E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Kaiblinger Und täglich grüßt der Weihnachtsmann/kobold
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-98642-006-2
Verlag: Dressler
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-98642-006-2
Verlag: Dressler
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sonja Kaiblinger, Jahrgang 1985, ist Theaterwissenschaftlerin und ausgebildete Sprecherin. Die vielseitige Autorin hat unter anderem als Werbetexterin, Redaktionsleiterin und Lehrerin gearbeitet.
Weitere Infos & Material
1. Kapitel
»O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie grün sind deine Blääää…«
»Du bist blöd! Nadeln! Tannenbäume haben keine Blätter!«
»Selber blöd!«
»Sei still und spiel weiter!«
Wie zum Trotz spielte Lena einen besonders lauten, schiefen Ton, der Mark unsanft aus seinem Traum hochschrecken ließ. Sein Herz klopfte bis zum Hals, und er brauchte einige Zeit, um zu sich zu kommen. Wo war er? Oh, er war in seinem Bett. Und seine Zwillingsschwestern Luna und Lena saßen auf der Bettkante. Luna spielte schief , während Lena krumm dazu sang.
Oh Mann, das war Folter! Mark warf einen Blick auf den Wecker. Fast zwölf Uhr mittags. Das war wohl die Strafe, wenn man so lange schlief.
»Guten Morgen, Markie-Mark!«, kreischten die beiden, als sie mitbekommen hatten, dass er aufgewacht war, und fielen ihm dabei um den Hals. Sie trugen die gleichen Schlafanzüge und waren auch sonst kaum auseinanderzuhalten. »Heute ist Weihnachten! Weihnachten! Schau mal! Draußen liegt Schnee!«
Müde rieb Mark sich die Augen. Weihnachten. Das war der mit Abstand anstrengendste Tag im Hause der Familie Schumann. Noch anstrengender als der Geburtstag der Zwillinge. Oder der erste Schultag im Jahr. Fünf Kinder, alle zwischen sieben und achtzehn, davon das älteste Kind außer Haus, dazu Mama, Papa und Oma Erna, sorgten Jahr für Jahr am vierundzwanzigsten Dezember für Chaos. Und dann war da noch Großonkel Rolf. Aber eigentlich zählte der gar nicht, weil man von dem kaum etwas mitbekam. Doch das war eine lange Geschichte.
»Tatsächlich. Schnee«, murmelte Mark bereits genervt vom Tag, als er die weiße Pracht vor dem Fenster entdeckte. Schnee hatte es dieses Jahr schon eine Menge gegeben, deshalb war er nicht so begeistert wie seine kleinen Schwestern. Irgendwann nutzte sich die Sache mit dem Schneemannbauen auch ab.
Doch Moment mal. Da draußen war noch etwas anderes. Jemand hatte eine Koboldfigur außen auf Marks Fenstersims gestellt. Es war ein kleiner, genervt dreinschauender Wicht, vermutlich aus Plastik, mit Ringelmütze und Ringelhose, der an der Scheibe lehnte und, so schien es, geradewegs in Marks Schlafzimmer glotzte. Wollten seine Schwestern Mark damit etwa erschrecken? Er schüttelte den Kopf. Netter Versuch.
»Und Jahr für Jahr noch mehr scheußliche Deko«, grummelte er. »Habt ihr diese hässliche Koboldfigur da draußen hingestellt?«
Mark blickte von seinen Schwestern zurück zum Kobold. Bildete er es sich ein, oder guckte der plötzlich noch grimmiger?
Die Zwillinge sahen sich verwundert an. In diesem Moment flog die Tür auf und Marks neunjährige Schwester Jenny stürmte in sein Zimmer. Ihre blonden Haare waren leicht zerzaust, aber ihre grünen Augen blitzten aufgeweckt. Sie schien schon seit Stunden wach zu sein.
»Guten Morgen, du Weihnachtsmuffel!« Sie kletterte auf Marks Bett, sprang einige Male so wild darauf herum, bis Mark beinahe herausfiel, und kuschelte sich danach an ihn. Sie roch nach Keksen und ihrem Glitzerparfüm. »Heute ist Weihnachten! Und es hat wieder geschneit! Das ist der tollste Tag seit … seit Papa heimlich unser Taschengeld verdoppelt hat!« Sie kicherte. »Und noch was … Ich muss dir unbedingt mein Geburtstagsgeschenk zeigen. Ich habe einen Detektivkoffer bekommen. Die Party gestern war supermegafantastisch. Zu blöd, dass du sie verpasst hast.«
»Ja, sorry! Jonas hat mich eingeladen, auf seiner Konsole zu spielen«, erklärte er. Und zugegeben, große Lust hatte er auf die Party auch nicht gerade gehabt. Erst Jennys unzählige Geschenke, die sie bestimmt bekommen hatte, und dann noch die Tatsache, dass er die ganze Großfamilie die nächsten Tage ohnehin noch am Hals haben würde.
»Schade.« Jenny ließ den Kopf hängen. »Na ja, erst hat Oma die teuren Pralinen aufgemacht, aber die schmeckten nach Kotze … eklig. Dann gab es eine Torte und dann hat jeder von uns …«
Mark ignorierte Jennys Plapperschwall, schälte sich aus dem Bett und machte sich auf zur Badezimmertür, während Jenny weiter um ihn herumtänzelte. Im Flur roch es schon nach Tannennadeln und Plätzchen, aber das kümmerte Mark nicht. Er musste mal dringend auf die Toilette. Und für Jennys Erzählungen über ihre gestrige Geburtstagsparty hatte er so gar keinen Nerv. Schlimm genug, dass sie in kurzer Zeit gleich zweimal Geschenke abkassierte. Unfair war das.
Das Badezimmer war versperrt.
»Was dauert denn da so lange?«, murmelte Mark. Der Boden war eiskalt und er hatte keine Socken an.
»Ich muss auch pieseln«, gab Jenny zu.
»Und ich erst.« Auch Papa wartete vor dem Klo. Und wie es aussah, war es bei ihm am allerdringendsten, er hatte schon ganz rote Wangen. Und die Ader auf seiner Stirn pochte. »Mist, ich hätte die Flasche Cola heute Morgen nicht trinken sollen.«
»Oma ist da drin. Gerade eben erst rein, es könnte also noch Stunden dauern«, erklärte Jenny.
»Ich hab’s vermutet. Das Schwiegermonster.« Papa verzog das Gesicht. Er zoffte sich ganz gerne mit Oma Erna, die auf dem Dachboden wohnte. Sie konnte manchmal eine echte Diva sein, was Papa zur Weißglut trieb.
»Aber wieso schminkt sie sich eigentlich nicht oben bei sich, wie sonst immer?«, fragte Jenny.
»Vielleicht passt sie unters Dach nicht mehr rein«, witzelte Papa.
Mark unterdrückte ein Grinsen. Oma war ganz schön füllig, trotzdem war es seltsam, dass sie sich heute hier im ersten Stock verschanzt hatte. Offenbar wollte sie sich besonders schick machen und brauchte den großen, beweglichen Spiegel im Bad.
»Ein brauche noch, Kinderleins«, flötete sie mit französischem Akzent.
»Mist, Mist, Mist! Ich glaube, meine Blase explodiert«, fluchte Papa. Er wackelte von einem Bein aufs andere. Dann schien er einen Entschluss zu fassen, nahm die Treppe, flitzte ins Erdgeschoss und schrie hinterher: »Guckt nicht aus dem Fenster! Und erzählt bloß Mama nichts davon!«
»Hä? Aus dem Fenster? Was meinst du? Wir haben doch nur ein Klo«, rief Jenny hinterher. »Oder hast du etwa im Garten ein Plumpsklo aufgebaut?«
Streng genommen gab es im Haus zwei Toiletten. Die eine, die Oma gerade versperrte, und eine zweite im Keller bei Großonkel Rolf. Aber die war für Mark keine Option. Bestimmt ging es Papa genauso. Eher würde sein Vater …
»Igitt«, rief Jenny, die am Fenster stand. »Papa pinkelt an den Gartenzaun!«
Mark hob den Kopf. »Also doch.« Das hatte er schon vermutet. »Aber hoffentlich nicht an den von Herrn Jablonsky!«
Doch auch das bestätigte sich. Papa hatte sich ausgerechnet diese Gartenzaunseite ausgesucht, dabei hätte er lieber die Seite von Frau Schmidt nehmen sollen, die schon ziemlich kurzsichtig war. Mark sah, wie Papa tief erleichtert die Schultern fallen ließ, da stürmte auch schon Herr Jablonsky aus dem Haus.
Bestimmt hatte er nur darauf gewartet, dass es mit uns Schumanns wieder Ärger gab. Nach Großonkel Rolf war Herr Jablonsky der zweitunfreundlichste Mensch der Welt.
»Haben Sie etwa zu viel Weihnachtspunsch getrunken, Sie Weihnachtsferkel?«, rief Herr Jablonsky. Sein kahler Kopf und sein entschlossener Gesichtsausdruck erinnerten Mark an einen Boxer vor seinem Kampf.
Das war gar nicht gut!
»Ich …«, stammelte Papa, der ganz schön verlegen schien. »Herr Jablonsky! Es tut mir unendlich …«
Aber da war es schon zu spät. Herr Jablonsky holte aus und verpasste Papa eine Ohrfeige, über den Zaun, mitten am Kinn. Papa stöhnte auf und sank in den Schnee, während Herr Jablonsky wütend zurück in sein Haus stapfte.
»An meinen Zaun zu pinkeln. An Weihnachten. Die Schumanns haben nicht alle Tannennadeln am Baum«, blaffte Herr Jablonsky. Dann knallte er die Gartentür so fest hinter sich zu, dass der Weihnachtskranz daran zu Boden fiel.
»Alexander! Was ist denn passiert? Musst du dich schon wieder mit Jablonsky streiten?« Jetzt lief Mama in den Garten und zerrte Papa am Arm vom Zaun weg. Dann wandte sie sich nach oben zu Mark und Jenny. Sie sah ziemlich verärgert aus. »Und ihr beide! Zieht den Zwillingen ihre Kleidchen an! Und wascht euch. Mark, du bist außerdem immer noch im Schlafanzug! Was soll der Weihnachtsmann von euch denken?«
»Wie sollen wir uns denn waschen, wenn Oma alles hier blockiert?«, rief Mark patzig aus dem Fenster. Dass er an den Weihnachtsmann doch gar nicht glaubte, hätte er Mama bei der Gelegenheit auch ganz gerne gesagt. Aber Jenny und die Zwillinge glaubten an den Mann mit dem Rauschebart. Und das wollte Mark ihnen nicht verderben.
»Dann geht doch in den Keller«, befahl Mama.
»In den Keller des Schreckens?« Jenny und Mark sahen sich schockiert an.
Eigentlich wäre ein kurzer Besuch im Keller nicht weiter schlimm gewesen. Wenn nicht Großonkel Rolf dort gewohnt hätte. Großonkel Rolf sprach wegen eines Streits kein Wort mehr mit der Familie. Schon seit einer Ewigkeit nicht mehr.
Außerdem war Großonkel Rolf echt gruselig. Er hatte hellbraune, fast gelbliche Augen, lange Haare und sah aus wie ein Zombie, vor allem, wenn man ihm nachts begegnete.
Er war schlimmer als Jablonsky und sein Kinnhaken.
Viel schlimmer.
Nachts hätte Mama die beiden bestimmt nicht in den Keller geschickt.
»Rolf ist ohnehin nicht da. Der ist bei seinem Motorrad-Klub, so wie jeden Samstag«, rief Mama noch, dann drehte sie sich um und marschierte mit Papa, der wie ein nasser Sack an ihrer Schulter hing, in Richtung Küche davon.
»Na gut, mir egal, was du machst, aber ich gehe da jetzt runter, auf Grusel-Großonkel Rolfs Klo. Ich muss echt superdringend«, erklärte Mark und seufzte. Wenn er das Bad im Keller benutzte, hatte er wenigstens...




