Jr. Quintana Roo
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-903061-31-6
Verlag: Septime Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sämtliche Erzählungen, Band 5
E-Book, Deutsch, Band 5, 160 Seiten
Reihe: Sämtliche Erzählungen
ISBN: 978-3-903061-31-6
Verlag: Septime Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
James Tiptree Jr. (1915-1987) ist das männliche Pseudonym von Alice B. Sheldon. Tiptrees geheimnisvolle Identität faszinierte die Fans und gab Anlass zu vielen Spekulationen, freilich glaubten alle, es müsse sich um einen Mann handeln. Die Aufdeckung, noch zu ihren Lebzeiten, war ein Schlag: Diese knappen, harten und frechen Kurzgeschichten, die nur allzu häufig mit dem Tod enden, waren von einer alten Dame mit weißen Federlöckchen verfasst worden. Sie zählt unter Science-Fiction-Fans zu den großen Klassikern, gleich neben Philip K. Dick und Ursula K. Le Guin. Ihre Kurzgeschichten, die sie erst im Alter von einundfünfzig Jahren zu schreiben begann, und von denen einige wohl zu den besten des späten 20. Jahrhunderts gehören, brachten ihr schnell Ruhm und zahlreiche Auszeichnungen ein. Dennoch litt sie ständig unter schweren Depressionen und Todessehnsucht. Nach einem vorab geschlossenen Selbstmordpakt erschießt Sheldon im Alter von einundsiebzig Jahren erst ihren vierundachtzigjährigen Mann und dann sich selbst.
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Was die See bei Lirios anspülte
Der alte Vorarbeiter der Kokosranch sah ihn als erster.
Es war ein Tag des brüllenden, sengenden Südwinds. Der Strand rauchte unter den peitschenden Kokospalmen, und die Karibische See raste vorbei wie eine Million weiße Teufel, die nach Kuba vierhundert Meilen weiter im Norden wollten. Als ich nach unten ging, weil ich sehen wollte, was Don Pa’o Camool da anstarrte, konnte ich gegen den wütenden Flugsand kaum die Augen offen halten.
Der Strand war leer bis zum dunstigen Horizont: blendendes Korallenweiß, das nur mit undeutlichen Hieroglyphen aus Teer und Tang gefleckt war.
»¿Qué?«, bellte ich über das Windgeheul.
»Caminante.«
Fasziniert sah ich genauer hin. Von den caminantes hatte ich schon gehört, den Wandersleuten der alten Zeit, die ihr Leben lang nichts anderes taten, als diese lange, wilde Küste rauf- und runterzutreiben. Eine der dunklen Spuren bewegte sich. Vielleicht.
»¿Maya caminante?«
Der Alte – er war zehn Jahre jünger als ich – spuckte kräftig auf eine Geisterkrabbe, die der Wind vorbeischob. »Gringo.« Er warf mir einen scharfen Seitenblick zu, wie immer, wenn er dieses Wort benutzte.
Dann verzog er das Gesicht zu einer seiner wilderen Mayagrimassen, was ebenso viel- wie nichtssagend war, und stapfte unter den Schlägen seiner großen, altmodischen machete wieder das Kliff rauf, zurück zu seinem Mittagessen.
Meine Augen waren mit Salz und Sand verkrustet. Auch ich zog mich auf meine windzerfressene Veranda zurück, um zu warten.
Was schließlich an der Flutlinie in Sicht geschlurft kam, war ein schwarzes Gerippe, ein Strichmännchen mit wehenden Wuschelhaaren um den Kopf herum. Als der Mann bei der Kompasspalme stehen blieb und sich umwandte, um zur rancho hochzuschauen, rechnete ich halb damit, dass die See durch seine Rippen glitzerte.
Die rancho war eine auseinandergezogene Reihe aus fünf kleinen Pfosten-und-Strohdach-Hütten, drei rauchenden Kopra-Trockengestellen und einem Brunnen mit einer Eimerwinde. Ganz am Ende hatte der Besitzer eine casita zum Vermieten stehen, ein Häuschen mit zwei Räumen, auf dessen Veranda ich saß.
Die Erscheinung hielt schnurstracks auf mich zu.
Aus der Nähe sah ich, dass es tatsächlich ein gringo war: Die Haare und der Bart, die sein von der Sonne geschwärztes Gesicht peitschten, waren unter ihrer Kruste rosagrau. Sein ausgezehrter Körper war schwarzverkohlt, mit einigen weißen Narbenlinien auf den Beinen, und bis auf ein Paar ausgefranste Shorts und seine schweren Ledersandalen war er nackt. Über den Schultern hatte er ein kümmerliches Deckenbündel und eine Feldflasche hängen. Er konnte ebenso gut sechzig wie dreißig sein.
»Kann ich etwas Wasser bekommen, bitte?«
Das Englisch kam ein bisschen eingerostet heraus, aber das Erschreckende war die Stimme – eine klare, junge Stimme direkt aus einer Vorstadt des Mittleren Westens.
»Aber ja.«
Die Sonne glitzerte auf einem Haimesser an seinem Gürtel und offenbarte den guten Schliff der Schneide. Ich zeigte zu einer Schattenstelle auf dem Steinweg bei der Veranda, wo ich den Fremden im Auge behalten konnte, und sah zu, wie er dort zusammensank, dann ging ich hinein. Selbst hier sind solche unpassend jungen Stimmen wie die seine nichts Neues; mit ihnen spricht das menschliche Treibgut, das die tropischen Breitengrade in der Hoffnung runtergondelt, morgen oder vielleicht nächstes Jahr den Kopf wieder in Ordnung zu kriegen. Manche dieser Gestalten sind herzzerreißend, ein paar auch gefährlich, solange sie durchhalten. Ich wusste, dass von der rancho aus schräggestellte Augen zusahen – aber das Haus war nicht einsehbar, und nur ein Dummkopf hätte sich darauf verlassen, dass ein Maya den einen alten gringo vor dem anderen schützte.
Aber als ich rauskam, saß er immer noch da, wo ich ihn zurückgelassen hatte, und sah auf den grellen Mühlgraben der See hinaus.
»Danke … vielmals.«
Er nahm einen langsamen, zittrigen Schluck, dann noch zwei und setzte sich aufrechter hin. Dann, bevor er noch mehr trank, schraubte er seine Feldflasche auf, spülte sie aus und füllte sie sorgfältig aus meinem Krug. Das Spülwasser goss er auf meinen kümmerlichen Kasuarina-Sämling. Ich sah, dass die Flasche unter ihrem kühlenden Lappen eine robuste, eloxierte Sealite war. Das Messer war ein erstklassiges, altes Puma. Auch waren seine abgetragenen Sandalen geflickt; und dass er sie trug, deutete zugleich auf Status und auf Vernunft hin. Als er das Glas erneut hob, leuchteten die Augen, die mich aus seinem sonnenverbrannten Gesicht anstarrten, in einem ruhigen, klaren, hellen Haselnusston.
Ich nahm meine Tasse kalten Tee und machte es mir gemütlich.
»Buut ka’an«, sagte der junge Mann, inklusive Maya-Knacklaut. »Der Stopfer.« Er ruckte mit seinem wilden Bart zu dem glosenden Sturm um uns herum und erklärte zwischen langsamen Schlucken: »So nennt man ihn … weil er bläst, bis er den Norden vollgestopft hat, verstehen Sie … und dann kommt es alles als Nordoster zurückgerauscht.«
Von der hiesigen Müllhalde wehte ein Fetzen meines Schreibmaschinenpapiers herüber. Der Fremde klatschte eine Sandale darauf, glättete es und steckte es zusammengefaltet zu seinen Sachen. Dabei bäumte sich plötzlich eine Palmwurzel in der Nähe auf und wurde zu einem großen Leguan. Das Wesen starrte uns über seinen Kehllappen hinweg mit der gespreizten Wachsamkeit an, die es aus dem Jura hierhergebracht hatte, ruckte zweimal anlaufmäßig und flitzte hektisch watschelnd davon, mit hocherhobenem Schwanz.
Wir grinsten beide.
»Noch mehr Wasser?«
»Gern. Sie haben gutes Wasser hier.« Er konstatierte es wie eine bekannte Tatsache, was auch zutraf.
»Wo hatten Sie Ihre Flasche gefüllt?«
»In Pájaros. Punta Pájaros. Weilchen her!«
Ich machte den Krug reichlich erschüttert noch mal voll. Alles Grundwasser kommt aus einer Lagunenmündung einen Kilometer weiter südlich. Selbst wenn man bedachte, dass er nach Norden unterwegs war, mit dem Wind – hatte dieser Mann oder Junge wirklich mit nur einer Flaschenfüllung die dreißig Meilen sengender, knochentrockener Sandbank zwischen hier und dem Leuchtturm bei Pájaros hinter sich gebracht? Zumal es in Pájaros gar kein Wasser gab; die Fischer, die dort ab und zu kampieren, nehmen immer ein Ölfass voll mit und halten sich ansonsten angeblich mit Bier und Tequila am Leben, und noch mit anderen Flüssigkeiten, die allgemein nicht als trinkbar erachtet werden. Kein Wunder, dass er die Flasche ausgespült hatte, dachte ich und ging mein Päckchen Mineralstofftabletten suchen. Man kann an dieser windigen Küste auch ohne den tosenden »Stopfer« unmerklich austrocknen, bis hin zur Herzinsuffizienz.
Aber er lehnte fast beiläufig ab und starrte weiter auf das Meer hinaus.
»Da sind doch alle Elektrolyte, die man braucht. Wenn man vorsichtig ist. Unser Blut ist eigentlich abgewandeltes Meerwasser … stimmt doch, oder?«
Es kam wieder Leben in ihn, und er sah mich direkt an, prüfend beinahe. Sein Blick wanderte zu der Zimmerecke hinter uns weiter, wo meine Bücherregale aus Treibholz durch die Glasschiebetüren, die sich schon lange nicht mehr schieben ließen, kaum zu sehen waren. Er nickte. »Ich habe gehört, dass Sie jede Menge Bücher haben. Muy pesados – schwere Bücher. Libros sicológicos. Stimmt das?«
»Ähm.«
Dieser Zufallsbesuch nahm einen unangenehmen Zug an. Wobei es mich nicht befremdete, dass dieser Mann etwas über mich wusste – der Klatsch strömte diese Küste seit dreitausend Jahren munter rauf und runter. Allerdings hatte ich jetzt den Eindruck, dass ihn eigentlich diese »schweren psychologischen Bücher« hierhergezogen hatten, und das machte mich nervös. Wie viele Experimentalpsychologen hatte ich oft schreckliche Schwierigkeiten, irgendwelchen besorgten Fremden zu erklären, dass sich ein umfassendes Wissen über das kognitive Verhalten von Ratten eben nicht klinisch anwenden ließ.
Aber seine Antennen waren bestens in Schuss. Er wickelte bereits seine Feldflasche ein und hängte sich sein Bündel wieder um.
»Hören Sie, ich wollte Sie nicht stören. Die Brise lässt nach. Nachher wird es schön. Wenn Sie nichts dagegen haben, gehe ich einfach zu dem angetriebenen Baumstamm da runter und ruhe mich ein bisschen aus, bevor ich weiterziehe. Danke für das Wasser.«
Die »Brise« heulte mit dreißig Knoten, und der große Mahagonistamm unten am Strand war im Flugsand kaum zu sehen. Wenn das ein Trick war, dann ein lachhafter.
»Nein. Sie haben mich bei nichts gestört. Wenn Sie noch abwarten wollen, dann bleiben Sie ruhig hier im Schatten.«
»Ich hab schon mal bei dem Stamm gepennt.« Er grinste mich aus seiner knochigen Höhe an. Sein Tonfall war nicht aufgesetzt, sondern einfach ruhig und entschieden, und seine Zähne waren sehr weiß und geputzt.
»Dann nehmen Sie wenigstens noch ein paar Grapefruits mit; ich habe mehr, als ich essen kann.«
»Oh, ja, gut …«
Im Rückblick lässt sich kaum sagen, an welcher Stelle und warum es mir anscheinend wichtig wurde, dass er nicht ging, sondern blieb. Auf jeden Fall hatte sich mein Eindruck von ihm ungefähr an diesem Punkt radikal geändert. Ich betrachtete ihn jetzt als kompetent, was diesen Landstrich und sein merkwürdiges Leben betraf, wie auch immer es aussehen mochte; zweifelsohne war er mir an Kompetenz voraus. Kein Treibgut. Und er brauchte auch nicht irgendwelche normale Hilfe. Aber im weiteren Verlauf des Abends gewann ich durch...




