E-Book, Deutsch, 308 Seiten
Jentsch Die Forschergruppe
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7481-8790-5
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 308 Seiten
ISBN: 978-3-7481-8790-5
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Fabian Feuerbach wagt in vorgerücktem Alter das Experiment seines Lebens: er versammelt sieben renommierte europäische Forscher in einem Bergdorf in Norditalien, um ein Forschungsprojekt zu schmieden, das extreme Ereignisse in Natur und Gesellschaft entschlüsseln und vorherzusagen will. Die Forscher einigen sich nach kontroverser Erörterung auf ein veritables Forschungsprojekt und reichen es zur Förderung ein... Volker Jentsch erzählt von den verschlungenen Wegen seines Protagonisten durch die Forschungslandschaft, diskutiert Fragen von Vorhersage und Alarmierung, Macht und Missbrauch der Daten, nützlicher und unnützer Forschung, das Problem des Weltklimas und der Erneuerung der Demokratie -- mit kritischem Blick in den Forschungsbetrieb, wo Zeitverträge die Regel sind, Klientelismus und strikte Hierarchie herrschen; deren Dirigenten, nicht anders als in anderen Bereichen der Gesellschaft, von Macht, Ehrgeiz und Eitelkeit angetrieben werden. Die Forschergruppe: Roman und Sachbuch, beides in einem.
Volker Jentsch studierte Physik und Geophysik. Er arbeitete an zahlreichen Universitäten und Forschungsinstituten im In- und Ausland und beschäftigte sich mit mathematisch-physikalischen Modellen in der Weltraum- und Klimaforschung. Am Ende der Reise landete er in der Bonner Universität. Dort gründete und gestaltete er, zusammen mit Wissenschaftlern aus verschiedenen Fachrichtungen, das Interdisziplinäre Zentrum für komplexe Systeme. Heute befasst er sich, neben anderem, mit den Eigenschaften und Gemeinsamkeiten extremer Ereignisse, indem er die objektive mit der subjektiven Betrachtung konfrontiert.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Der Freund
Feuerbach liebäugelt mit dem Studium der Ökonomie. Sein Freund Kirchner bringt ihn dazu, durchzuhalten und ein leidlich brauchbarer Physiker zu werden. Christoph Kirchner wurde sein Freund, und damit wandten sich die Dinge zum Besseren. Er gab Feuerbachs wissenschaftlicher Zukunft so etwas wie eine Perspektive. Mit ihm wuchs die Hoffnung, eine tragfähige Einstellung zum Beruf zu finden. Auch Kirchner hatte Physik studiert. Er war viele Jahre älter als Feuerbach, außerdem behaust, hatte Frau und Kinder und beherrschte die theoretischen wie praktischen Aspekte der Physik gleichermaßen gut. Feuerbach bewunderte ihn darum, denn es war unübersehbar, dass diese Begabung, die mehr als nur Vielseitigkeit ausdrückte, eine seltene war, die unter dem immer mächtiger werdenden Gebot der Spezialisierung unterzugehen drohte. Kirchner hatte sich, sozusagen nebenberuflich, umfassende Kenntnisse über elektronische Großrechner angeeignet, die damals sehr unhandlich waren, nicht mit Händen, sondern mit Kränen verladen und platziert werden mussten, folglich viel Platz benötigten, ganze Etagen füllten und nur aus den damals reichlich fließenden Mitteln der staatlichen Forschungsförderung finanziert werden konnten. Die Programmierung der Rechner war keine einfache Angelegenheit, der Betrieb alles andere als fehlerfrei, sowohl Hardwie Software hatten Schwächen und trieben die Benutzer an den Rand der Verzweiflung. Kirchner meisterte die Fehler und half Operateuren wie Programmierern, ihre Denkfehler zu identifizieren und zu korrigieren. Diese Ungetüme der Elektronik konnten geschwind rechnen, aber sie waren allesamt langsamer als ein billiges Notebook von heute. Kirchners eigentliche Neigung galt gleichwohl etwas ganz anderem: ihn interessierten die vielfältigen Interaktionen innerhalb der Gesellschaft. Seine fachlichen Kenntnisse und Fähigkeiten wurden von den Kollegen uneingeschränkt anerkannt, auf sein Interesse an Menschen und sozialen Fragen aber reagierten diese mit Unverständnis. Kirchner machte das, was Feuerbach im Sinn hatte. Ihn beschäftigte, was auch Feuerbach beschäftigte: wie kann denjenigen Geltung und Gehör verschafft werden, die innovative Ideen und Vorstellungen haben, aber nicht die Gelegenheit erhalten, diese mitzuteilen und auszuführen. Sicher hatte er dabei auch sich selbst im Blick. Nichts geschieht ohne eigenes Interesse, Eigennutz versteckt sich hinter Großmut, aber manchmal, wenn auch eher selten, halten die beiden die Balance, und dann gibt es nichts zu meckern, dann ist man bereit, das eine um des anderen zuliebe in Kauf zu nehmen. Sie kamen oft zusammen und berieten, was zu machen sei. Kirchner ermutigte Feuerbach, in der Wissenschaft nach einer Aufgabe zu suchen. Kirchner unterfütterte solche Diskussionen mit einem längeren Vortrag, den er nur unterbrach, um vom bereitgestellten Bier zu nehmen. Er trank schnell, was ihn alsbald in eine entspannte Position versetzte. Nach der sechsten Flasche war Schluss; dann legte er sich angezogen aber ohne Strümpfe auf sein Sofa und war im Nu eingeschlafen. Kirchners Rückzug auf das Sofa und das unmittelbar darauf folgende Schnarchen bedeuteten das unwiderrufliche Ende der Diskussion, und Feuerbach kam nicht umhin, sich mit seinen unausgesprochenen Gedanken wieder von dannen zu machen. Kirchner beschwor ihn, bei der Sache zu bleiben. „Wenn du in der Wissenschaft arbeitest und dich nicht ganz hinten anstellen willst, dann musst du mehr tun. Vergiss alles, worüber wir so gern diskutieren. Vergiss die politische Ökonomie, grüble nicht über Lebensweisen und Liebesbeziehungen. Das hilft nicht, schadet dir nur. Dein Kopf muss frei sein. Das ist keine Phrase, das ist Lebenswirklichkeit. Du musst dich konsequent fokussieren. Du musst Spezialist werden. Spezialist auf einem umworbenen Gebiet. Nur als solcher erwirbst du dir Anerkennung. Alles andere, was darüber hinausgeht, diesseits oder jenseits, drüber oder drunter, vor allem was abseits liegt, das kannst du machen, wenn du eine Stelle hast oder Professor geworden bist. Dann kannst du tun und lassen, was dir in den Sinn kommt. Dann kann dir niemand in die Suppe spucken“, sagte Christoph. Und er erinnerte an die Freiheit der Forschung und Lehre, die dann auch Feuerbach zugutekäme. Im Großen und Ganzen entsprachen Kirchners Empfehlungen dem, was seine Freundin Miriam mit einfachen Worten, kurz und bündig in dem Satz zusammengefasst hatte: nimm dir ein Beispiel an den anderen. Feuerbach erwiderte bekümmert: „Ich glaube, das alles trifft nicht meine Situation. Dir kann ich es ja sagen, Christoph, auch wenn mir es schwerfällt, das einzugestehen. Tief in meinem Innern fühle ich, dass ich als Wissenschaftler ungeeignet bin. Mir fehlt die Genialität, nun gut, das ginge noch, nicht alle können das Kombinationsvermögen eines Carl Friedrich Gauß oder den Erfindungsgeist eines Thomas Edison haben, um nur zwei zu nennen. Aber Talent, zumindest Talent muss doch vorhanden sein! Und davon, so scheint es mir, habe ich nicht genug. Auf Anhieb müsste mir die zündende Idee kommen, ich müsste sofort das Wesentliche erfassen, müsste mit Lust und Freude an die Aufgaben gehen und in kurzer Zeit Lösungen präsentieren und aufschreiben können. Und die Lösungen müssten Widerhall finden, von den Experten anerkannt und zitiert werden. Alles das müsste erfüllt sein, um eine Position in der wissenschaftlichen Welt zu erringen. Das schaffe ich aus den genannten Gründen nie und nimmer. Und deshalb bin ich der Auffassung, dass ich etwas anderes machen muss, wo mein eigentliches Talent, über das wohl auch ich verfüge, das ich nur noch nicht entdeckt habe, zum Zuge kommen kann.“ „Also geht es darum, deine Talente zu entdecken. Das kann eine Zeit dauern. Ich bin nicht sicher, ob du in einem anderen Bereich glücklicher und erfolgreicher sein würdest. Ich halte dich nicht für unbegabt, was das physikalische Denken betrifft; aber gewiss, es gibt größere Talente, gegen die zu bestehen nicht leicht sein wird“, sinnierte Christoph. Darauf Fabian: „Was soll ich tun, bester Freund? Das will ich wissen, das ist mein Anliegen.“ „Bevor du alles hinwirfst, mach das, was ich gerade gesagt habe. Setz dich ein, und zwar nicht mit halber, sondern ganzer Kraft. Und sei sicher, es lässt sich, wenn es zu mehr nicht reicht, auch in der Mittelmäßigkeit gut leben, ich schätze, neunzig Prozent der Professoren sind gute bis sehr gute Detailarbeiter, aber nur mäßig begabt. Auf jeden Fall von Genialität keine Spur. Auch diese Mittelmäßigen machen ihre Veröffentlichungen und besuchen Tagungen, halten ihre Namen bekannt und haben ihr Fach soweit verstanden, dass sie es an die Studenten, weitgehend fehlerfrei, weitergeben können.“ „Wenn nur zehn Prozent bleiben, die wirklich talentiert sind, kommen wir immerhin noch auf viertausend Leute in Deutschland, das sind zu viele“, sagte Feuerbach. „Ich glaube, wir müssen den Prozentsatz nochmals verkleinern.“ „Dann sind es eben nur ein Prozent, in der Tat, du hast Recht, mehr als vierhundert Forscher mit genialen Eigenschaften werden es sicher nicht sein. Selbst das wäre eine stattliche Anzahl. Egal, du verstehst, was ich gemeint habe?“ fragte Kirchner besorgt. „Du willst mir Mittelmäßigkeit schmackhaft machen. Um alles in der Welt, was ist in dich gefahren?“ empörte sich Feuerbach. „Ich habe nicht neun Jahre in einem der besten Gymnasien unserer Republik verbracht, noch habe ich dafür studiert, doktoriert und habilitiert, um als Buchhalter der Forschung, sozusagen, meinen Dienst zu absolvieren.“ „Nun hör mal zu, mein kleiner Junge. Es ist an mir zu fragen, was in dich gefahren ist. Komm zurück auf den Boden, wo du hingehörst, und sei, wenn es zu mehr nicht reicht, zufrieden, wenn du in der Mittelmäßigkeit deinen Platz findest.“ Dreißig Jahre später. Es ging um den verwegenen Versuch deutscher Wissenschaftspolitiker, mit den vielfach ausgezeichneten amerikanischen und englischen Universitäten gleichzuziehen. Sie drehten das ganz große Rad und riefen Milliardenschwere Exzellenzinitiativen in der Forschung aus. Sie spekulierten darauf, ihre Wissenschaftler mit Hilfe großzügiger finanzieller Förderung auf breiter Front in die Sphären der Nobelpreisgewinner zu katapultieren. Aber die kamen weiterhin aus den USA, mitunter auch aus Großbritannien und Japan. Trotz des großen Geldes und privilegierter Arbeitsbedingungen blieben die Nobelpreise für deutsche Forscher die große Ausnahme. Man redete unablässig von Exzellenz: allen voran die Minister, dahinter drängelten sich Politiker, Wissenschaftsmanager, Rektoren und Präsidenten. Auffallend schweigsam blieben die Professoren, um die sich die Exzellenz doch ursächlich drehte. Überraschenderweise schienen sie alle nicht zu merken, dass es sich um einen Pleonasmus handelte, denn Forschung ist per Definitionem exzellent, andernfalls ist es keine Forschung, sondern bestenfalls bloße Wiederholung oder die detaillierte Ausarbeitung von im Grunde bereits Bekanntem. „Das Wichtigste ist und bleibt“, beruhigte Kirchner, „dass du dir eine Position erarbeitest. Ich...