E-Book, Deutsch, 480 Seiten
Jaspert Fischer, Perle, Walrosszahn - Das Meer im Mittelalter
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8437-3561-2
Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein neuer Blick auf das Mittelalter
E-Book, Deutsch, 480 Seiten
ISBN: 978-3-8437-3561-2
Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Prof. Dr. Nikolas Jaspert, geboren 1962 in Melbourne, lehrt Mittelalterliche Geschichte an der Universität Heidelberg. Er war mehrere Jahre Präsident der Société Internationale des Historiens de la Méditerranée und ist Mitherausgeber der Zeitschrift für Historische Forschung sowie der Reihen Mittelmeerstudien und Geschichte und Kultur der Iberischen Welt und verschiedener anderer wissenschaftlicher Zeitschriften. Zahlreiche Publikationen zur Geschichte der Kreuzzüge, der Ritterorden, zu christlich-muslimischen Beziehungen und zur Geschichte des Mittelmeeres.
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1. Das Meer verstehen
Die meisten Menschen des Mittelalters kannten das Meer nicht aus eigener, täglicher Anschauung. Es war vielmehr ein Raum ihrer Vorstellungswelt, durch Erzählungen, Bilder und Texte geschaffen. Die Grundlagen dieser Vorstellungen vom Meer entstammten teils dem religiösen Bereich, teils volkstümlichen Geschichten, teils der Gelehrtenkultur. Während mündlich weitergegebene Schilderungen größtenteils untergegangen sind, vermitteln die Kunst und mehr noch die schriftliche Überlieferung Einblicke in die Formen, wie mittelalterliche Menschen das Meer verstehen konnten.1 Dass diese Vorstellungen sich je nach Bildungshintergrund, sozialer Gruppenzugehörigkeit und Geografie unterschieden haben dürften, liegt auf der Hand.
Religiöse Deutungen
Die drei abrahamitischen Religionen – Judentum, Christentum und Islam – beruhen wesentlich auf kanonischen Texten, in denen das Meer keine prominente Rolle spielt. Doch an einigen wenigen Stellen gehen sie auf die Gewässer und ihre Bewohner ein. Nicht nur das: Diese Texte tragen implizit oder explizit Wertungen marinen Lebens in sich, die sich als folgenreich erweisen sollten. Sie reichen von grundsätzlicher Ablehnung bis zu großer Akzeptanz, von maximaler Ferne zu unmittelbarer Nähe – Meereslebewesen können in diesen Texten das Eigene symbolisieren, aber ebenso das radikal Andere, ihre Bedeutungen sind ambivalent.2
In der Hebräischen Bibel, die aus christlicher Sicht als das Alte Testament bezeichnet wird, spielen die Fische des Meeres keine besonders bedeutende Rolle.3 Dies kann nicht wirklich überraschen, denn das Judentum war in seinen Ursprüngen weniger maritim als terrestrisch geprägt. Bezeichnenderweise sind es keine Juden, sondern die andersgläubigen Einwohner der Hafenstadt Tyrus, die nach dem Buch Nehemiah (13:16) am Sabbat Fische von der Küste ins Binnenland, nach Judäa und Jerusalem, bringen. Während im Alten Testament gelegentlich der Fang von Süßwasserfischen erwähnt wird (Ez 26:5; 47:7–11), werden die Tiere des tiefen Meeres in den Schriften als tendenziell bedrohlich dargestellt. Erinnert sei an den furchterregenden Leviathan aus den Psalmen (104:26 und 74:14) und dem Buch Hiob (40–41), der in der Bibelauslegung im Laufe der Jahrhunderte zunehmend als Meeresungeheuer interpretiert wurde; oder an den »großen Fisch«, der den Propheten Jona verschlingt und ihn drei Tage in seinen Eingeweiden trägt (Jona 1–2).4
Selbst Süßwasserfische können nach Ausweis der Hebräischen Bibel gefährlich sein, wie die Geschichte von Tobias (Tob 6:1–5) zeigt, der an den Ufern des Tigris von einem aggressiven Fisch bedroht wird. Doch tötet er ihn und nutzt dessen Leber, Herz und Galle auf Anraten seines Begleiters, des Erzengels Rafael, um mit ihnen Dämonen zu vertreiben, dem Tod zu entgehen und letztlich Sara als Frau zu gewinnen (Tob 6–8). Die Skepsis gegenüber dem Meer und seinen Bewohnern wurde im Alten Testament auch bildhaft aufgegriffen. So etwa in Habakuk 1:14–17, wo das Böse oder gar der Teufel als unheilvoller Menschenangler konstruiert wird (»Sie ziehen alles mit der Angel heraus und fangen es mit ihrem Netz und sammeln es mit ihrem Garn. Darüber freuen sie sich und sind fröhlich«). Und natürlich hielt die Geschichte der Sintflut das Bewusstsein für die potenzielle Zerstörung ganzer Gesellschaften oder sogar der gesamten Menschheit wach.
Am deutlichsten wird der Vorbehalt gegenüber gewissen marinen Lebewesen im Judentum an den Speisevorschriften erkennbar, die unreine von reinen Speisen abgrenzen und dabei auch auf Meerestiere eingehen. Nach Levitikus 11:9–12 und Deuteronomium 14:9–10 dürfen schuppen- und flossenlose Meerestiere nicht gegessen werden: Damit ist Menschen jüdischen Glaubens unter anderem der Verzehr von Delfinen, Aalen, Meeresfrüchten, Kopffüßern (etwa Tintenfischen), Krebsen usw. verboten.
Im Neuen Testament des Christentums wurden ältere Ängste vor den Gefahren des Wassers wachgehalten: Auf dem See Genezareth bedroht ein Sturm das Leben der Jünger, bis Christus ihn auf wundersame Weise besänftigt (Jo 6:16–21; Mt 8:23–27). Auch Kapitel 27 der Apostelgeschichte erzählt von einem fürchterlichen Sturm, der im östlichen Mittelmeer den als Gefangenen nach Rom fahrenden heiligen Paulus und seine 270 Mitinsassen überkommt. Die Seeleute werfen die Ladung über Bord, um nicht unterzugehen; dank Gottes Hilfe bleiben aber alle Passagiere (wie von Paulus prophezeit) am Leben.5
Bei der Lektüre des Neuen Testaments begegnet man auch den Schätzen des Wassers. Es fällt nämlich auf, dass Fische – insbesondere Süßwasserfische – und Fischfang in den Evangelien eine herausgehobene Rolle spielen (Abb. 1). Nicht weniger als vier Jünger Christi – Simon Petrus, Andreas, Jakobus (der Sohn des Zebedäus) und Johannes – lebten als Fischer am See Genezareth (Mt 4:18–22; Mk 1:16–20), und dieses Binnengewässer ist auch der Ort, an dem Christus Wunder gewirkt und den Fischern reichen Fang beschert haben soll (Lk 5:1–11; Jo 21:3–14). Ganz in dieses Bild passt es, dass verschiedentlich die Evangelien vom gemeinsamen Fischverzehr der Apostel und ihren frühen Begleitern erzählen (Lk 24:42; Jo 21:9; 21:13; Mk 6:38).
Die frühen Christen ergänzten dieses Erbe um weitere Zuschreibungen, etwa indem sie eine folgenreiche zeichenhafte Verbindung der neuen Glaubensgemeinschaft und ihres Heilands mit den Tieren des Meeres schufen:6 Christus selbst wurde nämlich mit dem Wort = Fisch belegt, weil sich die fünf griechischen Buchstaben des Wortes als Anfangsbuchstaben der Formel »Jesus Christus, Sohn Gottes, Erlöser« ( ) lesen lassen. Dieses Akronym des Fisches wurde im frühen Christentum sowohl in sprachlicher Form als auch bildlich verwendet. Es findet sich auf Grabstelen, aber auch in vielen anderen frühchristlichen Zeugnissen.7 Ob es in Zeiten der Verfolgung als Erkennungsmerkmal unter Glaubensbrüdern und -schwestern, als ein Geheimzeichen diente, ist ungewiss. Aber in den ersten vier Jahrhunderten des Christentums symbolisierte der Fisch zweifellos Christus, bevor andere Tiere, insbesondere das Lamm, diese Funktion übernahmen.8
Nach dem Siegeszug des Christentums wurde die »ichthyologische« um allegorische Zuschreibung erweitert: Christus wurde in frühchristlichen Werken selbst bildhaft mit einem Fisch verglichen, weil er ohne Sünde geblieben sei – wie ein Meerestier trotz der Tiefe des Wassers am Leben bleibe.9 Noch bekannter ist der aus Matthäus 4:19 (»Folgt mir nach; ich will euch zu Menschenfischern machen!«) überlieferte Vergleich Jesu mit einem Fischer: Wie dieser mit seinem Netz die Meerestiere fange, so gewönnen der Heiland und seine Jünger die Seelen der Menschen. Das allegorische Denken erlaubte solch scheinbare Widersprüche: Christus war zugleich Fisch und Fischer, Lamm und guter Hirte.
Ganz aus dem Alltag ist auch das Bild bei Matthäus 13:7–48, wo es heißt, dass im Himmelreich alle wie in einem Netz versammelt würden, um dann die Bösen und die Gerechten zu scheiden wie genießbare und ungenießbare Fische. Texte und bildliche Darstellungen des Mittelalters feierten Christus folglich als »Seelenfischer«.10 Das Meer war auch für die Ausbreitung der neuen Glaubensgemeinschaft relevant, denn diese vollzog sich ganz wesentlich über das Meer. Die Apostel und ihre Anhänger nutzten die Konnektivität des Mittelmeeres für ihre Reisen entlang der Küsten und von Insel zu Insel.11 Die Geschichte der frühen Christen erlangt daher ein ganz eigenes Gepräge, wenn man sie aus der Perspektive des Meeres betrachtet.
Die dritte abrahamitische Glaubenstradition, der Islam, hatte wie das Juden- und Christentum ihren Ursprung nicht in einer Küstenregion, sondern im Binnenland des arabischen Hidschaz. Doch werden die Lebewesen des Meeres im Koran durchaus erwähnt, so in Sure 5:96, wo ausdrücklich der Fang und der Genuss von Fisch gutgeheißen werden (»Erlaubt sind euch die Jagdtiere des Meeres und [all] das Essbare aus ihm als Nießbrauch für euch und für die Reisenden«), denn nach Sure 16:14 habe Allah den Menschen »das Meer dienstbar gemacht […], damit ihr frisches Fleisch daraus esst und Schmuck aus ihm hervorholt«.12 Zwar ist auch im Koran verschiedentlich von den Gefahren des Meeres die Rede (Sure 10:22–23; 17:67–69; 24:40; 44:24), und auch ein Hinweis auf das Abenteuer des Jona findet sich in ihm (Sure 37:142).13 Doch wird hier viel häufiger als im Alten und Neuen Testament auf den Seehandel und die Reichtümer verwiesen, welche auf dem Meer zu erlangen sind (vgl. etwa Sure 14:32; 16:14; 18:79; 22:65; 31:31; 42:32; 45:12; 55:29).14 Der Siegeszug des Islam seit dem 7. Jahrhundert führte dazu, dass auch viele Küstengesellschaften des Mittelmeerraums die neue Lehre annahmen und das Meer bzw. seine Lebewesen noch mehr zu einem festen Bestandteil der islamischen Welt wurden.15
Neben dem Koran ist die Sunna des Propheten die bedeutendste Grundlage des islamischen Rechts....