E-Book, Deutsch, 184 Seiten
Jerome / Pechmann Zwei Mann auf Pilgerfahrt
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-99027-173-5
Verlag: Jung u. Jung
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 184 Seiten
ISBN: 978-3-99027-173-5
Verlag: Jung u. Jung
Format: EPUB
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1859-1927), stammte aus einfachen Verhältnissen, erlebte als Kind den Bankrott des Vaters und arbeitete nach dem frühen Tod der Eltern zunächst für eine Eisenbahngesellschaft, indem er Kohle entlang der Gleise aufsammelte, dann als Büroangestellter und Schauspieler. Später wurde er Rezensent, Kritiker und Herausgeber (u.a. Mark Twain) und begann, populäre humoristische Erzählungen zu schreiben. Der Roman Drei Mann in einem Boot wurde zum Bestseller mit Millionenauflage und machte ihn 1889 schlagartig berühmt. Er starb 1927 und hinterließ ein umfangreiches literarisches Werk.
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Montag, der 19.
Heute Morgen besuchte mich mein Freund B. und fragte, ob ich am nächsten Montag mit ihm ins Theater gehen wolle.
»Oh, ja! Gewiss, alter Knabe«, erwiderte ich. »Hast du denn Freikarten?«
Er sagte: »Nein, es gibt keine Freikarten. Wir müssen zahlen.«
»Zahlen! Zahlen für einen Theaterbesuch!«, antwortete ich verblüfft. »Ach, Quatsch, du beliebst zu scherzen!«
»Mein Lieber«, gab er zurück, »glaubst du, ich würde vorschlagen zu zahlen, wenn es eine andere Möglichkeit gäbe, reinzukommen? Doch die Leute, die dieses Theater leiten, haben nicht die geringste Ahnung, was ›Freikartenliste‹ bedeutet. Diese unzivilisierten Barbaren! Es hat keinen Zweck, ihnen vorzugaukeln, du seist von der Presse, denn sie wollen die Presse nicht dabeihaben. Sie halten nichts von der Presse. Es ist sinnlos, dem Theaterdirektor zu schreiben, denn es gibt keinen Theaterdirektor. Es wäre Zeitverschwendung, ihnen anzubieten, ihre Theaterprogramme abzudrucken, denn sie haben keine – keine gewöhnlichen. Wenn du rein möchtest, um die Show zu sehen, musst du zahlen. Zahlst du nicht, bleibst du draußen. So lautet ihre brutale Regel.«
»Grundgütiger«, sagte ich, »was für eine überaus unerfreuliche Regel! Und wo ist nun dieses außergewöhnliche Theater? Ich kann mich nicht erinnern, es je besucht zu haben.«
»Ich glaube nicht, dass du je dort warst«, erwiderte er, »es ist in Oberammergau – erste Ausfahrt links nach dem Bahnhof Oberau, fünfzig Meilen von München.«
»Hm! Ziemlich abgelegen für ein Theater«, sagte ich. »Hätte nie gedacht, dass so ein Provinzhaus es sich leisten kann, sich derart wichtigzumachen.«
»Das Haus fasst siebentausend Besucher«, antwortete mein Freund B. »Und jede Aufführung macht sich bezahlt. Die erste Inszenierung ist am nächsten Montag. Kommst du mit?«
Ich überlegte kurz, blickte in meinen Kalender, sah, dass Tante Emma uns von Samstag bis Mittwoch besuchen wollte, berechnete, dass ich sie verpassen und vielleicht jahrelang nicht wiedersehen würde, wenn ich verreiste, und beschloss, es zu tun.
Um die Wahrheit zu sagen, reizte mich die Reise mehr als die Aufführung. Ich träumte seit jeher davon, ein großer Reisender zu sein. Ich brenne darauf, etwas wie das Folgende schreiben zu können:
»Ich rauchte meine duftende Havanna in den sonnigen Straßen des alten Madrid und schmauchte die grobe und nicht sonderlich wohlriechende Friedenspfeife in den zugigen Wigwams des Wilden Westens. Ich nippte meinen Abendkaffee im stillen Zelt, während das angepflockte Kamel draußen das Wüstengras abweidete, und ich schlürfte den feurigen Brandy des Nordens, derweil das Rentier neben mir in der Hütte sein Futter mampfte und das fahle Licht der Mitternachtssonne die Schatten der Kiefern auf den Schnee warf. Ich spürte den Stich glänzender Augen, die mich in den schmalen Gassen von Byzanz aus verschleierten Gesichtern gespenstisch musterten, und ich erwiderte das Lachen (was sich als Fehler erwies) der frechen, anzüglichen Blicke der schwarzäugigen Mädchen von Jedo. Ich wanderte, wo der gute – aber nicht allzu gute – Harun Alraschid bei Einbruch der Nacht verkleidet umherschlich, den treuen Mesrour an seiner Seite. Ich verweilte auf der Brücke, wo Dante die anbetungswürdige Beatrice vorbeischreiten sah. Ich trieb auf den Wassern, die einst Kleopatras Barke trugen. Ich stand, wo Caesar fiel. Ich hörte das sanfte Rascheln der reichverzierten, kostbaren Roben in den Salons von Mayfair und lauschte dem Klappern der Zahnketten an den Ebenholzhälsen der Schönen von Tongatabu. Ich keuchte unter den brennenden Strahlen von Indiens Sonne und fror in den eisigen Stürmen Grönlands. Ich mischte mich unter die wimmelnden Horden des alten Kathai, und tief in den großen Kiefernwäldern der westlichen Welt lag ich, in meine Decke gehüllt, tausend Meilen entfernt von den Gestaden menschlichen Lebens.«
B., dem ich meine Vorliebe für diese Art zu schreiben erläutert hatte, meinte, man könne denselben Effekt erzielen, indem man über Orte schrieb, die direkt vor der Haustür lagen. Er sagte:
»Man könnte so weitermachen, ohne England je verlassen zu haben. Folgendermaßen:
Ich rauchte meinen Four-Penny-Shag in den sandbestreuten Bars der Fleet Street, und ich schmauchte meine Two-Penny-Manilla in den vergoldeten Sälen des Criterion. Ich schlürfte mein schäumendes Bier bei Burton, wo Islingtons namhafter Engel die kleinen Durstigen unter seine schattigen Fittiche nimmt, und ich nippte meinen Ten-Penny- in manch einem knoblauchgeräucherten Salon in Soho. Auf dem Rücken eines seltsam einherschreitenden Esels bin ich über die sandigen Heiden von Hampstead gejagt – oder, genauer, der Eigentümer des Esels oder sein Agent hat mich gejagt –, und mein Kanu scheuchte die schreiende Wildente aus ihren einsamen Schlupfwinkeln inmitten der subtropischen Gefilde von Battersea. Den langen, steilen Abhang von One Tree Hill rollte ich von oben bis unten hinab, derweil lachende Maiden des Orients herumstanden, klatschten und johlten; und in dem altertümlichen Park jenes freundlichen Hofs, wo die blonden Kinder der unglückseligen Stuarts spielten, wanderte ich lang auf manch einem Pfad, mein Arm um die Taille einer von Evas lieblichen Töchtern geschlungen, während ihre Mutter erbost auf der anderen Seite der Hecke tobte und uns doch nie zu nahe kam. Auf der Suche nach der Pension Norfolk Howard folgte ich einer Spur bis zu ihrem wässrigen Tod im fahlen Licht der Laterne. Ich folgte zitternd dem hüpfenden Floh über manche Meile aus Kissen und Decken, am Rand des großen Atlantic. Immerzu im Kreis, bis das Herz – und nicht nur das Herz – leidet und das irre Hirn wirbelt und sich dreht, ritt ich das kleine, aber äußerst harte Pferd, das man für einen Penny auf den Ebenen von Peckham Rye besteigen kann. Und hoch über den Köpfen der leichtsinnigen Scharen von Barnet (obgleich ich bezweifle, dass einer von ihnen nur halb so leichtsinnig war wie ich) schaukelte ich in einer buntbemalten Gondel, von einem Mann mit einem Seil betrieben. Würdevollen Schrittes betrat ich den Boden der Kensington Town Hall (Eintrittskarten eine Guinee pro Person, Erfrischungen inklusive – vorausgesetzt, man dringt durch die Menge bis dahin vor), und auf dem grünen Rasen des Waldes an der Grenze zu Ostanglien, neben der vielbesungenen Stadt Epping, gab ich im Boxring uralte Rituale zum Besten. Ich mischte mich am zweiten Weihnachtsabend unter die wimmelnden Horden von Drury Lane, und während der Aufführung eines hochklassigen Stücks saß ich in einsamer Pracht in der ersten Reihe, dritter Rang, und wünschte, ich hätte meinen Shilling stattdessen in den orientalischen Sälen der Alhambra ausgegeben.«
»Siehst du«, sagte B., »das ist genauso gut wie deins. Und man kann derlei schreiben, ohne länger als ein paar Stunden aus London hinauszufahren.«
»Lassen wir das«, erwiderte ich. »Mir ist klar, dass du meine Gefühle nicht teilst. In deiner Brust pocht nicht das wilde Herz des Reisenden. Du kannst seine Sehnsüchte nicht begreifen. Egal! Was zählt, ist, dass ich dich auf deiner Reise begleiten werde. Ich kaufe heute Nachmittag ein deutsches Wörterbuch und einen Anzug mit Karomuster und ein blaues Staubschutztuch und einen weißen Regenschirm und was der englische Tourist in Deutschland sonst noch braucht. Wann geht’s los?«
»Naja«, sagte er, »die Reise dauert gut zwei Tage. Brechen wir also am Freitag auf.«
»Ist Freitag nicht ein eher unglückverheißender Tag für eine Abreise?«, meinte ich.
»Oh, Grundgütiger!«, erwiderte er recht barsch. »Was für ein Unfug kommt als nächstes? Als würde die Lage in Europa vom Herrgott darauf abgestimmt, ob du und ich donnerstags oder freitags zu einem Ausflug aufbrechen.«
Er sagte, er sei erstaunt, dass ein Mann, der mitunter so vernünftig sein könne wie ich, für solches Altweibergeschwätz auch nur das Geringste übrig habe. Vor Jahren, er sei noch ein dummer Junge gewesen, sei er selbst diesem albernen Aberglauben aufgesessen und wäre nie auf die Idee gekommen, an einem Freitag abzureisen.
Doch einmal habe er es dennoch tun müssen. Damals hieß es, entweder Freitag aufbrechen oder gar nicht, und er habe beschlossen, es zu riskieren.
Er zog los und rechnete mit einer Reihe von Unfällen und Missgeschicken. Das einzige klitzekleine Vergnügen, das er sich von seiner Reise erhoffte, war, lebendig heimzukehren.
Es stellte...