Jeffries Spiel der Herzen
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8025-9034-4
Verlag: LYX
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, Band 02, 400 Seiten
Reihe: Hellions
ISBN: 978-3-8025-9034-4
Verlag: LYX
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Als notorischer Spieler kann Lord Jarret Sharpe keiner Herausforderung widerstehen. Schon gar nicht einer, die so entzückend ist wie die hübsche Annabel Lake. Doch als die beiden eine gewagte Wette eingehen, weiß Jarret noch nicht, was in Wahrheit auf dem Spiel steht: sein Herz.
Sabrina Jeffries ist in den USA geboren und in Thailand aufgewachsen. Sie ist begeisterte Jane-Austen-Leserin und besitzt einen Doktortitel in englischer Literatur. Mit ihren Liebesromanen gelangt sie regelmäßig auf die amerikanische Bestsellerliste.
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Prolog
Eton College
1806
Der dreizehnjährige Lord Jarret Sharpe wollte die Nacht nicht in der Hölle verbringen. Er blickte aus dem Kutschenfenster hinauf zum Mond und erschauderte. Es musste fast acht Uhr abends sein – sie würden also in Eton eintreffen, wenn die Jungen in den Schlafsaal eingeschlossen wurden. Und dann würde die Hölle losgehen.
Er zupfte beklommen an seiner schwarzen Schleife herum und schaute verstohlen zu seiner Großmutter. Wie konnte er sie dazu bewegen, ihre Meinung zu ändern? Sechs Monate zuvor hatte sie ihn und seine Geschwister zu sich nach London geholt – weg von Halstead Hall, dem schönsten Ort auf der ganzen Welt. Nun wollte sie ihn nicht mehr in die Brauerei mitnehmen und zwang ihn, auf dieses schreckliche Internat zu gehen. Und das alles wegen der Umstände, unter denen seine Eltern gestorben waren.
Eine Eiseskälte hatte von seiner Seele Besitz ergriffen, und er hatte das Gefühl, dass auch in ihm etwas gestorben war. Er konnte nicht essen, er konnte nicht schlafen … er konnte nicht einmal weinen.
Was war er nur für ein Unmensch? Selbst sein ältester Bruder Oliver hatte bei der Beerdigung geweint. Jarret wollte weinen, aber die Tränen kamen nicht. Nicht einmal nachts, wenn ihn Albträume von seinem im Sarg liegenden Vater quälten.
Er hatte in der Zeitung gelesen, dass die Kugel »das Gesicht Seiner Lordschaft zerschmettert« hatte, und dieses Bild ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Schlimm genug, dass ihn der Anblick seiner Mutter immer noch verfolgte, wie sie steif und bleich in einem weißen Kleid, das ihre Schusswunde verdeckte, in ihrem Sarg gelegen hatte, doch jedes Mal, wenn er daran dachte, was es zu bedeuten hatte, dass der Sarg seines Vaters geschlossen gewesen war, konnte er kaum noch atmen.
»Sag Oliver, er soll mir einmal in der Woche schreiben, hörst du?«, sagte seine Großmutter.
»Ja, Großmutter.« Er verspürte einen stechenden Schmerz in der Brust. Insgeheim hatte er immer geglaubt, er sei ihr Lieblingsenkel, aber das war nun vorbei.
»Und du natürlich auch«, fügte sie etwas sanfter hinzu.
»Ich will nicht ins Internat!«, platzte es aus ihm heraus. Als sie die Augenbrauen hochzog, schob er rasch nach: »Ich möchte zu Hause bleiben. Ich möchte jeden Tag mit dir in die Brauerei gehen.«
»Jarret, mein Junge –«
»Nein, hör mir bitte zu!« Er knetete seine schwarzen Trauerhandschuhe, die er auf dem Schoß liegen hatte. »Großvater sagte, ich werde die Brauerei erben, und ich weiß schon über alles Bescheid. Ich weiß, wie die Maische hergestellt wird und wie lange die Gerste darren muss. Und ich bin gut in Mathematik – das hast du selbst gesagt. Ich könnte die Buchführung erlernen.«
»Es tut mir leid, Junge, aber das wäre unklug. Es war ein Fehler, dass ich und dein Großvater dein Interesse an der Brauerei gefördert haben. Deine Mutter wollte etwas anderes für dich, und sie hatte recht. Sie hat genau deshalb einen Marquess geheiratet, weil sie sich etwas Besseres für ihre Kinder gewünscht hat als die Arbeit in einer Brauerei.«
»Aber du arbeitest doch in der Brauerei!«, protestierte er.
»Weil ich es muss. Weil es die wichtigste Einnahmequelle für euren Unterhalt ist, bis der Nachlass eurer Eltern geregelt ist.«
»Ich könnte doch helfen!« Er wollte seiner Familie unbedingt dienlich sein. In der Brauerei zu arbeiten war viel besser als zu lernen, wer den Nil überquerte und wie man lateinische Verben konjugierte – wozu war das schon nutze?
»Du kannst viel mehr helfen, indem du einen anständigen Beruf ergreifst, wie man ihn nur durch Eton bekommt. Du bist zu Größerem geboren – du könntest Rechtsanwalt werden oder Bischof. Es wäre mir sogar recht, wenn du zum Militär gehst oder zur Marine, wenn es das ist, was du willst.«
»Ich will doch kein Soldat werden!«, sagte er entsetzt. Schon bei der Vorstellung, eine Pistole in die Hand zu nehmen, drehte sich ihm der Magen um. Seine Mutter hatte seinen Vater versehentlich erschossen. Dann hatte sie die Waffe gegen sich gerichtet.
Diesen Teil der Geschichte fand er merkwürdig. Großmutter hatte den Zeitungen gesagt, Mutter habe sich aus Verzweiflung darüber, ihren Mann getötet zu haben, erschossen. Das konnte er nicht verstehen, aber Großmutter hatte alle angewiesen, nicht darüber zu sprechen, ja nicht einmal Fragen zu stellen, und er hielt sich daran.
Der Gedanke, dass seine Mutter sich erschossen hatte, schmerzte ihn sehr. Wie hatte sie ihn und seine vier Geschwister nur alleinlassen können? Wäre sie noch bei ihnen, hätte sie ihm vielleicht erlaubt, zu Hause Privatunterricht zu nehmen, und er hätte weiter mit Großmutter in die Brauerei gehen können.
Seine Kehle war wie zugeschnürt. Es war einfach ungerecht!
»Na gut, dann wirst du eben kein Soldat«, sagte seine Großmutter nachsichtig. »Vielleicht wirst du ja Anwalt. Mit deinem scharfen Verstand gäbst du einen hervorragenden Anwalt ab.«
»Ich will kein Anwalt werden! Ich will mit dir die Brauerei leiten!« Sein Blick verfinsterte sich.
In der Brauerei warf ihm niemand Gemeinheiten an den Kopf. Die Brauer behandelten ihn wie einen Mann. Sie würden seine Mutter nie »die Mörderin von Halstead Hall« nennen. Sie würden niemals solche abscheulichen Lügengeschichten über Oliver erzählen.
Als er merkte, dass die Großmutter ihn beobachtete, setzte er rasch wieder eine freundlichere Miene auf.
»Hat es etwas mit den Raufereien zu tun, in die du in der Schule verwickelt wurdest?«, fragte die Großmutter besorgt. »Der Direktor sagte, er musste dich fast jede Woche bestrafen, weil du dich geprügelt hast. Wie konnte es dazu kommen?«
»Weiß nicht«, sagte er leise.
Ein gequälter Ausdruck huschte über ihr Gesicht. »Wenn die anderen Jungen hässliche Dinge über deine Eltern sagen, kann ich mit dem Direktor sprechen …«
»Nein, verdammt!«, rief er voller Panik, weil sie das Problem so schnell erkannt hatte. Sie durfte auf keinen Fall mit dem Direktor sprechen – das machte alles nur noch schlimmer!
»Du sollst doch nicht fluchen! Komm, du kannst es mir ruhig sagen. Willst du deshalb nicht zurück in die Schule?«
Er schürzte die Lippen. »Ich habe einfach keine Lust zu lernen, das ist alles.«
Sie sah ihn prüfend an. »Dann bist du also faul?«
Er antwortete nicht. Er ließ sich lieber einen Faulpelz schimpfen als eine Petze.
»Nun, nicht lernen zu wollen ist kein Grund, zu Hause zu bleiben«, sagte sie seufzend. »Jungen lernen nie gern. Aber es ist gut für euch. Wenn du dich anstrengst und hart arbeitest, wirst du es im Leben zu etwas bringen. Und das willst du doch, oder?«
»Ja, Großmutter«, murmelte er.
»Dann wirst du es auch schaffen.« Sie schaute aus dem Kutschenfenster. »Ah, wir sind da!«
Jarret wollte seine Großmutter anflehen, ihn wieder mitzunehmen, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken. Wenn sie einmal etwas beschlossen hatte, konnte sie ohnehin niemand mehr umstimmen. Und sie wollte ihn nicht mehr in der Brauerei haben. Keiner wollte ihn mehr haben, nirgendwo.
Sie stiegen aus der Kutsche und gingen zum Büro des Direktors. Während seine Großmutter ihn anmeldete, trug ein Diener seinen Koffer nach oben in den Schlafsaal.
»Versprich mir, dass du dich nicht mehr prügelst«, sagte seine Großmutter.
»Ich verspreche es«, entgegnete er matt. Was spielte es schon für eine Rolle, ob er log? Spielte überhaupt noch irgendetwas eine Rolle?
»Braver Junge! Oliver kommt morgen. Du wirst dich besser fühlen, wenn er hier ist.«
Er verkniff sich eine scharfe Erwiderung. Oliver versuchte zwar, auf ihn aufzupassen, aber er konnte nicht überall gleichzeitig sein. Außerdem war sein Bruder sechzehn, und da verbrachte er den Großteil seiner Zeit damit, vor sich hinzubrüten und mit seinen älteren Freunden zu trinken. Und an diesem Abend war er gar nicht da.
Jarret erschauderte abermals.
»Und nun gib deiner Großmutter einen Abschiedskuss«, sagte sie sanft.
Gehorsam tat er wie geheißen, bevor er die Treppe hinauftrottete. Er hatte den Schlafsaal gerade betreten und hörte, wie die Tür hinter ihm abgeschlossen wurde, als John Platt, dieses Ekel, auf ihn zugeschlendert kam, um sein Gepäck zu durchsuchen.
»Na, was hast du uns heute mitgebracht, Babyface?«
Jarret hasste den Spitznamen, den Platt und seine Freunde ihm wegen seines unbehaarten Kinns und seiner geringen Körpergröße gegeben hatten, aber der siebzehnjährige Platt war mehr als einen Kopf größer und viel kräftiger als er.
Platt fand den sorgfältig in Papier eingepackten Apfelkuchen, den die Großmutter ihm mitgegeben hatte, und nahm einen großen Bissen davon. Jarret versuchte, Ruhe zu bewahren, und biss die Zähne zusammen.
»Was? Willst du mir etwa keine reinhauen?«, fragte Platt und hielt ihm den angebissenen Kuchen vor die Nase.
Was würde das schon nützen? Platt und seine Freunde würden ihn verprügeln, und er würde nur erneut Schwierigkeiten bekommen.
Immer, wenn ihm etwas wichtig war, wurde es ihm weggenommen. Und wenn er sich anmerken ließ, dass ihm etwas daran lag, machte er alles nur noch schlimmer.
»Ich hasse Apfelkuchen«, log er. »Unser Koch gibt immer Hundepisse hinein.«
Zu seiner Genugtuung sah Platt den Kuchen skeptisch an und warf ihn einem seiner blöden Freunde zu. Hoffentlich...