Jussen | Die Franken | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 2799, 128 Seiten

Reihe: Beck'sche Reihe

Jussen Die Franken

Geschichte, Gesellschaft, Kultur
2. Auflage 2024
ISBN: 978-3-406-80020-7
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Geschichte, Gesellschaft, Kultur

E-Book, Deutsch, Band 2799, 128 Seiten

Reihe: Beck'sche Reihe

ISBN: 978-3-406-80020-7
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Seit dem 5. Jahrhundert zogen sich die römischen Kaiser aus den westlichen und nördlichen Teilen ihres Imperiums zurück. Unter den nachfolgenden Gesellschaften war jene die langlebigste, die wir heute mit den Königen der Merowinger und Karolinger verbinden. Bernhard Jussen beschreibt anschaulich, wie sich diese bunt gemischte, multiethnische Gesellschaft mit ihren Kreativitätszentren zwischen Rhein und Loire formiert hat, Hand in Hand mit der Etablierung der römischen Kirche. Er zeigt, was diese frühe nachrömische Gesellschaft, die wir 'die Franken' nennen, auch heute noch relevant macht.

Bernhard Jussen ist Professor für "Mittelalterliche Geschichte mit ihren Perspektiven in der Gegenwart" an der Goethe Universität inFrankfurt am Main.
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I. Was gehen uns «die Franken» an?


Wozu «die Franken»? Als sich die deutschen Länder im 19. Jahrhundert als ein einheitlicher Staat, eine Nation, zu erfinden suchten, war es nicht schwierig, Gründe für die Beschäftigung mit den Franken zu finden. Die Franken waren historischer Beweis der Zusammengehörigkeit und Größe jenes «Volkes», das sich 1871 «verspätet», wie man meinte, als Staat erzeugt hat. Weshalb aber sollten die Franken noch für unsere Gegenwart wichtig sein? Um die Fundamente jener Aspekte zu verstehen, die bis heute die Eigentümlichkeit des westlichen, des lateinischen Europa markieren, muss man den Blick sehr weit zurückwerfen, nämlich in jene Jahrhunderte, in denen das römische Imperium nur noch im griechischsprachigen Teil eine politische und kulturelle Gestaltungsmacht war. Im westlichen, lateinischsprachigen überdauerte es allenfalls noch als ferne Referenz und kulturelles Zitatenreservoir. Hier, in den vom Imperium zurückgelassenen – also poströmischen – Räumen formierte sich eine Reihe neuer Gesellschaften, von denen zwei sich als langlebig erwiesen – eine muslimische auf der Iberischen Halbinsel seit Beginn des 8. Jahrhunderts und eine christliche nördlich von Alpen und Pyrenäen seit dem späten 5. Jahrhundert. Letztere ist es, die man die «fränkische» nennt. Und diese Kultur ist gemeint mit der Beobachtung, «dass um das Jahr 1000 die grundlegende Arbeit in Europa bereits getan war» (z.B. Louis Dumont, Satish Saberwal). Was Europa heute ausmacht, kann man natürlich in nicht wenigen Aspekten auch mit dem Hinweis auf die Aufklärung zu bestimmen suchen, es lässt sich aber kaum verstehen ohne den Blick auf die ersten nachrömischen Jahrhunderte – auf die fränkische Gesellschaft des 5. bis 10. Jahrhunderts, um die es hier gehen soll.

Einige zentrale Aspekte: Diese Langzeitperspektive aus der heutigen Gegenwart war für die folgenden Kapitel mein Auswahlkriterium des Stoffes. Ich habe mein Augenmerk insbesondere jenen Hervorbringungen der fränkischen Kultur gewidmet, die bis heute die westeuropäischen Gesellschaften – als «Zivilgesellschaften» bezeichnen wir sie seit den 1990er Jahren – unterscheiden von anderen großen Kulturen der Welt. Um einige Aspekte zu nennen:

(1) Ehrenmord – Mädchentötung – Ehe – Verwandtschaft: Warum kam man im lateinischen Europa nie auf die Idee, neugeborene Mädchen zu töten, während diese Praxis in anderen Kulturen, Indien und China besonders, bis heute ein Problem ist? Und warum sind und waren Ehrenmorde in den meisten Teilen des lateinischen Westens kein Thema? Dies liegt an einer spezifischen Vorstellung und rechtlichen Ausformung von Familie und Verwandtschaft, die sich in der fränkischen Welt herausgebildet und als nachhaltiger Faktor zur Formierung der lateinischen Gesellschaften erwiesen hat: Die massive Forcierung der monogamen, untrennbaren Ehe bedeutete zugleich die Schwächung der ahnenorientierten patriarchalischen Verwandtschaftsverbände (S. 101).

(2) Ehe gegen Ahnenverband: Die christlichen Gemeinschaften haben sich zwar überall – in der griechischen Welt, in den christlichen Kulturen jenseits der Grenzen des römischen Imperiums – als ahnenfeindliche Gemeinschaften formiert. Allenthalben haben sie Ahnenkult abgelehnt, und überall etablierten sich zumindest ihre hohen Amtsinhaber als Gruppen von Ehelosen. Dadurch unterschieden sich alle Christentümer von Judentum oder Islam. Aber nur in der lateinischen Welt hatte die Institutionalisierung dieser Ahnenfeindlichkeit erhebliche politische Folgen. Warum? Weil nur hier das politische System (jenes der römischen Kaiserzeit) so vollständig zusammengebrochen war, dass nur die Kirche als dominantes Sinnsystem übrig blieb und für mehrere Jahrhunderte – bis ins 11. – zugleich als einziger Denkrahmen des Politischen funktionierte. «Kirche» war das politische Denkmodell (S. 86).

(3) Totensorge: Im fränkischen Europa ist die Totensorge – Kernelement jeder vormodernen Gesellschaft – fundamental neu geregelt worden, und zwar in einer im Kulturvergleich einzigartigen Weise: Totensorge war nicht mehr wie in der römischen Gesellschaft Aufgabe der männlichen Nachkommen, sondern kirchlicher Spezialisten und hinterbliebener Ehefrauen und -männer (S. 105).

(4) Ein Riesenarchiv an Gegenmeinungen: Im Machtbereich der fränkischen Herrscher sprach man in vielen Regionen nicht fränkisch, sondern langobardisch oder okzitanisch und einiges andere. Eine noch für Jahrhunderte folgenschwere Leistung jener Kultur hat gewährleistet (wenngleich dies nicht die Intention gewesen sein mag, vgl. S. 115), dass ein – unter den damaligen Kommunikationsbedingungen riesiger – Raum regierbar war: die Entscheidung für Latein als politische Sprache und das strenge Kodifizieren und grammatische Festlegen der seinerzeit noch in allerlei Dialekten lebenden, sich andauernd verändernden lateinischen Sprache. Bis zur Karriere der Stadtkommunen seit dem 12. Jahrhundert blieb Latein die Sprache des Politischen, bis weit ins Europa der Staaten die Sprache der Universitäten und bis ins 20. Jahrhundert die Sprache der katholischen Liturgie. Dieser Festlegung der politischen Kultur auf das Lateinische verdanken wir das Überleben des überwiegenden Teils der lateinischen Literatur aus römischer Zeit. Das Gros dieser Texte ist zwischen 800 und 900 in klösterlichen Schreibstuben kopiert worden und nur deshalb bis heute erhalten. Diese gigantische Arbeit des Abschreibens hatte nicht zuletzt den Effekt, dass die fränkische Gesellschaft ein Riesenarchiv vorchristlicher Ideen angelegt hat, die den seinerzeit herrschenden Auffassungen – in sakraler, sozialer wie politischer Hinsicht – widersprachen. Jederzeit konnten Neugierige in einer Hof-, Dom- oder Klosterbibliothek in einen Bücherschrank greifen und einen vergessenen römischen Text herausziehen, dessen Inhalt weit jenseits des Tolerablen war und das Denken dramatisch in Unordnung brachte. Immer wieder ist dies schon neugierigen Mönchen und sicher auch Nonnen des 9. Jahrhunderts passiert, erst recht späteren Entdeckern dieser fränkischen Abschriften seit der Entstehung der Universitäten (S. 114).

(5) Der Herrscher bleibt Laie: Eine Weichenstellung für die Geschichte des lateinischen Europa war fällig, als die fränkischen Könige ins Gehege der päpstlichen Politik gerieten. Die Könige haben es trotz einiger Anstrengungen (S. 93) nicht geschafft, ihr Verhältnis zum Oberhaupt der lateinischen Kirche so zu regeln wie die Kaiser in Konstantinopel ihr Verhältnis zum Patriarchen. Die römischen Kaiser am Bosporus haben die Praxis der vorchristlichen römischen Kaiserzeit fortgesetzt und ihre eigene Hoheit auch in Sakralfragen durchgesetzt. Der Patriarch war immer – auch in kirchlichen Fragen – untergeordnet. Die fränkischen Herrscher hingegen haben die Genese jener politischen Grundspannung hinnehmen müssen, die im 11./12. Jahrhundert zunächst zum politischen Eklat führte, als es darum ging, ob der König Einfluss nehmen dürfe auf die Besetzung der Bischofsämter («Investiturstreit»), und dann die Autonomisierung des politischen Feldes vom kirchlichen Feld ermöglicht hat.

(6) Die alte Elite erfindet das neue politische System: Als seit etwa 500 in Gallien eine neue – fränkische – politische Kultur Kontur gewann, konnte sie auf Strukturen aufbauen, die in der Zeit des politischen Vakuums im 5. Jahrhundert entstanden waren: Die gallischen Magnatenfamilien – ehemals politische Mitspieler im römischen Imperium, nun mehr oder weniger haltlose Figuren in einer von den Kaisern zurückgelassenen Region – hatten sich des Bischofsamtes bemächtigt und dieses zu einem lokalen politischen Amt umfunktioniert. Sie hatten den Bischof zum Stadtherrn verwandelt und damit – mangels Alternative – das kirchliche Amt für ihre eigenen politischen Ambitionen interessant gemacht. Dabei ist die Grundstruktur eines politischen Bistümernetzes entstanden, auf der bald die fränkische politische Kultur fußen sollte. In keiner der anderen christlichen Gesellschaften rund um das Mittelmeer hat es eine ähnliche Transformation gegeben (S. 26), kein Magnat in «Neu Rom» am Bosporus hat sich aus politischen Gründen für das Bischofsamt interessiert (denn es gab...


Bernhard Jussen ist Professor für "Mittelalterliche Geschichte mit ihren Perspektiven in der Gegenwart" an der Goethe Universität inFrankfurt am Main.



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