Ein warmer Tropfen kroch wie zäher Sirup durch den Flaschenhals. Er lag auf seiner Zunge, nutzlos, kaum herunterzuschlucken. Don dachte an all die Morgen (und wusste im selben Moment, dass ihm ein weiterer Zyklus solcher qualvoller Morgen bevorstand), an denen er sich, in Phasen wie diesen, in die Küche geschleppt und die Batterie leerer Halb- und Viertelliterflaschen auf dem Boden unter der Spüle gesehen, sie einzeln aufgehoben, umgedreht und über ein kleines Glas gehalten hatte, eine nach der anderen jeweils minutenlang, hier einen letzten klebrigen Tropfen hervorlockend, da zwei, dort vielleicht gar nichts und so weiter, eine lange, nervenzerrüttende Geduldsprobe, bis er – vielleicht – so viel beisammenhatte, dass der Boden des Glases bedeckt war. Es war wie ein Ritus – das langsame Trinken umso mehr; und es war nie genug.
Obwohl er dieses Bedürfnis verabscheute, seine Abhängigkeit von weiterem Stoff, an den oft so schwer heranzukommen war – verabscheute, was es mit ihm anstellte, bis er welchen bekam –, empfand er tiefe und hochmütige Verachtung für diejenigen, die Alkohol am Morgen danach verschmähten, denen sich, von der Ausschweifung der Nacht noch durchgeschüttelt, schon beim bloßen Gedanken daran der Magen umdrehte. Wie oft war er entgeistert gewesen – zunächst ungläubig, dann verächtlich –, wenn er jemanden nach durchzechter Nacht sagen hörte: »Herrgott, nimm das weg, ich will es nicht riechen, ich will es nicht mal sehen, schaff es mir aus den Augen!« –, und das im selben Moment, da es ihn selbst am meisten danach verlangte. Wie verschieden war diese Reaktion von seiner und wie aufschlussreich. Da zeigte sich eindeutig der Unterschied zwischen dem Alkoholiker und dem Nichtalkoholiker. Es ärgerte ihn, das zu wissen, aber er wusste es; wusste es viel besser als die anderen, und behielt dieses Wissen für sich. Es würde ihnen zu viel über ihn verraten, würde ihnen verraten, dass er ein Trinker war, der nicht aufhören konnte – und wie abstoßend war das, viel erschreckender für den Mann, der sich ab und zu ein schweres Wochenendgelage erlaubte, als für jeden Abstinenzler. Das Katerbier war für ihn kein lustiger Scherz wie für die anderen; aber er war imstande, mit ihnen darüber zu witzeln und seine bohrende Ungeduld zu verbergen, bis er es schaffte, heimlich etwas zu trinken oder, wenn ihm in Gegenwart anderer jemand als Mutprobe (Mutprobe!) etwas anbot, mit gekünstelter Bravour seinen Durst zu löschen, während seine verkaterten Freunde sich schüttelten.
Durst – was für ein unzutreffendes Wort. Er konnte aufrichtig sagen, dass er noch nie Durst auf Alkohol oder Verlangen nach einem Drink als solchem gehabt hatte, nein, nicht einmal während eines Katers. Er trank nicht, weil er durstig war, und auch nicht, weil es ihm schmeckte (Whisky war im Grunde genommen scheußlich, er stürzte ihn immer möglichst schnell herunter): Er trank wegen der Wirkung, die es auf ihn hatte. Was das Durstlöschen betraf, bewirkte Alkohol ja genau das Gegenteil. Löschen heißt stillen oder befriedigen, dir genug geben. Alkohol konnte das nicht. Ein Drink führte zwangsläufig zum nächsten, mehr forderte mehr, das Trinken wurde einfacher und einfacher und gipfelte in dem verzweifelten Bedürfnis, gar nicht mehr einfach, das ihn an Tagen wie diesen erfasste. Sein Bedürfnis zu atmen war nicht dringender.
Heute war es nicht ganz so schlimm. Er konnte es aushalten. Er hatte, bisher, nur eine Nacht getrunken. Morgen oder übermorgen wäre es etwas anderes, aber jetzt war es ein Kater, mehr nicht; er würde es aushalten, bis er sich eine weitere Flasche besorgen könnte. Was er im Moment noch stärker empfand als sein Verlangen nach einem Drink war die unvermeidliche und vertraute Begleiterscheinung des ersten Morgens danach: Gewissensbisse (wie schnell er sie erkannte; wie demütig er sie, aus alter Gewohnheit, als gerechte Strafe akzeptierte) – Gewissensbisse wegen des Trinkens an sich, weil er überhaupt etwas getrunken hatte; doch noch während er die ersten elenden Symptome der Angst und Schuldgefühle registrierte, wusste er, dass sie verglichen mit dem quälenden, gnadenlos schlechten Gewissen, das ihm in ein paar Tagen den Teufel und Schlimmeres auf den Hals hetzen würde, nur ein leiser Anflug waren, ein winziger Stich.
Was war gestern passiert, am Abend, dass er sich so schuldig fühlte? Nichts. Es war immer dasselbe, egal, was er getan hatte. Er erinnerte sich kaum an die Stunden, nachdem er angefangen hatte zu trinken; doch was bis zu dem Moment gewesen war, als er sich ins Village aufgemacht beziehungsweise bei Mrs. Wertheim in der Wäscherei vorbeigeschaut hatte, reichte aus. Ihm wurde übel vor Verzweiflung und Reue, allein schon, weil er wieder angefangen hatte, wo er doch gerade erst wohlbehalten aus der letzten Episode herausgekommen war. Warum hatte er nicht gewartet – warum hatte er nicht noch einen Tag länger gewartet? Nur einen! Er hatte sowieso schon eine schlimme Woche hinter sich gehabt; hatte seit Montag keinen Alkohol mehr getrunken; ein Tag mehr hätte gereicht, und er wäre wiederhergestellt gewesen und hätte bis zum nächsten Zyklus nicht mehr trinken müssen. Wenn er gestern durchgehalten hätte, wäre er heute wieder normal gewesen; er kannte sich und seine Gewohnheiten gut genug, er wusste doch, dass er noch ein paar Tage hätte schaffen können, vielleicht sogar zwei oder drei Wochen, denn er war ein Quartalssäufer, mit Perioden der Trockenheit dazwischen. Zugleich kannte er sich auch gut genug, um zu wissen, dass er, wenn er erst einmal angefangen hatte, bis zum Ende weitermachen musste, es gab jetzt kein Halten mehr, er konnte die Talfahrt bis zum letzten Stadium der Gefahr, der Zerstörung, des Zusammenbruchs nicht mehr stoppen. Sofern man ihn nicht einsperrte, war ihm nicht zu helfen, bis es von selbst zu Ende ging und er mit einem blauen Auge davonkam oder nicht. Der alte Dämon des Ennui hatte ihm den entscheidenden Stoß versetzt, sein alter Feind ihn mit List dazu gebracht, wieder anzufangen, bevor er sich von der letzten Sauferei erholt hatte, bevor er richtig aus allem heraus war. Sie lagen gefährlich nah beieinander, überlappten sich gefährlich, diese beiden Episoden. Nach der jetzigen würde es ihm zwangsläufig schlechter gehen als nach der vorangegangenen, denn er war kaum schon stark genug, um wieder anzufangen. Wie war das passiert – in welchem Augenblick hatte es begonnen – warum? Das Barometer hatte eine Unwetterperiode angezeigt, gewiss; aber im Ernst, egal, wie sehr er daran glauben wollte, er konnte doch einem Satz aus einem Buch nicht die Schuld geben. Wenn es das nicht gewesen wäre, dann etwas anderes. Von Wick unbeaufsichtigt, entschlossen, dem langen Wochenende zu entkommen, das ihm helfen sollte, hätte er in jedem Fall einen Auslöser gefunden.
Unwetterperiode, Raskolnikow, klar! Wie konnte seine Intelligenz es ihm erlauben, sich zu derart übertriebenen Proportionen aufzublasen; der Kontrast zu seinem elenden, lächerlichen kleinen Gelage war so gewaltig, dass er sich für all die heroischen Fantasien schämte, in denen er tags zuvor geschwelgt hatte. Er hatte sich selbst als den sensiblen, begabten Mann betrachtet, der mit erhabener Unbekümmertheit vor die Hunde ging, ja, mit galanter, anmutiger, sogar amüsierter Resignation seine eigene Zerstörung herbeiführte. Humbug! Er war ein Trinker, weiter nichts; ein Säufer und Dieb; und die Gefahren, die er zu meiden suchte, waren gering, nicht größer und bedrohlicher als die Zweige und Blätter, denen die nachts umherfliegende Fledermaus, dem Betrunkenen ähnlich, so geschickt auswich, wenn sie mit lächerlicher und unnötiger Raffinesse in der Dunkelheit hin und her schoss, waghalsig, aber sicher, absolut sicher, weil sie mit ihren sensiblen Flügeln die winzigste Regung der Luft vor einem Hindernis, jede noch so kleine Gefahr auf...