Kaiser-Mühlecker | Magdalenaberg | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Kaiser-Mühlecker Magdalenaberg

Roman
1. Auflage 2009
ISBN: 978-3-455-40244-5
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

ISBN: 978-3-455-40244-5
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der Jürgen-Ponto-Preisträger Reinhard Kaiser-Mühlecker überzeugte 2008 mit seinem Debüt "Der lange Gang über die Stationen", über den Richard Kämmerlings in der Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb: "Ein Buch, das genauso aus der Zeit gefallen scheint wie seine Hauptfigur, und das genauso unvergesslich bleibt." Sein zweiter Roman Magdalenaberg erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der nach dem Tod seines Bruders ganz neu über sein Leben, seine Vergangenheit und sich selbst nachdenken muss.

Es gibt Situationen, die das Ende der Kindheit bedeuten, die einen plötzlich zu einer Entscheidung befähigen, für die man doch eben noch eigentlich nicht alt genug war. So erinnert sich Joseph, der Ich-Erzähler in Reinhard Kaiser-Mühleckers neuem Roman, wie er nach einer Demütigung zum Pfarrer gegangen war, um ihm mitzuteilen, daß er ab jetzt nicht mehr ministrieren wird; danach war er vor den Vater getreten, um ihm diese Neuigkeit auch mitzuteilen. Und es gibt überhaupt Situationen, in denen ein Ende geschieht, das Ende einer Liebe zum Beispiel. Man sieht sich weiterhin, spricht miteinander, lebt noch zusammen, dennoch ist klar, es ist vorbei. Katharina geht und verläßt Joseph am Morgen, nachdem sie ihm endlich von Thomas erzählt hat; irgendwie war auch das Geheimnis zwischen ihnen damit verlorengegangen. Und Joseph bleibt in seinem Haus zurück, wissend um die Endgültigkeit dieses Endes, aber mit einem tiefen Erstaunen darüber, daß er nichts dagegen unternommen hatte.
Magdalenaberg erzählt von Joseph, einem jungen Mann, der eigentlich an seiner Abschlußarbeit sitzt, dem sich aber nach dem Tod seines Bruders Wilhelm ganz andere Lebensfragen stellen. Wieder fasziniert die so ruhige und doch dramatische Erzählweise und der genaue Blick dieses jungen Autors.

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Rückblickend weiß ich gar nicht, wo er immer war. Es ist, als hätte er, zumindest damals, in der Kindheit, in einer anderen Zeit und in einer anderen Welt gelebt – und nur eine Handvoll Personen, ich etwa, auch die Mutter, weniger der Vater, dem er immer fremd geblieben war, mit dem er nur Sachlichkeiten, wenn überhaupt, besprechen konnte, hätten zeitweilig Zugang zu ihm gehabt. Freilich war er da, war er anwesend, natürlich wurde auch er irgendwann, ein paar Jahre nach mir, eingeschult, fuhren wir dann im selben Bus am Morgen, er Volks- und ich schon Hauptschüler – doch ich sehe ihn nicht richtig. Draußen, wenn es nicht wegen Arbeit war, war er selten; er war lieber im Haus. Die Tiere im Stall, das sagte er so, mochte er nicht; und auf die Katzen, die er mochte, war er allergisch, er bekam, sobald er eine anfasste, Schnupfen und rote Flecken an den Armen, am Hals. Dieser eine Satz, der nur wie eine Frage klang, und der mir unweigerlich zu ihm einfällt, zeigt mir, dass er im Ernst in Erwägung zog, eines Tages das Reden, das Sichlautäußern ganz bleiben zu lassen. Es war in ihm veranlagt, das Nichtreden, schon als Kind war er immer schweigsamer gewesen als alle anderen, die ich kannte. Obwohl es da und dort schon ein paar gab, die kaum je etwas sagten; aber bei denen war es weder Verlegenheit noch irgendeine Veranlagung, sondern sie brachten einfach, wie man sagte, das Maul nicht auf. Und damals dachte Wilhelm darüber nach – und entschied sich dafür, so kam es mir vor, für seine Veranlagung, zumindest für diese eine, und benannte sie. Mich wunderte das eine Zeitlang. Ich hatte gemeint, er sei gegen sich, arbeite gegen sich und habe Schwierigkeiten damit, sich anzunehmen. Aber es schien alles ganz selbstverständlich. In kurzen Sätzen sprach er davon, noch im letzten Telefonat wenige Tage vor seinem Unfalltod bestand er darauf, dass es besser sei, nicht zu viele Worte zu machen, wie es schließlich schon in den Predigerbriefen stehe; auch, wenn er sonst mit Religion nichts am Hut habe, ihm das Alte wie das Neue Testament gleichermaßen gestohlen bleiben könnten – das Buch Prediger oder Kohelet, das sei schon etwas. In vielem waren wir uns ähnlich, und ich hatte mir oft schwer getan, das anzuerkennen. Bisweilen, als wäre ich der Jüngere, hatte ich den Gedanken, ich sei bloß eine schlechte Kopie von ihm. Deshalb wohl zuckte ich auch so zusammen, als mir eine Bekannte einmal im Scherz sagte, Wilhelm komme ihr als eine bessere und komplexere Version von mir vor, und das Beste an ihm sei, dass er nicht so plappere, wie ich es oft machte. Ob er Katharina kannte? Ich glaube nicht. Woher auch? Thomas hatte Tischler gelernt, hatte aber genug davon, sagte: »Das ist schon recht, es ist ein guter Beruf, aber ich will einfach nicht mein Leben in der Werkstatt verbringen.« In Linz machte er eine Ausbildung zum Innenarchitekten, die einige Jahre lang dauerte und berufsbegleitend war; er nannte es Umschulung. In den ersten Monaten dieser Zeit pendelte er noch, dann begann er nebenher zu arbeiten und zog ganz nach Linz, nahm zuerst eine kleine Wohnung, später eine größere, dann eine dritte, in der er blieb. Ab und zu, eher selten, schickte er mir Emails. Er beschrieb mir sein Leben in kurzen, exakten Sätzen, ohne Übertreibungen, ohne Leerstellen, nichts fehlte, alles war da, fehlerlos, scheinbar im rechten Maß. Es kam mir immer seltsam vor, wie er sein Leben darstellte, als gäbe es nichts, das nicht zu sagen wäre, als bestünde das Leben nur aus Daten. Ich hatte eine andere Auffassung vom Briefeschreiben. Aber er schrieb kurz, schrieb: »Ich mache die Ausbildung am Abend, danach lerne ich. Ich will das jetzt machen. Ernsthaft. Nicht mehr in die Werkstatt. Nie wieder. Will mein eigener Chef sein. Die meisten Tage verbringe ich auch mit Lernen. Ich bereite mich auf Prüfungen vor. Die Prüfungen bisher habe ich alle recht ordentlich bestanden. Ich lerne sehr viel. Manchmal helfe ich in einer Werkstatt aus, damit ich nicht meine ganzen Ersparnisse aufbrauchen muss. Naja. Aber jetzt bist Du dran. Was machst Du den lieben langen Tag? Was treibst Du? Und wo bist Du jetzt überhaupt? Immer noch, wo Du zuletzt warst? (Und wo war das noch gleich?) Jetzt musst Du aber auch mal wieder heimkommen, Du Zigeuner! Dann gehen wir was trinken.« Und so weiter. Und so fort. In all den Jahren nie viel mehr, immer das Gleiche. Ich reiste damals sehr viel, denn ich hatte plötzlich Geld. Bereiste Spanien und Italien, einmal für ein halbes Jahr Südamerika, dann Rumänien, einmal für mehrere Wochen Slowenien, wo ich jemanden kannte. Oft Italien. Ich las seine Nachrichten, wie man irgendetwas liest, Flugzettel oder Werbung. Es schien mir alles so beliebig, dass es mich nicht interessierte. Wäre ich ihm noch näher gewesen, hätten mir vielleicht diese Nachrichten etwas sagen können. Aber so … Sie machten mich müde. Einmal nur war es anders; ein einziges Mal schrieb er etwas, das mich aufhorchen ließ: Stell Dir vor: Ich habe jetzt eine Frau kennengelernt. Ich kenne sie eigentlich schon länger. Aber davon ein andermal. Vielleicht heirate ich ja doch eines Tages. Das wär was! Oder? Was? Du bist schon jetzt herzlich zur Hochzeit eingeladen. Haha. Es grüßt Dich Dein verliebter Narr Thomas –. Aber gerade, weil sie dermaßen übertrieben war, nahm ich diese Nachricht dann doch nicht ernst, vergaß sie, wie man einen Geruch vergisst: behielt gerade noch, dass da etwas gewesen war, nicht jedoch, was. Zu der Zeit hielt ich mich meist in Reggio di Calabria, Italien, auf; irgendetwas hatte mich dort gefangen. Ich nahm sogar Italienischstunden, unregelmäßig zwar, aber ich überlegte ernsthaft, dazubleiben. Ich lernte schnell. Täglich ging ich an den Strand, um zu spazieren oder in der Sonne zu sitzen; hin und wieder machte ich eine Bootsfahrt auf einem Ausflugsboot. Ich hatte viele Bücher mit, und wenn ich auf einem Boot war, las ich oder hielt mich am sonnigen Deck auf. Manchmal fragte ich Fischer, ob sie mich auf ihrem Boot mitnähmen; sie nahmen mich mit, es schien ihnen gleich zu sein, wenn ich etwas zahlte, und ich bezahlte ihnen etwas – zähneknirschend, aber draußen auf dem Meer war ich versöhnt, wenn ich ihnen zusah, wie sie die Netze ins Wasser warfen und ihre Arbeit machten. Ich sah zu, und alles was ich sah, war selbstverständlich. Aber natürlich gehörte ich nicht dazu. Es war irgendwie wie zu Hause: Ich konnte ein weißes oder ein schwarzes Hemd und Anzug tragen, ich konnte meine Tracht anziehen und auf den Kirtag gehen und tanzen – das änderte nichts. Es fehlt mir etwas, man kennt es mir an, und ich habe keinen Namen dafür. Einmal, auf einem Fischerboot, dachte ich: Bei mir ist eigentlich nichts mehr selbstverständlich. Wir saßen in der Küche und hatten bereits seit einer ganzen Weile geredet. Eine richtige Unterhaltung war geworden, was anfänglich nicht danach ausgesehen hatte; es war sehr langsam und zögerlich losgegangen. Wir waren gesessen, hatten zu Abend gegessen, Spaghetti mit Tomatensoße und grünen Salat, und es war, wie es oft war. Aber irgendetwas war dennoch anders als sonst, denn wir redeten, wie wir es lange nicht mehr gemacht hatten, und mir fiel wieder auf, wie klug sie war. Es machte Freude, mit ihr zu reden. Neuerdings gab es in der Küche einen Tisch. Katharina hatte eines Tages gesagt, ein kleiner Küchentisch wäre praktisch; ich hatte ihr recht gegeben und in Gosau einen besorgt, ebenfalls aus Eiche. Er war groß genug zum Essen. Aber auf einmal war die Unterhaltung zu Ende. Sie endete, weil sie mich etwas fragte: »Warum gibst du mir eigentlich nie eine Antwort, wenn ich dich frage, was du mit diesem Schulheft vorhast? Ist das ein Staatsgeheimnis? Zum Schreiben jedenfalls hast du es nicht …« Im Haus war es still wie immer, und noch stiller, seit es wieder kalt geworden war. Ich blickte auf die leeren Steckdosen und auf das schwarze Kabel der Stereoanlage, das daneben herunterhing, der silbern blitzende Stecker den Boden berührend. Ich schob meinen Teller weg und wollte aufstehen. Irgendwann einmal hatte jemand aus unserer Ministrantengruppe von seiner neuen Stereoanlage erzählt, die er zum Geburtstag bekommen hatte; ich glaube, es war Fritz, vielleicht auch Martin. Er gab wahrscheinlich ein bisschen an, was ziemlich einfach war, denn keiner der anderen besaß eine Stereoanlage. Plötzlich aber unterbrach ihn der Lange, warf einen Stein in ein Feld und rief aus: »Na und? Einstecken tust du das Trumm auch nur mit dem Schweinsrüssel! Schiebst ihn in die Steckdose, zweihundertzwanzig Volt – und passt, und geht schon!« Sonst gab es immer zumindest Andreas, der verlässlich lachte, aber auch der blieb nach einem winzigen Auflachen still. Der Lange lag falsch; die Steckdosen, nicht die Stecker sahen aus wie die Rüssel von Schweinen. Das fiel mir jetzt wieder ein. Auch das Kabel des Fernsehers, den der Vorbewohner hiergelassen hatte, war nicht eingesteckt. Längst hätte ich ihn entsorgen oder verkaufen oder verschenken wollen, den Fernseher, von dem ich nicht einmal wusste, ob er funktionierte, aber ich hatte mich noch nicht dazu aufraffen können. Die Stereoanlage benutzte ich selten – seit Katharina weg ist, gar nicht mehr. Zuvor hatte ich immer nur wenn dann Bachs Sonaten und Partiten für Violine Solo gehört, eine Doppel-CD, die mir Katharina geschenkt hatte, von Yehudi Menuhin eingespielte Aufnahmen aus den Jahren 1934 bis 36. Oder ich hatte eine Kassette von früher gehört, eine der Kassetten, die Wilhelm mit Engelsgeduld aufgenommen hatte, Nachmittage neben dem Radio sitzend; er kannte sich in der Popmusik nicht aus, oder doch,...


Kaiser-Mühlecker, Reinhard
Reinhard Kaiser-Mühlecker wurde 1982 in Kirchdorf an der Krems, Oberösterreich, geboren. 2008 debütierte er mit dem Roman Der lange Gang über die Stationen. Es folgten die Romane Magdalenaberg (2009), Wiedersehen in Fiumicino (2011), Roter Flieder (2012) und zuletzt Schwarzer Flieder (2014). Seine Arbeit wurde u. a. mit dem Jürgen-Ponto-Literaturpreis, dem Kunstpreis Berlin und dem Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft ausgezeichnet.



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