Jägerfeld | Der Schmerz, die Zukunft, meine Irrtümer und ich | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Jägerfeld Der Schmerz, die Zukunft, meine Irrtümer und ich


1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-446-24562-4
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-446-24562-4
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Erst ist da nur der Schmerz, als Maja sich mit der Stichsäge die Daumenspitze absägt. Dann kommt die Wut, weil ihr Vater glaubt, sie hätte es mit Absicht getan. Aber sie ist doch kein Psycho! Oder doch? Hat sie womöglich dieselbe Krankheit wie ihre Mutter? Die leidet am Asperger-Syndrom und versteht daher nicht, wie andere Leute ticken. Kann Maja sich deshalb nicht vorstellen, dass ein cooler Typ wie Justin sich in sie verliebt? Solche Fragen können schmerzhafter sein als ein fehlendes Stück Daumen, doch Maja stellt sie. Nur so kann sie sich über die Irrtümer in ihrem Leben klar werden. Ein berührendes Jugendbuch über eine Identitätssuche, das Erwachsenwerden und die erste Liebe.

Jenny Jägerfeld, 1974 geboren, arbeitet als Journalistin und Lektorin für Fachbücher und Zeitschriften sowie als Psychologin in Stockholm. Ihr Roman Der Schmerz, die Zukunft, meine Irrtümer und ich (2014) wurde u. a. mit dem LUCHS und dem Augustpreis ausgezeichnet, der wichtigsten literarischen Auszeichnung Schwedens. 2016 folgte mit Easygoing ihr zweites Jugendbuch bei Hanser. Jenny Jägerfeld ist weit gereist, hat zwei Kinder und besitzt den gelben Gürtel in Karate.
Jägerfeld Der Schmerz, die Zukunft, meine Irrtümer und ich jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


DONNERSTAG,
DER ZWÖLFTE APRIL


?Es war Viertel vor eins am Donnerstag, den zwölften April, einen Tag vor dem allgemein anerkannten Unglückstag, und ich hatte mir soeben mit einer elektrischen Stichsäge die äußerste Spitze meines linken Daumens abgesägt.

Ich starrte den Daumen an, vielmehr das, was von ihm übrig war. Seine bleiche Vorfrühlingshaut und dazu dieses Pinkfarbene innen drin. Das Fleisch. Überlegte nüchtern, dass ich ihn wohl ziemlich gerade abgesägt hatte, mit glatter Schnittfläche, was bestimmt gut war. Oder? Ich suchte in meinem Innern nach relevanten Erfahrungen, doch da war nichts. Absolute Leere. Mein Wissen über abgesägte Körperteile war eindeutig begrenzt. Übrigens ließ sich die Schnittfläche nur noch schwer erkennen, weil plötzlich ein massiver Strom aus Blut daraus hervorsprudelte. Wie ein kleiner Geysir.

Die Säge fiel laut krachend zu Boden. Vielleicht ließ ich sie fallen. Vielleicht warf ich sie von mir. Das weiß ich nicht mehr. Ich packte den Daumen mit der rechten Hand und drückte fest zu. So fest, dass meine Knöchel weiß wurden. Eine Sekunde verging, dann die nächste. Ich sah, wie sich die Säge mit wild vibrierendem Sägeblatt über den Boden voranhackte.

Dann flimmerte es mir irgendwie vor den Augen, wie eine Art grau-weißes Schneegestöber, und zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand zeigte sich ein erstes blutiges Rinnsal. Wie auf ein gegebenes Signal strömte jetzt auch zwischen den übrigen Fingern Blut hervor, und meine rechte Hand färbte sich langsam leuchtend rot. Ich versuchte, noch fester zuzudrücken, doch das Blut floss hartnäckig weiter. Es war, als würde jemand die weiße Arbeitsplatte vor mir mit roter Farbe ansprayen, so schnell tropfte es herab.

Plötzlich fühlte ich mich, als hätte sich mein Magen total entleert. Als stünde ich in einem Aufzug, dessen Stahlseil soeben gerissen war. Anstatt mich langsam nach oben zu bewegen, stürzte ich Hals über Kopf in einen Schacht. Um das Gleichgewicht wiederzuerlangen, musste ich den Daumen loslassen und nach einem Stuhl greifen. Das Blut hatte wieder freie Bahn, es strudelte, strömte und pulste aus etwas heraus, das einmal einer meiner wichtigsten Finger gewesen war. Die gestärkte Brustpartie des Frackhemds, das ich trug, wurde rot gesprenkelt.

Scheiße. Papa würde stinksauer werden.

Das hier müsste wehtun, überlegte ich nüchtern. Warum tut es das nicht?!

Im selben Moment explodierte eine Bombe in meiner Hand.

Und dann noch eine.

Und noch eine.

Der Schmerz war rot glühend und hart. Es tat absolut unfassbar weh.

Ich versuchte zu atmen, doch das ging nicht. Meine Kehle war zugeschnürt, kein Sauerstoff mehr da.

In wortloser Panik sah ich mich um. Sämtliche Tätigkeiten ringsum hatten aufgehört. Niemand töpferte mehr. Niemand machte Gipsabgüsse, niemand verbog Blech oder knetete klebriges Pappmaché. Alle starrten mich nur stumm an, mich, die Pfütze aus frischem Blut auf dem Boden, meine blutigen Hände und den blutroten Handabdruck an der Holzlehne des Stuhls.

Alle waren still.

Noch nie waren sie so still gewesen. Als Einziges war die Säge zu hören, die wütend auf den Boden einhackte. Das Geräusch von Metallzähnen auf Stein.

Es war, als befände ich mich vierzig Meter unter der Meeresoberfläche. Der Druck von Tausenden Kubikmetern Wasser verhinderte alle hastigen Bewegungen, machte den Körper langsam und schwerfällig. Die Sicht wurde irgendwie dunkel und verschwommen, das Geräusch der Säge dehnte sich verzerrt in die Länge. Ich sah meine Klassenkameraden an, die langsam an ihren Arbeitstischen hin und her wogten, wie Seegras, konnte ich gerade noch denken, bevor es mir endlich gelang, Luft zu holen und loszuschreien. Der Schrei klang rau und heiser, als hätte ich meinen Mund einen ganzen Tag lang nicht aufgemacht.

Ich riss die Augen auf und schrie, während die Explosionen im Daumen einander ablösten. Ich schrie, wie ich noch nie, wirklich noch nie geschrien hatte, und es war unmöglich, vollkommen undenkbar, aufzuhören. Ich suchte Enzos Blick, aber hinter der Schutzbrille war sein Gesichtsausdruck schwer zu deuten. Das Brillenband um den Hinterkopf war so hart gespannt, dass das Gestell ihm in die Haut schnitt und seine runden Wangen unter dem verschrammten Glas zusammenpresste. Er löste sich als Erster aus der erstarrten Gruppe. Bewegte sich wie ein Roboter, ruckartig. Ohne mich aus den Augen zu lassen, bückte er sich und hob etwas Kleines vom Boden auf, etwas Kleines, Pinkfarbenes, das er mir dann reichte. Als ich keine Anstalten machte, es entgegenzunehmen, legte er es mir in meine rechte Hand. Dann sank er lautlos auf den blutigen Boden, weniger als einen Meter von der Säge entfernt.

Valter rannte. Er rannte, dass die weichen Locken flatterten. Normalerweise bewegte er sich würdevoll und langsam. Jetzt nicht. Noch nie war er so schnell vom Lehrerpult zu den Arbeitstischen hinten im Zimmer gelangt. Ich staunte darüber, dass ich das charakteristische Klappern seiner Absätze auf dem Steinboden nicht hörte, bis ich einsah, dass es meine eigene Stimme war, mein eigenes lang gezogenes Gebrüll, das alle anderen Laute daran hinderte, an meine Trommelfelle zu dringen.

Dann sah ich auf meine unverletzte rechte Hand hinunter, betrachtete den Gegenstand in der Handfläche. Ich wusste, was dort lag, konnte es aber dennoch nicht begreifen. Irgendwie ging das nicht. Das war zu ... absurd. Widersprach zu sehr jeglicher Vernunft. War, abgesehen davon, auch widerlich.

In meiner Handfläche lag ein Teil meines Körpers. Ein Teil von mir.

Der oberste Teil meines Daumens.

Er war so leicht, wog bestimmt nicht mehr als eine Erbse oder vielleicht zwei. Ich spürte ihn kaum.

Ich wollte ihn nicht anschauen, musste es aber unwillkürlich tun.

Das oberste gerundete Stück des Daumennagels war intakt. Ein kleiner Sägespansplitter war an der blutigen, fleischigen Seite hängen geblieben. Hinter dem Blut ließ sich etwas Weißes erahnen, das musste der Knochen sein. Mein eigenes Skelett.

Ich hatte mich getäuscht. Die Schnittfläche war nicht glatt, sondern aufgerissen, sah aus wie Hackfleisch. Kurz wurde mir schwarz vor Augen. Leider wurde ich nicht ohnmächtig. Noch nicht. Stattdessen stieg mir heftige Übelkeit gurgelnd den Hals hoch, und mit einer Willenskraft, die einer russischen Turnerin würdig gewesen wäre, gelang es mir, mich nicht zu übergeben.

Das wütende Hacken der Säge hörte abrupt auf. Valter hatte den Stecker herausgerissen. Und genau im selben Moment verstummte ich. Als wären die Säge und ich an den gleichen Schalter angeschlossen gewesen.

Stille. Eine geradezu hallende Stille.

Valter trat auf mich zu, nah, zu nah, geradezu sozial inkompetent nah, und sein Atem schlug mir in kurzen, nach Pfefferminz riechenden Stößen ins Gesicht. Er schluckte, und in seinen graublauen Augen sah ich Bestürzung. Vielleicht sogar Panik. Das hatte etwas damit zu tun, wie schnell sich seine Pupillen hin und her bewegten. Kleine, kaum wahrnehmbare Bewegungen. Ein paar Sekunden verstrichen, während wir so dastanden, die Blicke ineinander verhakt.

Plötzlich war ein Laut zu hören. Ein lang gezogenes Wimmern. Ich und Valter sahen gleichzeitig auf den Boden. Dort lag Enzo. Es war, als hätte jemand ein Bild aus einem Horrorfilm angehalten. Die Säge befand sich kaum zehn Zentimeter von Enzos rechtem Ohr entfernt. Er hatte Blut an der Wange und im Haar. Die Schutzbrille war voller Blutspritzer – von meinem Blut. Seine braunen Augen waren aufgerissen, und sein Mund stand offen, als hätte er vorgehabt zu schreien, es dann aber vergessen. Ich sah, dass der Reißverschluss an seinem Hosenschlitz ein Stück weit offen war.

Plötzlich hörte ich vorsichtige Schritte. Dann ein scharfes Klicken. Ich warf einen Blick über die Schulter und bekam einen blendenden blauweißen Blitz mitten ins Gesicht.

Klick.

Das war Simon. Natürlich war das Simon. Mit dem Handy näherte er sich meiner Hand.

Klick.

Dann richtete er es auf den Boden und Enzo.

Klick.

Das Blut, die Schutzbrille, der Hosenschlitz. Alles wurde von diesem mörderischen Blitz erhellt.

Klick klick klick.

Enzo schloss verlegen den Mund. Räusperte sich. Aus seiner demütigenden Position auf dem Fußboden sagte er: »Steck den Daumen in ... in den Mund. Also, die Daumenspitze, meine ich. Dann kann man sie leichter wieder annähen ... hab ... hab ... ich gehört.«

Alles drehte sich. Wie ein Echo hörte ich das Klicken und Enzos Stimme, nur eigenartig verzerrt.

Klick. Steck den Daumen in ... in den Mund.

Ich kippte nach hinten und schlug mit dem Kopf auf etwas Hartes auf.

Klick.

Alles wurde befreiend schwarz.

***

?»Na dann«, sagte Frau Dr. Levin, beugte sich über den Schreibtisch und musterte mich intensiv. Ihre rot unterlaufenen Augen waren von mascaraverklebten Augenwimpern eingerahmt, die sich wie schwarze, dünne Spinnenbeine abspreizten. Auf der Nase hatte sie eine kleine Wunde, vielleicht war sie hingefallen. Vielleicht war sie Alkoholikerin.

»Dann wären wir wohl im großen Ganzen fertig. Noch ...«

Die schöne dunkelhaarige Krankenschwester, die laut Namensschildchen Maryam hieß, unterbrach Dr. Levin unbeabsichtigt, indem sie mich bat, die Hand still zu halten. Sie hob meinen Arm an, und ich zuckte instinktiv zusammen,...


Kicherer, Birgitta
Birgitta Kicherer, geboren 1939 in Stockholm, wuchs in Schweden und Deutschland auf. Nach einem Grafikstudium arbeitete sie zunächst als Buchillustratorin bevor das Übersetzen von Literatur für Kinder, Jugendliche und Erwachsene zu ihrem Hauptberuf wurde. Sie übersetzt vorwiegend aus dem Schwedischen, ebenso jedoch auch aus dem Norwegischen, Dänischen und Englischen. Zahlreiche ihrer Übersetzungen wurden mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet, 1999 erhielt sie zudem den Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises für ihr übersetzerisches Gesamtwerk.

Jägerfeld, Jenny
Jenny Jägerfeld, 1974 geboren, arbeitet als Journalistin und Lektorin für Fachbücher und Zeitschriften sowie als Psychologin in Stockholm. Ihr Roman Der Schmerz, die Zukunft, meine Irrtümer und ich (2014) wurde u. a. mit dem LUCHS und dem Augustpreis ausgezeichnet, der wichtigsten literarischen Auszeichnung Schwedens. 2016 folgte mit Easygoing ihr zweites Jugendbuch bei Hanser. Jenny Jägerfeld ist weit gereist, hat zwei Kinder und besitzt den gelben Gürtel in Karate.

Jenny Jägerfeld, 1974 geboren, arbeitet als Journalistin und Lektorin für Fachbücher und Zeitschriften, sowie hauptberuflich als Psychologin in Stockholm.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.