Jones | Jahre wie diese | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 416 Seiten

Jones Jahre wie diese

Roman
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-641-12434-2
Verlag: DVA
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 416 Seiten

ISBN: 978-3-641-12434-2
Verlag: DVA
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Luke Kanowski beschließt, Provinz und Elternhaus den Rücken zu kehren, um in London seine Lorbeeren als Dramatiker zu verdienen. Mit Paul, einem angehenden Produzenten, und Leigh, Pauls Freundin, gründet er eine Theaterkompagnie, die bald erste Erfolge feiert. Die drei sind unzertrennlich – bis Luke auf Nina trifft, eine temperamentvolle, aber labile Schauspielerin, die ihn nicht mehr loslässt.

Alles, worum er gekämpft hat – Loyalität, Freundschaft, Karriere –, droht dem Versuch zum Opfer zu fallen, Ninas versehrte Seele zu retten. Wie viel ist er bereit, für sie zu riskieren?
Ein überaus romantischer, eleganter Roman über vier junge Menschen, die um ihren Platz in der Liebe und im Leben kämpfen und dabei immer wieder von den Prägungen ihrer Kindheit eingeholt werden.



Sadie Jones, 1967 in London geboren, arbeitete als Drehbuchautorin, unter anderem für die BBC. 2005 verfilmte John Irvin ihr Drehbuch »The Fine Art of Love« mit Jacqueline Bisset in der Hauptrolle. Ihr preisgekröntes Romandebüt »Der Außenseiter« (2008) wurde in Großbritannien auf Anhieb ein Nr.-1-Bestseller und war auch in Deutschland ein großer Presse- und Publikumserfolg. Zuletzt erschien von ihr der Roman »Jahre wie diese«.

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DAMALS – ENGLAND – 1961

Lucasz Kanowski befreite seine Mutter auf denkbar unspektakuläre Weise aus der Anstalt: Sie gingen einfach durch das Tor auf der Rückseite des Geländes. Das Vorhängeschloss knackte er mit einem Stück Draht, ein Trick, den er ungeachtet der Kultivierungsbemühungen des Gymnasiums nicht verlernt hatte. In seiner Schultasche hatte er ein paar Anziehsachen für sie mitgebracht: einen Wollschal – trotz seiner absurden Angst, sie könne sich damit aufhängen – und eine Strickjacke mit Gänseblümchen am Kragen. Außerdem ein Paar Gummistiefel. Eigentlich hatte er ihr richtige Schuhe mitbringen wollen, elegante Pumps, aber er hatte keine finden können. Natürlich war es möglich, dass sein Vater sie weggeworfen hatte, aber das erschien Luke als ein viel zu entschiedener Schritt für den langsamen, introvertierten Mann. Gummistiefel mussten reichen. Das Anstaltsgelände war weitläufig. Niemand würde sie sehen, und vermissen würde sie auch erst mal keiner.

Er zog das eiserne Tor auf, drückte das hohe Gras zu Boden.

»Allez-y«, sagte er, und sie hob das Kinn und setzte sich unsicher in Bewegung.

Nebeneinander standen sie an der Straße. Finken hüpften und flatterten in der Hecke. Lukes Mutter rührte sich nicht, sie hatte die Arme um den Oberkörper geschlungen und wirkte klein in ihrer Strickjacke.

»Der Bus kommt gleich«, sagte er, als sei alles ganz normal, aber seine dreizehnjährige Stimme kippte. Nichts war normal.

»Maman? Lass uns gehen.«

In ihren Augen sah er den Abgrund. Die Leute mieden Verrückte, angeblich weil sie so unberechenbar waren, aber Luke wusste, dass sie in Wahrheit die Leere in ihrem Blick fürchteten. Luke hatte keine Angst vor dieser Leere; schließlich war sie es, die dort leben musste. Er hätte alles getan, um sie zu retten, und betete immer noch für sie, obwohl seine Argumente gegen die Existenz Gottes neuerdings lauter wurden. Er betete und konnte nicht aufhören zu glauben, dass sie, wenn er irgendetwas richtig machte – absolut richtig –, vielleicht wieder gesund würde.

»Maman? On y va?«

Sie sah ihn lächelnd an. Ihre Haut hatte einen rosigen Schimmer, wie von Sonnenlicht überhaucht, als habe das Blut angefangen, durch ihre Adern zu pulsieren, und Luke fühlte sich als Retter. Sie überquerten die Straße zur Bushaltestelle. Als der Bus kam, stiegen sie ein und ließen sich schweigend von ihm davontragen.

Drei Tage zuvor hatten sie auf morschen Stühlen auf dem ungepflegten, von Löwenzahn durchsetzten Rasen der Sestoner Irrenanstalt gesessen, hinter ihnen das Gewirr der Regenrohre, die an den Mauern hinunterkrochen, über ihnen die dicht gedrängten Schornsteine auf den viktorianischen Giebeldächern. Helene hatte ihm einen ihrer selbstsichersten Blicke zugeworfen und gesagt: »In der Times steht, dass es in der Nationalgalerie in London eine Ausstellung französischer Maler gibt. Cézanne. Renoir. J’aimerais te le montrer, Luc.«

Lukes erster Gedanke war, dass es, wenn man von einem akzeptablen Leben sprechen wollte, ja wohl das Mindeste war, sich Bilder ansehen zu können, wenn man wollte; Bücher zu lesen, Musik zu hören. Sogar sein Vater hörte Musik. Später, als sie sich verabschiedeten und sie sich von ihm abwandte, um in den Aufenthaltsraum zurückzugehen und zu tun, was immer sie tat, wenn er nicht da war, sagte er leise: »Sollen wir vielleicht nach Lincoln fahren? Und uns in einer Galerie Bilder ansehen?«

Aber seine Mutter war gebürtige Pariserin. Und ein Snob.

»Lincoln? Lincoln ist so provinziell.« Sie beugte sich vor und flüsterte ihm ins Ohr. »Londres.«

»Londres Luke konnte nicht anders, er musste lachen. Ausgetrickst von einer Frau, und dazu noch von einer Geisteskranken.

»Pst!!«

Ihre Haare waren absurd zerzaust, und an den Schläfen waren noch die Brandmale der Elektroschocks zu sehen. Im klaffenden Frotteebademantel und in Pantoffeln stand sie auf dem Linoleumboden vor ihrer Station mit dem schönen Namen »Rose«. Krankenschwestern, Pfleger und Ärzte trugen Schuhe, in denen man auch nach draußen gehen konnte, Schuhe, die auf dem Linoleum klapperten oder klatschten. Die Füße der Patienten dagegen waren praktisch lautlos, sie definierten sich durch weich-schlurfende Pantoffelschritte. Ihre Stimmen mochten laut sein – manchmal sehr laut –, aber sie waren nicht geerdet und ihre Schritte dementsprechend nicht zu hören.

»En train ce n’est pas très loin.«

Sie hatte recht, mit dem Zug war es wirklich nicht weit.

Die Schwestern am Empfangspult hoben nicht einmal den Kopf, als er die Anstalt durch den Drahtkäfig am Eingang verließ. Er besuchte seine Mutter, seit er fünf Jahre alt war, kam und ging, wie es ihm passte. Die Tür schlug hinter ihm zu, die Schlösser rasteten ein.

Als er sich in der Bibliothek die Fahrpläne für die Flucht seiner Mutter besorgt hatte, hatte er das Gewicht der Risiken gespürt, die auf ihm lasteten. Er stellte Pläne zusammen, Listen – Anstalt verlassen: 10.00. Zug nach London 11.07.

Für den Notfall galt: Falls Polizei – lügen.

Er wusste, dass seine Mutter selbst die größte Gefahr war. Fern der Anstalt und ohne ihre Medikamente war sie anfällig für tausend Entsetzlichkeiten. Als der Tag immer näher kam, wagte er nicht mehr, sie an ihr Vorhaben zu erinnern, damit sie sich nicht bei einer der Schwestern verplappern konnte. Es war allein sein Plan, sein furchtbares Geheimnis, aber er fand, wenn einem die Gnade geistiger Gesundheit gegeben war, dann waren Selbstzweifel feige, und so groß seine Angst vor einer Katastrophe auch war, seine Entschlossenheit stellte sich ihr resolut entgegen.

Sie verließen den Bahnhof King’s Cross und traten hinaus in die dünne, rußige Luft. Vor der Unermesslichkeit des Bahnhofsgebäudes aus Backstein und Beton kamen sie sich winzig vor; sie in ihren Gummistiefeln, die Strickjacke um sich gewickelt wie eine Zigeunerin, und er mit seinen selbst geschnittenen Haaren, auf einen Schlag demütig gemacht von ihrer Umgebung. Mutter und Sohn hielten sich so fest bei der Hand, dass sie ihre Knochen spürten. Menschen wimmelten um sie herum, im Vorbeigehen rempelte ein Mann Helene an. Sie zuckte mit einem durch geschlossene Lippen gemurmelten Laut zurück. Luke kannte das Geräusch, erkannte die Gefahr.

»Je n’ai jamais été ici.« Sie formte die Worte wie mit fremden Lippen. »Tu comprends?«

Auch Luke war noch nie in London gewesen, aber er sagte nichts.

»Also wirklich!«, hörten sie eine Frau ganz in ihrer Nähe rufen. »Taxi!« Seine Mutter duckte sich, als wolle sie dem Hieb eines Monsters ausweichen. Plötzlich waren ihre Augen voller Panik. Ein weiterer gemurmelter Laut, ein kehliges ga, als sie die Schultern hochzog und sich zusammenkrümmte, und er erkannte, dass sie ihm keine Hilfe sein würde, nicht im Augenblick. Der Tag, der vor ihnen lag, war riesig und zügellos. Er beschloss, sie sich als ein Tier im Zoo vorzustellen, nicht weniger als ein Mensch, einfach nur anders: eine seltene, unberechenbare Kreatur; er war der Experte, bewaffnet mit Beruhigungspfeilen. Es beschämte ihn, dass er sich wünschte, die Beruhigungspfeile wären echt.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte er. »Ich habe alle Informationen, die wir brauchen.« Er zog den Busfahrplan aus seiner Tasche.

Im Bus verkroch sie sich in sich selbst, und auf der Strand wären sie um ein Haar von einem Taxi angefahren worden. Einmal fing sie an, mit jemandem zu reden, den Luke nicht sehen konnte, und er nahm ihre Hand und erzählte ihr, was er gestern zu Abend gegessen hatte. Danach – sein Fehler – gingen sie in der falschen Richtung durch die Whitehall, aber da hatte sie sich schon wieder beruhigt und sah sich interessiert und glücklich um, als sie zurückgehen mussten.

Der Trafalgar Square lag weit und unbewegt vor ihnen, Nelsons Säule ragte in der Mitte auf wie ein Maskottchen.

Im Inneren der Nationalgalerie kehrte eine exotische Art von Normalität ein. Eine halbe Stunde oder sogar länger schlenderten sie umher, sahen sich die Bilder an und waren glücklich. Er genoss das Privileg ihres ungetrübten Verstands; ihre Sinne hellwach, ihr Geist klar. Er war alt genug, um zu wissen, dass es gefährlich war, sich vorzustellen, dass Gott Menschen auf ihrem Weg durch die unstrukturierte Welt bestrafte oder belohnte. Trotzdem hatte er das Gefühl, dieses eine Mal sei das ungerechte Chaos des so furchtbar zusammengestutzten Lebens seiner Mutter von Gott bemerkt worden, und er habe sich gütig gezeigt.

»Mach die Augen zu«, sagte sie, als sie, umgeben von Cézannes und Monets, fast allein in einem riesigen Raum standen. »Kannst du die Bilder fühlen?«

Luke schloss die Augen.

»Oder würde sich die Luft genauso anfühlen, wenn die Wände leer wären?«

Mit geschlossenen Augen erspürte Luke das Leben der Kunstwerke um sich herum. Es veränderte die Atmosphäre. Er dachte an Genialität, verdichtet durch die Zeit, und an das unmessbare Charisma des Ruhms. Er wusste nicht, wie er das alles in Worte fassen sollte, wusste nur, dass diese Gemälde zu atmen schienen.

»Es ist, als wäre man in einem Zimmer voller Menschen«, sagte er und machte die Augen wieder auf.

Sie standen da, umgeben von den stillen, goldgerahmten Gemälden. Sonnenlicht auf Wasser. Blumen. Leuchtende Felsen irgendwo im Süden.

Seine Mutter zuckte...


Jones, Sadie
Sadie Jones, 1967 in London geboren, arbeitete als Drehbuchautorin, unter anderem für die BBC. 2005 verfilmte John Irvin ihr Drehbuch »The Fine Art of Love« mit Jacqueline Bisset in der Hauptrolle. Ihr preisgekröntes Romandebüt »Der Außenseiter« (2008) wurde in Großbritannien auf Anhieb ein Nr.-1-Bestseller und war auch in Deutschland ein großer Presse- und Publikumserfolg. Zuletzt erschien von ihr der Roman »Jahre wie diese«.



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