E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Kaçi Irgendwann in Istanbul
13001. Auflage 2013
ISBN: 978-3-522-65228-5
Verlag: Planet! in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
            ISBN: 978-3-522-65228-5 
            Verlag: Planet! in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH
            
 Format: EPUB
    Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Karin Kaçi, 1976 in Deutschland geboren und zwischen drei Kulturen und noch mehr Obstbäumen in der Nähe von Köln aufgewachsen, hat als Tochter einer armenischen Familie aus der Türkei sowohl zum Okzident als auch zum Orient Bezug. Die Hälfte ihrer Verwandtschaft ist in den 60er- und 70er-Jahren nach Deutschland ausgewandert, die andere Hälfte lebt weiterhin in ihrer Lieblingsstadt Istanbul. Nach dem Abitur war Karin Kaçi in einer Kostümwerkstatt und in einem Pressevertrieb tätig, studierte zwei Jahre lang Pädagogik und absolvierte dann eine Ausbildung zur Mediengestalterin für Digital- und Printmedien. Seit Abschluss ihres Film-Studiums im Bereich Drehbuch an der ifs internationale filmschule köln 2005 ist sie als freie Autorin für Film, Fernsehen, Prosa und Hörspiel tätig. In ihren Arbeiten beschäftigt sie sich immer wieder mit dem Leben zwischen verschiedenen Kulturen, das in der Jugend anstrengend und nervig sein kann - später aber nur noch bereichernd ist.
Weitere Infos & Material
1
Meine Mutter hatte mich gewarnt. Bei einem Flug in die Türkei sollte ich nicht zwei Stunden vorher am Check-in-Schalter sein.
»Die meisten werden schon drei Stunden vorher dort sein, um die längste Schlange des Terminals zu bilden. Die Hälfte wird Probleme mit dem Gepäck haben. Egal, ob zwanzig oder zweihundert Kilo zugelassen sind, sie werden immer zu viel mitbringen und über die paar Gramm mehr oder weniger mit dem Personal diskutieren. Dann werden sie versuchen, einen ihrer Koffer auf das Ticket ihres Hintermannes abzuwälzen, der natürlich zustimmt, nicht ahnend, dass auch er selbst zu viel Gepäck dabeihat. Aber, wie es der Zufall will, hat der ebenfalls einen hilfsbereiten Hintermann, der keine Waage besitzt. Und so rollt die Last von einem zum anderen, bis sich ein riesiger Kofferball bildet und der Letzte in der Schlange dreihundertsiebenundfünfzig Kilo Übergewicht auf die Waage bringt.«
Als ich ankam, schlängelten sich die Passagiere des Istanbulflugs bereits quer durch die Halle, vom Schalter der Airline bis zur hinteren Glasfront. Zwei Männer um die vierzig mit Laptops, drei blonde Pärchen mit olivgrünen Hosen und Hightech-Rucksäcken, eine Menge Otto-Normalverbraucher-Familien mit dunklen Haaren, kleinen Handtaschen und mittleren Rollkoffern, und nur ein einziger schnurrbärtiger Dorfältester mit brauner Wollweste und einer Ehefrau mit langem Mantel und Kopftuch. Von Fernsehern, Dieselmotoren und Waschmaschinen keine Spur. Meine Mutter übertrieb gerne.
Seit mehr als einer Stunde saß ich am Flughafen und schaute dem Trubel zu. Tatsächlich bewegten sich die Wartenden sehr langsam vorwärts, aber von einer Kofferlawine rückwärts war nichts zu sehen. Dennoch würde ich meinen Sitzplatz erst verlassen, wenn das letzte Gepäckstück des letzten Passagiers hinter dem grauen Gummivorhang verschwunden war, denn auch handlich wirkende Koffer konnte man mit einem Haufen Kingsize-Vollnuss-Schokoladentafeln bepacken, das wusste ich von meiner Oma.
Ich flog das erste Mal alleine in die Türkei und mochte nicht gleich mit einer dreihundertsiebenundfünfzig Kilo schweren Last ankommen.
Ich durfte nur nicht den Absprung von dieser Bank verpassen. Immer wieder schüttelte ich meine Beine, um das nervöse Kribbeln loszuwerden. Es war spät am Abend, in der Nacht zuvor hatte ich kaum geschlafen und allein der Gedanke an ein mögliches Übergewicht versetzte mich in Lähmung.
Meine Mutter wusste nichts von meiner Flugangst. Ich selbst hatte bis vor einer Stunde nichts von ihr gewusst. Ich konnte nicht mal ausmachen, ob es überhaupt Flugangst war, aber eine Anspannung umklammerte meinen Körper, betonierte meine Füße in den Boden und fesselte meine Arme an die Rücklehne der Bank. Mein Blick fixierte sich auf die Fliesen, die hoffentlich nicht plötzlich wegsacken würden. Stabil, stabil, stabil, rotierte es in meinem Kopf. Als ich wieder aufschaute, war der stabile Steinboden vor dem Check-in-Schalter leer gefegt. Die Mitarbeiterinnen scharten sich um ihren einzigen männlichen Kollegen und lachten ein Feierabendlachen. Ruckartig riss ich meine Ellbogen aus den imaginären Schnallen, mein Kaffee schwappte aus dem Becher und verwandelte sich in einen hellbraunen Springbrunnen.
»Hey! Pass doch auf!«
Fast wäre die Automatenplörre auf einem iPad gelandet und hätte mich ein paar Hunderter mehr gekostet, aber die Beine darunter hatten sich rechtzeitig weggedreht.
»Der war kalt«, stotterte ich.
»Ja dann.«
Der Junge neben mir schüttelte verständnislos den Kopf, bemerkte nun aber auch die Leere um sich herum und sprang auf. Er war groß, wie konnte ich ihn übersehen haben? Hinter sich her zog er einen ausgebeulten Rollkoffer, auf dem noch ein silberner Hartschalenkoffer lag, mit der anderen Hand schleifte er eine prall gefüllte Reisetasche über die Fliesen und hatte neben einer Laptoptasche noch eine Art Multifunktionsbag, riesig und übersät mit Seitenfächern, um die Schulter hängen. Er musste eine Menge Zubehör transportieren. Nur sein Jutebeutel drohte nicht auseinanderzuplatzen. Der hing schlaff an der anderen Schulter herunter und diente bloß als Fläche für einen dieser lustigen Sprüche.
Der Name einer Supermarktkette machte aus keinem Stoffbeutel ein modisches Accessoire, aber wenn in schwarzen Schreibmaschinenlettern Fake it till you make it auf einer Tasche stand, dann war das in Kombination mit engen blassroten Stoffhosen, einem lockeren Seitenscheitel und dicken schwarzen Fensterglasbrillen ein Zeichen von Stilsicherheit.
Den Spruch kannte ich schon von Olli. Er hatte ihn mir auf den Oberschenkel gekritzelt, als ein wichtiges Referat in der Uni anstand. Damit ich selbstbewusst an die Sache heranging, auch wenn der Text nicht von mir stammte.
Ich folgte dem schwer beladenen Jungen, der zwar keine Brille und auch keine blassrote Hose trug, aber er musste trotzdem ganz gut im Faken sein, denn nichts an ihm wirkte unsicher, weder modisch noch motorisch. Trotz der schlaksigen Statur konnte sein Mördergepäck ihn nicht aus dem Gleichgewicht bringen. Er ging zum Check-in-Schalter für den Flug nach Istanbul. Mir blieb also nichts anderes übrig, als mich hinter ihm anzustellen. Er diskutierte auch nicht lange und drehte sich gleich zu mir um.
»Hast du viel Gepäck dabei?«
Er musterte meinen federleichten Rollkoffer und ich seine Haare, seine Haut, seine Augen. Sie waren hellbraun, blass, grün und hellwach. Sie waren null Komma null türkisch und eigentlich ganz sympathisch.
Seine Sechs-Kilo-Reisetasche wurde auf meinem Ticket vermerkt. Auf dem Weg zum Gate bog er zu Burger King ab und ich malte mir aus, was wohl in dieser Tasche war. Das Boarding hatte bereits begonnen. Vielleicht würde er den Flieger verpassen und ich hätte eine Surf-Ausrüstung gewonnen. Ich würde in den nächsten drei Wochen vormittags das machen, weshalb ich nach Istanbul flog, und nachmittags würde ich surfen gehen. Gerade als mir der Gedanke kam, es könnten auch sechs Kilo Heroin sein und ich könnte die drei Wochen plus tausendzweihundertdreißig weitere in ostanatolischer Haft verbringen, winkte mich die Frau vom Bodenpersonal durch die Schleuse Richtung Flugkabine. Ehe ich darüber nachdenken konnte, saß ich als zuletzt eingecheckter Passagier festgeschnallt in der hintersten Reihe eines verdammt schmalen Fliegers, den andere Fluggesellschaften aussortiert hatten. Seit mein Kaffee übergeschwappt war, hatte ich nicht mehr an meine unbestimmte Angst gedacht. Vielleicht war es auch nur Aufregung oder das Gefühl, etwas zurückzulassen, das endgültig verschwinden könnte.
Mein Magen zog sich zusammen und mir wurde schlagartig klar, dass ich fünf Stunden vorher am Schalter hätte sein müssen, um mir den Platz am Notausstieg zu sichern und anschließend einen Betäubungsmitteldealer zu finden. Aber nun saß ich bei vollem Bewusstsein im hintersten Eck und hielt mir vor Augen, dass es nur drei Möglichkeiten gab, auf direktem Wege von Deutschland nach Istanbul zu gelangen, den Seeweg mal ausgeschlossen.
Als Kind hatte ich immer davon geträumt, mit dem Orient-Express nach Istanbul zu fahren und dabei ein Verbrechen aufzudecken. Meine Oma diente mir dabei als Miss Marple. Später würde sie sicher einen grauen Lockenkopf haben, dachte ich damals. Verbrechen gab es genug, nur die Haare meiner Oma blieben pechschwarz und glatt, und ich erfuhr, dass der Orient-Express von Berlin nach Konstantinopel bereits 1902 eingestellt worden war. Siebzig Jahre später auch der Tauern-Orient, die letzte direkte Zugverbindung zwischen Deutschland und der Türkei. Blieben also das Auto, der Bus und das Flugzeug.
Meine Oma war mit dem Auto nach Deutschland gekommen. Obwohl ihr Schwager Bedros, der Fahrer, während der Reise kaum geschlafen hatte und sein Wagen so gut wie neu gewesen war, hatten sie fast drei Tage gebraucht. Doch Bedros hatte es sich nicht nehmen lassen, sie höchstpersönlich abzuholen. Er war der Bruder meines Opas und der Erste aus seiner Familie, der die Türkei verließ. Auch er war nicht mit dem Tauern-Orient gefahren, sondern mit dem Taxi.
Sein Vater mochte ihn nicht zu den Menschenmassen in den Zug setzen. Mein Uropa zahlte lieber siebenhundert Lira, um ein özel araba zu mieten, ein Auto mit Fahrer, das seinen ältesten Sohn von Istanbul ins Rheinland kutschierte.
»Siebenhundert Lira. Das war damals eine Menge Geld. Das waren siebenundsiebzig Dollar. Dollar! Nicht Lira! Dollar!«, rieb mein Opa seinem Bruder bis heute unter die Nase, wenn er kein Kleingeld hatte, um das verlorene Kartenspiel zu zahlen. Die siebenhundert Lira hätte sich die restliche Familie angeblich vom Munde absparen müssen. Nichts als dicke Bohnen hätten sie gegessen, meinte mein Opa. Obwohl ihm das niemand abnahm, fühlte Bedros sich später dennoch verpflichtet, seinen Brüdern und deren Frauen den gleichen Service zukommen zu lassen, den er genossen hatte.
1973 hatte er bereits sieben Jahre in Köln-Niehl bei Ford gearbeitet, um sich den so gut wie neuen Audi zu kaufen und damit nacheinander meine Oma und seine zwei anderen Schwägerinnen, dann meinen Opa und schließlich ihre beiden jüngeren Brüder und meine Mutter, die damals noch ein kleines Kind war, aus Istanbul abzuholen.
Die Frauen kamen zuerst – ohne Männer, ohne Deutsch und ohne längerfristigen Plan. Das Einzige, was sie mitbrachten, waren drei Koffer und drei Arbeitsverträge. Meine Oma hatte ihre Stelle als Lehrerin gekündigt, um als Küchenhilfe in einem kleinen Familienhotel in Rothenburg ob der Tauber zu arbeiten, Schwägerin 1 hatte eine Anstellung als Näherin in Wuppertal ergattert und Schwägerin 2 als Akkordarbeiterin in einer...




