E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Jin Der verbannte Unsterbliche
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7518-0096-9
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das Leben des Tang-Dichters Li Bai
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-7518-0096-9
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ha Jin (??), 1956 in nordostchinesischen Stadt Jinzhou geboren, wurde mit 14 Jahren während der Kulturrevolution als Soldat eingezogen und diente fünf Jahre lang an der chinesisch-sowjetischen Grenze. 1977 begann er ein Studium an der Universität Harbin und emigrierte 1985 in die USA, wo er heute als Professor für englische Literatur tätig ist. Für seine seit vielen Jahren in viele Sprachen übersetzte Bücher erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, darunter den National Book Award für den Roman Waiting. Ha Jin lebt in Boston Susanne Hornfeck, 1956 geboren, promovierte u. a. in Sinologie und Neuerer Deutscher Literatur. Fünf Jahre lebte und lehrte sie in Taipei. Heute arbeitet sie als Autorin und Übersetzerin in Süddeutschland. Für ihre Übersetzungen aus dem Chinesischen und Englischen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, etwa mit dem C.H.Beck Übersetzerpreis.
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Einleitung
Er hat viele Namen. Im Westen nennt man ihn Li Po, und die meisten ins Englische übersetzten Gedichte führen diesen Namen, der manchmal auch Li Bo transkribiert wird. Doch in China kennt man ihn als Li Bai. Zu seinen Lebzeiten (701–762) hatte er noch weitere Namen – Li Taibai, Einsiedler vom Blauen Lotos oder Li Zwölf. Letzterer ist ein familiärer Kosename, der besagt, dass Bai der zwölfte unter den Brüdern und Cousins väterlicherseits war. Seine Freunde und Dichterkollegen redeten ihn gern so an; manche widmeten ihm sogar Gedichte mit dem Titel »Für Li Zwölf«. Bei seinem Tod galt er als berühmter Dichter, und seine Bewunderer bezeichneten ihn als , als Verbannten Unsterblichen. Dieser Beiname legt nahe, dass er als Bestrafung für schlechtes Benehmen vom Himmel auf die Erde verbannt wurde. In den zwölf Jahrhunderten seit seinem Tod wurde er aber auch bewundernd genannt, Unsterblicher der Dichtkunst. Weil er gern und exzessiv trank, bekam er außerdem den Beinamen , Unsterblicher des Weins. Noch heute ist es unter den Bewunderern seiner Lyrik üblich, Hunderte von Kilometern auf den Spuren seiner Wanderschaft zurückzulegen, eine Art Pilgerreise. Viele Schnaps- und Weinsorten tragen seinen Namen; er ist zu einer allgegenwärtigen Marke geworden, mit der Hotels, Restaurants, Tempel, ja selbst Fabriken für sich werben.
Im englischen Sprachraum ist er außer als Li Po noch unter den Namen Li T’ai Po und Rihaku bekannt. Der erste ist eine alternative phonetische Transkription seines ursprünglichen chinesischen Namens Li Taibai, den die Eltern ihm gaben. Und Ezra Pound nennt ihn in , seiner Sammlung von Übertragungen klassischer chinesischer Lyrik, , denn er übersetzte diese Gedichte mithilfe nachgelassener Notizen des amerikanischen Orientalisten Ernest Fenollosa, der Li Bais Werk während eines Japan-Aufenthalts auf Japanisch kennenlernte. Pounds freie Übertragung von Li Bais »Die Frau des Flusshändlers: Ein Brief« ist in vielen Lehrbüchern und Anthologien enthalten und gilt als Meisterwerk der modernen Lyrik. Es ist für Pound zu einer Art Markenzeichen geworden, sein womöglich bekanntestes Gedicht. Aus Gründen der Einheitlichkeit und Klarheit wollen wir uns im Folgenden auf den Namen Li Bai beschränken.
Dem Dichter werden auch mehrere Tode zugeschrieben. Seit Jahrhunderten gab es immer wieder Leute, die behaupteten, er wäre gar nicht gestorben und sie hätten ihn da und dort gesehen.1 Über das genaue Datum und die Umstände seines Todes herrscht Unklarheit. Im Januar 764 erließ der frisch inthronisierte Kaiser Daizong ein Dekret, das Li Bai als Berater an den Hof berief, eine Stellung, die trotz des hochtrabenden Titels mit wenig Einfluss verbunden war. Für einen Mann von Bildung und Ambition bedeutete sie dennoch eine große Auszeichnung, einen Beweis für kaiserliches Wohlwollen und Großherzigkeit – und im Fall von Li Bai war es eine teilweise Wiedereinsetzung in die hohe Position, die er einst am Hof innegehabt hatte. Als das kaiserliche Dekret im Kreis Datung in der Provinz Anhui eintraf, wo Li Bai sich angeblich aufhielt, gerieten die dortigen Beamten in große Verlegenheit, denn sie konnten ihn nicht ausfindig machen. Bald stellte man fest, dass er seit mehr als einem Jahr nicht mehr lebte. Woran er gestorben war und an welchem Tag, ließ sich nicht mehr feststellen. Daher lässt sich heute nur sagen, dass Li Bai trotz seiner Berühmtheit irgendwann im Jahr 762 unbemerkt für immer eingeschlafen sein muss.
Doch einen so unspektakulären Tod wollten die Verehrer seiner Poesie nicht hinnehmen. Bald kamen unterschiedliche Versionen über sein Ableben in Umlauf, Geschichten, die zum romantischen Image seiner Dichterpersönlichkeit passten und einen stimmigen Abschluss für sein turbulentes Lebens bildeten. In einer Variante starb er an Alkoholvergiftung, was gut zu seiner lebenslangen Trunksucht passte. Eine andere ließ ihn an chronischem Lungenabszess sterben – einer Eiterung in Lunge und Brustraum. Diese Version taucht erstmals bei Pi Rixiu (838–883) in dessen Gedicht »Sieben Lieben« auf: »Verfaulte Rippen zwangen ihn nieder / und schickten seine trunkene Seele ins Jenseits.« Auch wenn wir diese Behauptung nicht belegen können, klingt sie plausibel. Eine solche Krankheit könnte tatsächlich durch Alkoholmissbrauch begünstigt worden sein. Möglicherweise hatten sich in seinen letzten Jahren Trunksucht und Armut auf die Lunge geschlagen. Die dritte Todesart ist weitaus fantastischer. In dieser Version ertrank er, als er betrunken das Spiegelbild des Mondes im Fluss umarmen wollte; er sprang aus dem Boot, um die ewig wandernde Mondscheibe zu erhaschen.
Auch wenn diese Szene einen Beigeschmack von Suizid hat und zu romantisch klingt, um glaubhaft zu sein, ist sie bei weitem die populärste – nicht zuletzt, weil Li Bai, wie seine Gedichte belegen, den Mond besonders liebte. Schon als kleines Kind war er von ihm fasziniert. In seinem Gedicht »Nächtliche Wanderung in Gulang« schreibt er: »Als Kind wusste ich nicht, was der Mond war / und nannte ihn die weiße Jadescheibe. / Dann fragte ich mich, ob er vielleicht ein Spiegel wäre, / der von der Jaspis-Terrasse wegflog und auf grünen Wolken landete.« Li Bai ist der erste in der chinesischen Lyrik, der das Bild des Mondes vielfältig eingesetzt und dessen Erhabenheit, Reinheit und ewige Wiederkehr gefeiert hat. Er stellte sich den Mond als heitere Landschaft vor mit großartigen Behausungen für die , die Unsterblichen, die dort umgeben von göttlicher Fauna und Flora und eigenen Haustieren lebten. Im alten China unterschied man nicht zwischen göttlich und menschlich; der imaginierte Himmel war in seiner Landschaft, seiner Architektur und seinen Bewohnern der Menschenwelt durchaus ähnlich, bloß fantastischer. War ein Mensch kultiviert genug, so konnte er in die Reihen der Göttlichen aufsteigen und ein werden. In vielen chinesischen Tempeln wurden derlei Gottheiten verehrt, und der Himmel war von ihnen bevölkert – mächtige, sorglose, unsterbliche Übermenschen.
In Li Bais Gedichten steht der Mond auch für das eigene Zuhause oder den Geburtsort, ein himmlischer Leuchtturm, allgegenwärtig und verlässlich, der selbst von jenen gesehen und geteilt wurde, die sich fern der Heimat aufhielten. In seinem wohl bekanntesten Gedicht »Nachtgedanken«* heißt es: »Das Haupt erhoben schau ich auf zum Monde, / das Haupt geneigt denk ich des Heimatdorfs.« Die Legende von seinem Versuch, den Mond zu umarmen, kann als die ultimative Erfüllung dieses Wunsches und dieser Vision gelten – eine geistige Himmelfahrt in umgekehrter Richtung. Manche seiner Zeitgenossen glaubten, er sei in seinem vorherigen Leben ein Stern gewesen und durch die Vereinigung mit dem Mond im Wasser in jene himmlische Sphäre zurückgekehrt, die er einst bewohnte. In der knappen »Biografie des Li Bai«, die in die aus dem 11. Jahrhundert Eingang gefunden hat, heißt es: »Als seine Mutter Li Bai zur Welt brachte, träumte sie von der Venus und gab ihm den Namen Taibai (Morgenstern).«
Die nachgeborenen Dichter haben diesen mondhellen Tod weitergetragen. Obgleich sie wussten, dass er nicht der Wahrheit entsprach, feierten sie diesen strahlenden Moment in ihren Versen. Noch heute schwelgen die Liebhaber von Li Bais Gedichten in diesem Mythos. Ein zeitgenössischer Biograf behauptet gar, Li Bai »ritt auf einem Wal und schwamm auf den Wellen dem Mond entgegen«.2 Die Himmelsreise wird aus der Sicht des enttäuschten, trunkenen Dichters geschildert, so als würde Li Bai auf diese Weise an seinen angestammten Platz im Himmel zurückkehren. Diese Romantisierung zeigt, dass selbst die Forschung um Li Bai solchen Legenden und Mythen nicht widerstehen konnte. Weil die Menschen mit dem Dichter ein glorioses Ende verbanden, schrieben sie die Legende von der Umarmung des Mondes eifrig fort.
Neben solch fantasievollen Glorifizierungen ist uns eine einzige deutliche Stimme erhalten, die noch zu Lebzeiten des Dichters dessen Exilsituation klar benennt. Sein treuer Freund und Dichterkollege Du Fu klagt in seinem Gedicht »Träumen von Li Bai«:
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In der Hauptstadt wimmelt es von Kutschen und Amtstrachten,
nur du musst trotz deiner Gaben im Elend leben.
Wer sagt, die Wege des Himmels seien gerecht,
wo du selbst im Alter dem Unheil nicht entgehst?
Obgleich dein Ruhm zehntausend Jahre währen sollte,
wird es still sein um dich, nachdem du gegangen bist.
*Übersetzt von Günter Eich, in: Wilhelm Gundert, Annemarie...




