E-Book, Deutsch, 244 Seiten
Jentsch Die Verabredungen der fünf Doktorandinnen
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7693-5996-1
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 244 Seiten
ISBN: 978-3-7693-5996-1
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie sehen fünf Doktorandinnen die Welt von heute? Sie treffen sich in der Stadt, im Gebirge, am Polarkreis und auf der Felseninsel, um ungestört von der Welt, den Zustand der Welt zu ergründen, mit dem Ziel, ihre eigene Sicht zu finden.
Volker Jentsch studierte und habilitierte in Physik und Geophysik. Er arbeitete an zahlreichen Universitäten und Forschungsinstituten im In- und Ausland und entwickelte mathematische Modellen für die Weltraumund Klimaforschung. Am Ende der Reise landete er in der Bonner Universität. Dort gründete und gestaltete er, zusammen mit Wissenschaftlern aus verschiedenen Fachrichtungen, das Interdisziplinäre Zentrum für komplexe Systeme. Heute befasst er sich, neben anderem, mit den Unwägbarkeiten, die sich in einer digitalisierten und militarisierten Welt ankündigen. Mehr unter https://www.volkerjentsch.de
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Im Gebirge
„Hurra, wir sind angekommen!“ Tosca hat im Zwielicht der untergegangenen Sonne das Haus als Erste erkannt. Das Thermometer zeigt zwei Grad unter Null, der Himmel ist klar, der Wind weht schwach aus Nordwest. Der Schnee liegt nicht höher als zwanzig Zentimeter. Es ist im Vergleich zu früheren Zeiten ein milder, schneearmer Januar. Er ist um zehn Grad wärmer, als der langjährige Durchschnitt angibt. Das Haus steht auf einem Plateau in zweitausendzweihundert Meter Höhe. Gegen Osten und Westen ist es von steil ansteigenden Felsen abgeschirmt. Im Norden, weit weg, beeindrucken die berühmten Gipfel der Alpen. Gen Süden verliert sich der Blick im Dunst der Ebene. Ringsherum stehen vereinzelt Lärchen, unter den Bäumen, gebrochen vom Wind, liegen große und kleine, von Luft und Sonne getrocknete Äste. An diesem Ort fernab von menschlicher Behausung, haben sich fünf junge Frauen eingefunden. Sie sind auf dünner Schneedecke, an den Füßen ihre Ski, vor zwei Tagen aufgestiegen, um für etwa eine Woche Sonne, Schnee und Sterne auf sich wirken zu lassen. Die Frauen haben sich vor Jahren in einem Studenten-Wohnheim kennengelernt und spontan aneinander Gefallen gefunden. Es handelt sich um Genia aus Russland, Tosca aus Italien, Berel aus Schweden und Venja aus Israel. Sie studieren seit vielen Jahren in Deutschland und sprechen inzwischen Deutsch fast wie ihre eigene Sprache. Die fünfte kommt aus Deutschland und heißt Sonja. Alle arbeiten an ihrer Doktorarbeit. Genia ist mit Modellen zu Konflikt und Versöhnung beschäftigt, Tosca entwirft Strategien der Wiederverwertung, Berel ist in die Analyse von Repräsentation und Demokratie vertieft, Sonja brütet über Postwachstums-Strategien in Wirtschaft und Gesellschaft, und Venja testet die Wirksamkeit von Vorsorge und Nachsorge in der Medizin. Die Natur hat jede der Fünf mit einer sehr eigenen Anmut bedacht. Sie sind sich dessen bewusst und dankbar dafür. Sie sind überzeugt, dass dieses Geschenk sich im Innern wie im Äußeren, also etwa in Verhalten, Ausdruck, Eigenheiten und Erscheinung spiegeln muss. Sie kleiden sich körperbetont und tragen die Haare, ob hell oder dunkel, nicht kurz, sondern halblang, gelegentlich auch lang. Ihre Herberge ist ein Blockhaus aus Holz, eher eine Hütte als Haus. Es ist aus Lärchenholz gefügt und an den Stellen, wo aufgrund von Unregelmäßigkeiten der Bohlen Lücken nicht zu vermeiden waren, mit Moos ausgepolstert. Das Dach ist nach traditioneller Weise mit Schindeln belegt. Diese circa ein Zentimeter starken Brettchen sind aus dem Holz der Lärche gespalten und müssen jedes Jahr von Nadeln und Moos befreit werden, um dauerhaft ihre Funktion erfüllen zu können, also Schnee, Regen, Hagel und Blitze vom Innern abzuhalten. Die Hütte ist von einem Zaun umgeben; auch dieser besteht aus Lärchenholz. Die Absicht war, so scheint es, sie gegen die Umgebung abzugrenzen, um den umherstreifenden Wildtieren, wie Füchsen, Gemsen und Wildschafen, aber auch Weidetieren, wie Kühe und Ziegen, den Zugang zu verwehren. Das Bauwerk dient Jägern und Hirten aus der Umgebung als Nachtlager und Schutz vor den Unbilden des Wetters. Tosca hatte all ihre Überredungskünste aufbieten müssen, um ihrem Onkel, dem Besitzer der Hütte, die Erlaubnis abzuringen, diese für einige Tage benutzen zu dürfen. Zu Anfang atmeten die Hölzer die gespeicherte Kälte des Winters, so dass sich die Frauen, wenn sie gegen Nachmittag von ihren Skitouren zurückkamen, in ihren Anzügen aus Daunen dicht am Ofen postieren mussten. Genia hatte die Aufgabe übernommen, den Ofen anzufeuern. Sie schabte das Moos von den schneefreien Zweigen der Lärchen und zerrieb es zu Zunder, legte es auf das Bündel von dünnen Ästen, die sich augenblicklich, ohne weiteres Zutun, entzündeten. Geschwind eroberten die Flammen auch die größeren Scheite darunter. Nach einer halben Stunde waren alle, dicke wie dünne Scheite, ins Dunkelrot zerfallen. So ist es auch heute, zwei Tage nach ihrer Ankunft. Die Fünf sitzen an einem betagten, vom Licht der Sonne verbrannten Tisch, der bar jeglicher Kunstfertigkeit, allein auf sicheren Stand und hohe Dauerhaftigkeit getrimmt wurde. Sie haben die Jacken gegen Pullover aus Merinowolle getauscht. Ihre Freunde sind zu Hause geblieben, so wollten es die Fünf. Auf der einen Seite, um Streit zu vermeiden, da eine von ihnen sich gerade von ihrem Lover getrennt hatte und auf der anderen, weil zu befürchten war, dass die Inanspruchnahme seitens der Männer das Einvernehmen der Fünf stören könnte. Sie stimmen überein, dass Ferien mit dem Geliebten dann am schönsten sind, wenn weder Freunde noch Bekannte die Zweisamkeit beeinträchtigen. Das Programm. Die Fünf haben sich etwas ausgedacht. Sie wollen die aktuellen Krisen in der Welt diskutieren. An diesen, so behaupten sie, seien die westlichen Demokratien in erheblichem Umfang beteiligt. Das wiederum erkläre sich aus dem Zustand, in denen sich diese befänden. Besonders kritisch sehen sie Deutschland. Es ist das Land, in dem sie seit vielen Jahren leben, studieren und forschen. Sie sehen es verändert. Das werde deutlich im Blick auf Krieg und Elend, unter denen Europa und dessen Nachbarn seit einigen Jahren leiden. Politik, Medien und wissenschaftliche Institute äußerten dazu nahezu identische Meinungen und reagierten in gleicher Weise. Ansichten und Analysen, gedruckt oder gesprochen, die sie zu Anfang ihres Studiums als vielfältig wahrgenommen hätten, seien zu einigen wenigen, alles beherrschenden, zusammengeschmolzen. Das empört die Fünf. Sie sagen: Wir wollen dagegen halten. Wir sind entschlossen, eigene Gesichtspunkte zu entwickeln. Wir wollen unsere Argumente diskutieren, auf Konsistenz prüfen und von mehreren Seiten betrachten. Wir werden kritischen Fragen nicht ausweichen. Ist unsere Sicht auf die Welt mit dem aktuellen Stand des Wissens vereinbar? Ist sie mit den uns zugänglichen Fakten in Übereinstimmung? Wird sie unseren moralischen Prinzipien gerecht? Muss sie gemildert, verschärft oder geändert werden? Wir sind eigensinnig aber nicht streitsüchtig, wir haben eine klare Meinung, aber sind keine Ideologen, wir kritisieren, aber sind nicht besserwisserisch. Wir wollen Freiheit, Gleichheit, Frieden. Wir streben nach Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Wir werden beraten, was wir dazu beitragen können. Wir Fünf werden uns an Orten treffen, wo wir der Natur nahe sind. Dort werden wir einige Tage Ferien machen. Loslassen, nichts verschweigen, innere Zwänge überwinden, äußere Grenzen überschreiten. Wir werden die Umgebung erkunden. Feine Mahlzeiten zubereiten. Und über allem – unsere Freundschaften vertiefen. Das ist es, was die fünf jungen Frauen für diese und die folgenden Verabredungen sich vorgenommen haben. Nach einem Essen aus Reis, Bohnen und Thunfisch und einem gehörigen Schluck aus der Weinflasche, macht Tosca den Anfang. „Seid ihr einverstanden, dass wir heute nicht über unsere Doktorarbeiten reden? Dass sie mit keinem Wort erwähnt werden?“ „Einverstanden, aber das mit keinem Wort, das ist vielleicht ein bisschen zu krass“, kommt es unisono von allen Seiten. Die Mitte. „Die Kundgebungen sind es, die in meinem Kopf spuken“, erklärt Tosca. „Es laufen zehntausend Leute durch die Straßen und sagen, wir sind die Mitte, wir sind demokratisch. Ein echter Durchschnitt der Bevölkerung? Äußerlich dürfte das zutreffen. Sie sind klein und groß, dick und dünn, alt und jung, Mann und Frau, eingesessenen und zugewandert. Was mich verwundert: es sind überwiegend Leute, die nach eigenem Bekunden noch nie auf der Straße waren, jedenfalls nicht in der Absicht, ihre Meinung zu äußern. Was treibt sie an?“ „Ich fühle mich direkt angesprochen“, sagt Sonja, „weil das ganze bei uns in Deutschland stattfindet. Die Leute wollen vermutlich zum Ausdruck bringen, so wie es ist, ist es gut. So soll es bleiben. Wohlstand und Sicherheit bestimmen unser Leben, damit sind wir groß geworden, das ist unsere DNA. Extremisten, rechte vor allem, aber natürlich auch linke, die sind wir nicht, und die wollen wir nicht. Das sind Hetzer, Lügner und Verführer. Die wollen unsere bewährte Ordnung außer Kraft setzen. Was allerdings keinesfalls ausschließt“, ergänzt sie nach kurzer Überlegung, „dass sich auch in der Mitte der Gesellschaft ein erklecklicher Anteil von Leuten befindet, denen die vielen Flüchtlinge, inklusive die aus der Ukraine, längst ein Dorn im Auge sind. Weil vor allem die Mitte, angeblich oder tatsächlich, die Lasten zu tragen habe, welche die Flüchtlinge verursachen. Ich gehe davon aus, dass die Mitte im großen und ganzen integer ist und ihre Anliegen mindestens zum Teil vollkommen berechtigt sind. Deshalb habe ich an diesen Demonstrationen nichts auszusetzen, was von Belang wäre. Ich bin aber selbst nicht mitgegangen.“ Das Feuer im Ofen ist zu voller Größe entflammt. Tosca wird es zu warm. Eine kleine Verschiebung weg vom Feuer bringt bereits...