Junker Die Evolution des Menschen
2. Auflage 2016
ISBN: 978-3-406-69117-1
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 2409, 128 Seiten
Reihe: Beck'sche Reihe
ISBN: 978-3-406-69117-1
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
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Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
1;Cover;1
2;Titel;2
3;Zum Buch;3
4;Über den Autor;3
5;Impressum;4
6;Inhalt;5
7;Die Deutungsmacht der Evolutionsbiologie;7
8;Homo sapiens? – Pan sapiens!;10
8.1;Welche Beweise gibt es für die Primaten-Abstammung der Menschen?;12
9;Von Affen zu Menschen;20
9.1;Der letzte gemeinsame Vorfahre – ein Schimpanse?;23
9.2;Die aufrecht laufenden Menschenaffen;24
9.3;Die ersten Menschen;28
10;Afrika und die Eroberung der Welt;32
10.1;Krieg oder Liebe?;33
10.2;Urheimat im Kaukasus;36
10.3;Die Eroberung der Welt;38
10.4;Neandertaler und Cro-Magnons;40
10.5;Ein neues Modell;43
11;Das evolutionäre Erbe: Fast Food und Othello-Syndrom;45
11.1;Der Sinn des Lebens;46
11.2;Fehlernährung und Übergewicht;48
11.3;Das Othello-Syndrom;50
12;Machiavelli und Leonardo da Vinci: Intelligenz als Anpassung;52
12.1;Schädelmessungen;54
12.2;Leonardo'sche Intelligenz;56
12.3;Machiavelli'sche Intelligenz;58
12.4;Fleisch, Feuer und die Entstehung der ersten Menschen;61
13;Sexualität und Strategien der Reproduktion;63
13.1;Warum Sexualität?;66
13.2;Kampf und Kooperation der Geschlechter;67
13.3;Cosi fan tutte?;69
13.4;Die Don-Giovanni-Strategie;72
13.5;Die Evolution des menschlichen Paarungssystems;74
14;Gesellschaft und Macht;78
14.1;Nutzen und Kosten sozialer Gruppen;81
14.2;Verwandtenselektion und Bündnisse auf Gegenseitigkeit;84
14.3;Familienbande: Ein Feind der Menschheit?;87
14.4;Die Erfindung des Feigenblattes;88
15;Kultur: Das zweite Vererbungssystem;92
15.1;Was ist Kultur?;93
15.2;Schimpansen- und Menschen-Kulturen;95
15.3;Die ältesten Belege: Steinwerkzeuge;97
15.4;Kommunikation und Sprache;99
15.5;Kunst: Die Notwendigkeit des Luxus;103
16;Die Neolithische Revolution;107
16.1;Europa: Kulturelle oder genetische Expansion?;111
16.2;Die biologische Zukunft der Menschheit;112
17;Weiterführende Literatur;116
18;Register;123
Homo sapiens? – Pan sapiens!
Am 14. Februar 1747 machte der berühmte Botaniker Carl Linnaeus seinem Ärger in einem Brief an den Sibirienforscher Johann Georg Gmelin Luft: «Ich frage Sie und die ganze Welt nach einem Gattungsunterschied zwischen dem Menschen und dem Affen, d.h. wie ihn die Grundsätze der Naturgeschichte fordern. Ich kenne wahrlich keinen und wünschte mir, dass jemand mir nur einen einzigen nennen möchte. Hätte ich den Menschen einen Affen genannt oder umgekehrt, so hätte ich sämtliche Theologen hinter mir her; nach kunstgerechter Methode hätte ich es wohl eigentlich gemusst» (Gmelin 1861: 55).
Was war geschehen? Zwölf Jahre zuvor hatte Linnaeus in der ersten Auflage seines ein äußerst ehrgeiziges Programm vorgestellt. Er wollte, wie er später schrieb, nicht weniger als «ALLES, was auf der Erde vorkommt», benennen und einordnen (1751: 1). Alles – dazu zählten für ihn nicht nur alle Arten der Pflanzen, der Mineralien und der Tiere, sondern selbstverständlich auch die Menschen. Die Art (vernünftiger Mensch), wie er sie nannte, bekam den ersten Rang zugewiesen, wurde aber zu den vierfüßigen Tieren (‹Quadrupedia›) gestellt und musste sich die Ordnung Anthropomorpha (die Menschengestaltigen) mit Affen und Faultieren teilen. Ab der zehnten Auflage des (1758) ersetzte er den Namen ‹Quadrupedia› durch ‹Mammalia› (Säugetiere), und aus den Anthropomorpha wurden die Primaten, von lateinisch: die Ersten. Die Faultiere entfernte er aus der direkten Nähe der Menschen (und ersetzte sie durch die Fledermäuse), aber an dem Punkt, der ihm die meiste Kritik eingetragen hatte, ließ er sich nicht beirren: Die Menschen blieben Teil des Systems der Natur, und sie standen nahe bei den Affen.
Aus heutiger Sicht mag man die Aufregung der Zeitgenossen von Linnaeus belächeln, schließlich hatte er nur ein Ordnungs-System geschaffen, das sich zudem lediglich auf gut abgrenzbare körperliche Merkmale bezog. Höhere geistige Fähigkeiten, beispielsweise die Sprache, hat nur der Mensch, davon war Linnaeus wie fast alle Naturforscher seiner Zeit überzeugt. In vielerlei Hinsicht war sein System also ein noch unsicherer erster Schritt. Zugleich markierte es aber den Beginn einer weltanschaulichen Revolution, deren Konsequenzen erst langsam ins Bewusstsein der Menschen treten. Von nun an waren sie ein Teil der Natur, eine Tierart unter vielen. Die uralte Frage nach der Natur des Menschen konnte nicht nur, nein, sie musste mit naturwissenschaftlichen Methoden untersucht werden. Philosophen und Theologen verstanden diese Kampfansage sehr wohl: Die Biologie würde von nun an selbst eine Anthropologie sein, eine Lehre vom Menschen.
Und heute? Welche Chancen hätte der Vorschlag, den «Menschen einen Affen zu nennen, oder umgekehrt»? Molekulargenetische Untersuchungen haben gezeigt, dass Menschen mehr als 98 Prozent ihrer DNA und fast alle Gene mit Schimpansen gemeinsam haben (mit Mäusen beispielsweise sind es rund 80 Prozent). Tierarten mit einem so geringen genetischen Abstand werden normalerweise einer einzigen Gattung zugerechnet. Die Menschen wären dann, wie Jared Diamond vor einigen Jahren anregte, neben Schimpansen und Bonobos die dritte Schimpansenart, (Diamond 1998; 2005). Linnaeus hätte sich über diese späte Rechtfertigung seiner Ideen durch die modernen Biowissenschaften wohl gefreut.
Linnaeus hat die Ähnlichkeit zwischen Menschen und Affen nicht als Folge materieller Verwandtschaft und Evolution gedeutet, sondern er glaubte, dass jede Art getrennt erschaffen worden ist. Einige seiner Zeitgenossen waren da weniger zögerlich, und bald begann man über Menschen als abgewandelte Affen, und umgekehrt, zu spekulieren. Durchgesetzt hat sich die Evolutionstheorie aber erst ein Jahrhundert später, als Charles Darwin zeigen konnte, wie sich die Eigenschaften der Lebewesen im Wechselspiel von Vererbung und Selektion verändern. Das natürliche System wurde zur Grundlage für den Stammbaum aller Organismen. Gemeinsame Abstammung, schrieb Darwin, sei «die einzige sicher bekannte Ursache von Ähnlichkeit bei Lebewesen» (1859: 456). Der Schluss von Ähnlichkeit auf Verwandtschaft ist nicht in allen Fällen zutreffend, bei Wahl geeigneter Merkmale und Methoden aber sehr wohl geeignet, zuverlässige Stammbäume zu erstellen.
Welche Beweise gibt es für die Primaten-Abstammung der Menschen?
Primaten sind eine Ordnung der Säugetiere mit rund 230 heute lebenden Arten. Feuchtnasenaffen (Strepsirhini) und Koboldmakis (Tarsiiformes) hat man früher als Halbaffen (Prosimiae) zusammengefasst. Die so genannten echten Affen werden in die Neuwelt-Affen Amerikas (Platyrrhini, Breitnasenaffen) sowie in die Altwelt-Affen Afrikas und Asiens (Catarrhini, Schmalnasenaffen) unterteilt. Zu den Altwelt-Affen zählen die Schwanzaffen (Cercopithecoidea) sowie die Menschenaffen einschließlich der Menschen (Hominoidea). ‹Primaten› ist also der wissenschaftliche Name für eine Tiergruppe, die man im Deutschen umgangssprachlich als ‹Affen› bezeichnet. In diesem Sinne stammen die Menschen selbstverständlich von Affen bzw. Menschenaffen ab, aber nicht von heutigen, sondern von fossilen Arten.
Abb. 2: Stammbaum der heute lebenden Primaten
Die Ursprünge der Primaten reichen mehr als 65 Millionen Jahre (MJ) in die Zeit der Dinosaurier zurück. Aus Fossilfunden und molekularbiologischen Daten weiß man, dass die gemeinsamen Vorfahren der sog. echten Affen (im Gegensatz zu den Halbaffen) vor rund 40 MJ in Afrika lebten. Von dort stammen auch die Neuwelt-Affen, die Südamerika entweder über den Atlantischen Ozean oder über die damals nicht völlig eisbedeckte Antarktis erreichten. Vor etwa 28 MJ trennten sich dann in Afrika die größeren, schwanzlosen Menschenaffen von den Schwanzaffen (Meerkatzen, Paviane u.a.). Bemerkenswert vollständige Fossilien früher Menschenaffen haben sich von Arten der Gattung in Ostafrika erhalten (20–17 MJ alt). Obwohl es sich bei wohl nicht um den direkten Vorfahren heutiger Menschenaffen handelt, vermittelt er doch einen Eindruck, wie dieser ausgesehen haben mag (Stewart & Disotell 1998).
Die meisten Primaten sind an das Leben in tropischen Wäldern angepasst. Das flache Gesicht, bei dem die Augen sich an der Vorderseite des Kopfes befinden, ermöglicht räumliches Sehen – lebenswichtig für Arten, die sich durch Hangeln, Klettern und Springen auf Bäumen und Ästen fortbewegen. Wenige Primaten wie Dscheladas, Husarenaffen und Menschen leben in offenem Gelände, wo sie auf dem Boden laufen müssen. Und nur Menschen sind schlechte Kletterer, da ihre Füße durch die Anpassung an ausdauerndes Laufen auf zwei Beinen die Greiffähigkeit verloren haben.
Proconsul
Anatomische Beweise
Bereits die Naturforscher des 18. Jahrhunderts wussten, dass Menschen in ihren anatomischen Strukturen bis in kleine Details mit den Menschenaffen übereinstimmen. Und obwohl einige Wissenschaftler ihren ganzen Ehrgeiz daransetzten, einen absoluten Unterschied zu finden – in der Zahl und Anordnung der Knochen, im Aufbau des Gehirns oder in anderen Eigenschaften –, erwies sich jeder dieser vermeintlichen Funde als trügerisch. So hat man eine Weile vermutet, dass Menschen der Zwischenkieferknochen fehlt, in dem bei Säugetieren die oberen Schneidezähne verwurzelt sind. Kein Geringerer als Johann Wolfgang von Goethe konnte zeigen, dass Menschen auch in diesem Detail mit den anderen Tieren übereinstimmen (Junker 2004 a: 42–3). Das Ergebnis der Suche nach einer qualitativen anatomischen Einzigartigkeit der Menschen war insgesamt negativ. Was man fand, waren quantitative Abweichungen – in den Proportionen von Armen und Beinen, in der Behaarung und Pigmentierung der Haut oder in der relativen Größe des Gehirns.
Molekularbiologische Beweise
Die Frage war also nicht mehr, , sondern Menschen mit den anderen Menschenaffen verwandt sind. Da sich die großen Menschenaffen in ihrer äußeren Erscheinung, der Art der Fortbewegung und im Verhalten von Menschen doch recht deutlich unterscheiden, vermutete die Mehrheit der Biologen bis in die 1990er Jahre, dass Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans untereinander näher verwandt sind als mit den Menschen, und vereinte sie in der Familie der Pongiden. Die Stammlinie, die zu den Menschen führt, hätte sich also zuerst abgespalten. Es war einer der großen Erfolge der Molekularbiologie, dass sie durch den Vergleich von Proteinen und DNA sowohl die Abstammungsverhältnisse als auch die annähernden Zeitpunkte der Aufspaltungen eindeutig bestimmen konnte. Eine der ältesten Kontroversen in der Primatenforschung war damit beigelegt.