E-Book, Deutsch, 151 Seiten
Kappeler Der Superstaat
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-907291-11-5
Verlag: NZZ Libro
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Von Bürokratie und Parteizentralen und wie man den schlanken Staat zurückgewinnt
E-Book, Deutsch, 151 Seiten
ISBN: 978-3-907291-11-5
Verlag: NZZ Libro
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Beat Kappeler (*1946), Dr., studierte Weltwirtschaft und Völkerrecht an der Universität Genf. Tätigkeit als freier Wirtschaftsjournalist, von 1977-1992 als Sekretär des Gewerkschaftsbunds, betraut mit Liberalisierungsdossiers. Seit 1992 Wirtschaftskommentator, zuerst bei der alten Weltwoche, und 2002-2018 bei der NZZ am Sonntag. Träger des Zürcher Journalistenpreises. 1996-2000 war er a. o. Professor für Sozialpolitik am IDHEAP, Universität Lausanne, und Mitglied der Eidg. Kommunikationskommission. Sein Weg führte ihn durch rund 30 staatliche Kommissionen.
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KAPITEL 1
Fesseln der Freiheit im Nationalstaat
Die Drohung, die «Vertrauensfrage» zu stellen und bei einem Nein das Parlament aufzulösen, fesselt die Stimmen der Parlamentarier an die Regierung. Zwar soll eine Regierung durch das Parlament eingesetzt und bestätigt werden, das gehört zur Gewaltenteilung. Es ist auch richtig, wenn eine Regierung sich bei Streitigkeiten im Parlament ihrer Mehrheit versichert. Doch braucht es die Auflösung? Eine Regierung kann Niederlagen im Parlament erleiden und soll dann neue Vorschläge bringen, neue Unterstützung suchen. Sie müsste auf Minderheiten, die öffentliche Meinung, innerparteiliche Widerstände eingehen. Sie müsste kreative Lösungen suchen. Dies würde die Rolle einer Regierung unter der Gewaltenteilung unterstreichen – sie führt aus, was das Parlament will. Sie sucht nach dem Widerspruch des Parlaments eine neue Lösung, bringt ein anders formuliertes Gesetz ein. Oder das Parlament formuliert gleich selbst eine solche Änderung – was es nicht in allen Regimen darf! Welch eine gestörte Gewaltenteilung!
DIE GEWALTENTEILUNG IST ABGESCHAFFT
Doch wenn die Regierung oder der Staatspräsident nach einer Niederlage in der Vertrauensabstimmung das Parlament auflösen kann oder muss, dann setzt man den Parlamentariern Daumenschrauben an, damit sie zustimmen. Dies gilt auch in den Oppositionsparteien, damit sie sich der Regierung widersetzen – der mögliche Sieg in einer dadurch ausgelösten Neuwahl verführt auch deren Parteileitungen zum Druck von oben auf ihre Parlamentarier.
Je nach Verfassung oder Usus gehen die Nationen nach einer verlorenen Vertrauensabstimmung unterschiedlich vor. Die Regierung kann selbst eine Neuwahl ausrufen, aber meistens wird das Staatsoberhaupt dies veranlassen. Was der alle paar Monate wiederholte Sturz einer Regierung nach Vertrauensabstimmungen an Schaden anrichtet, sah man in der Weimarer Republik, in der Dritten Republik Frankreichs und im Italien der Nachkriegszeit. Entweder führten diese Entscheide zu wiederholten und oft konturlosen Neubestellungen der Parlamente oder zu einem unwürdigen Postenschacher bei der Neubestellung der Ministerposten. Beides stärkte die Demokratie und das Ansehen der Politik keineswegs.
In Deutschland 1949, in Spanien 1978 wurde das «konstruktive Misstrauensvotum» eingeführt. Die Regierung kann nur gestürzt werden, wenn sich das Parlament auf einen neuen Regierungschef einigt. Doch die Zwänge gegenüber den Parlamentariern bleiben die gleichen, sie werden zur Gefolgschaft in Regierungs- wie in Oppositionsparteien gepeitscht.
So wurden beim Misstrauensvotum 1972 im Deutschen Bundestag Abmachungen getroffen, welche Mitglieder überhaupt und, wenn ja, wie zu stimmen hatten. Der SPD-Abgeordnete Günther Müller hielt sich nicht daran und wurde prompt aus der SPD-Fraktion ausgeschlossen.
Anlässlich der Debatten im Vereinigten Königreich zum Austritt aus der EU (Brexit, Frühjahr 2019) nahm die breite Öffentlichkeit ein Parlament wahr, das gar nicht dem Bild einer souveränen Legislative entsprach. Tatsächlich liegt der Anstoss für die Gesetzgebung fast ausschliesslich bei der Regierung, sie bringt die Vorlagen ein. Nur zu Beginn jeder Session werden unter den etwa 650Parlamentariern des Unterhauses 20Mitglieder ausgelost, die einen Vorschlag einbringen dürfen, oder sie bekommen zehn Minuten Redezeit, um einen solchen vorzulegen. Doch wird für alle diese Vorstösse zusammen ein begrenztes Zeitfenster am Schluss anderer Debatten zugestanden, viele kommen so gar nicht zum Zug, und meist genügt der Zuruf «object» eines anderen Mitglieds für eine Verschiebung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag.
In den Debatten um die Vorschläge der Regierung für den Brexit selbst billigte die Regierung May dann ausnahmsweise die freie Stimmabgabe zu, sonst hätte deren wiederholte Ablehnung zum Regierungsrücktritt und allenfalls zur Parlamentsauflösung geführt. Auch der Parlamentspräsident hat einen grossen Ermessensspielraum, ob er Anträge oder Wortmeldungen zulässt. Im Sommer 2019 lagen acht Varianten aus dem Unterhaus für den Brexit vor, doch der Speaker liess nur über deren vier abstimmen. Daher beschränken sich die meisten Wortmeldungen auf Fragen an Vorsitz oder Regierung. Die ganze glorreiche Parlamentsgeschichte seit der Magna Charta 1215, die schönen Rituale, die fein gedrechselten Anreden der Mitglieder täuschen nicht darüber hinweg, dass hier «top-down» herrscht.
Ausserdem verläuft die Entscheidfindung im britischen System ausgesprochen binär – mit Entweder-oder, ohne Zwischentöne. So verhandeln die Regierungs- und die Oppositionspartei kaum je, die stärkere Partei regiert allein. Das Unterhaus stimmt der Regierung entweder zu, oder es kommt zur Neuwahl, und so kommen fast alle Vorlagen nur von der Regierung.
Bild 2: Parlament in London: Abgeordnete bringen keine Gesetze ein, Regierung diktiert. Foto: UK Parliament / Jessica Taylor.
Bild 3: Deutscher Bundestag in Berlin: Parteizentralen diktieren. Foto: Deutscher Bundestag / Simone M. Neumann
Kurz, die Vertrauensfrage mit anschliessender Parlamentsauflösung verkehrt überall die Gewaltenteilung von einem «bottom-up» in ein «top-down». Der einzelne Parlamentarier kann nicht gemäss seinem Gewissen oder dem Wählerwillen abstimmen.
WENN DIE GEWALTENTEILUNG LEBT – USA, SCHWEIZ
Das Gegenbeispiel stellen die USA und ihre «Schwesterrepublik» Schweiz dar. Die amerikanische Regierung tritt nach – durchaus vorkommenden – Abstimmungsniederlagen nicht zurück. Der Präsident könnte nur durch ein kompliziertes Absetzungsverfahren (Impeachment) aus dem Amt befördert werden. Doch auch nicht einmal dann fällt seine Regierung, und der Kongress wird auch nicht aufgelöst und neu gewählt. In den letzten Jahren verweigerte der Kongress verschiedentlich das Budget oder die Anhebung der Schuldengrenze. Präsidenten wie Clinton, Obama, Trump liessen die Staatsämter vorübergehend schliessen, da kein Budget beschlossen war. Doch mit der Zeit einigten sich Regierung und Kongress auf eine Lösung, unter Gesichtswahrung beider Seiten. Der Kongress wurde nicht aufgelöst, die Regierung blieb im Amt, Kompromisse waren produktiver.
Diese hochgemute Einschätzung ist leider auch für die USA einzuschränken – der Kongress hat 1977 in wichtigen Fragen abgedankt und Vollmachten an den Präsidenten übertragen. Das Gewicht der Exekutive hat massiv zugenommen: durch den International Emergency Economic Power Act (IEEPA). Der Präsident kann bei bedrohter nationaler Sicherheit Sanktionen gegen andere Länder verfügen, Vermögenswerte beschlagnahmen usw. – und der Kongress kann solche Entscheide nur mit Zweidrittelsmehrheit umstossen. Präsident Trump begann 2019 solche einseitigen, umstrittenen Massnahmen zu treffen.
Ebenso verlagerte sich die Initiative für kriegerische Eingriffe im Ausland vom Kongress, zuständig für Kriegserklärungen, zum Präsidenten, der oberster Kommandant ist. Ein Transfer solcher Macht findet sich in der War Powers Resolution von 1973, anlässlich des Vietnamkriegs, und in der Authorization for Use of Military Force (AUMF) von 2001 gegen Al Kaida. Aber schon von jeher und unter fast allen Präsidenten, auch Barack Obama, fanden Auslandinterventionen auf präsidiales Geheiss statt (total 182), aber es gab nur elf formale Kriegserklärungen durch den Kongress.
Aber auch in der Innenpolitik stören sich immer mehr Bürger, Staatsrechtler und neuerdings eine im Entstehen begriffene Mehrheit des Obersten Gerichtshofs daran, dass die Souveränität des Volks und der handelnden Individuen als Verfassungsgrundlage ersetzt worden sei durch die Souveränität der Regierung. Die zahlreichen Ausgliederungen von Kompetenzen des Kongresses an Agenturen (Umwelt, Gesundheit, Arbeitsamt, Notenbank) verfolgten luftige gesellschaftliche Ziele, keine Individualrechte.1
Auf solche und andere an die Exekutive abgetretene Bereiche, wie periodisch die Aussenhandelskompetenz, gründen sich auch die Executive Orders der Präsidenten.
Kurz, die Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Kongress und Gerichten ist ausgewogener als in parlamentarischen Demokratien. Sie hat zwar unter der Bequemlichkeit obrigkeitlichen Regierens dank Regeln, Sicherheit und «Wohltaten für alle» und unter der Dringlichkeit mancher Entscheide gelitten. Doch sind die Gewichte der Gewalten ohne Verfassungsänderungen nur durch Rücknahme der erwähnten Gesetze an sich auch wieder leicht auszutarieren.
In der Schweiz trat die Regierung seit 1848 nie kollektiv zurück, sondern wurde immer nur nach Neuwahlen des Parlaments bestätigt, nach Rücktritten oder der Abwahl einzelner Bundesräte ergänzt. Doch häufig erleidet die Regierung Schiffbruch mit Vorlagen im Parlament oder bei Volksabstimmungen. Unverdrossen ändert sie darauf die Vorlagen, bis die Gewalten von unten – Parlament oder Volk – zustimmen. So bleiben die Funktionsfähigkeit (und die Lernfähigkeit) der Regierung wie auch ihre Legitimität vollauf gewahrt. Und «die unten» haben das berechtigte Gefühl, ernst genommen zu werden. Die zwei Gewalten der Regierung und der Legislative müssen zusammen regieren, sie können einander nicht absetzen. Man könnte es auch «Gewaltenverbindung» anstatt Gewaltenteilung nennen.
Bild 4: US-Kongress und Schweizer Parlament legen Vorlagen vor oder lehnen sie ab – die Regierung bleibt im Amt und führt aus. Foto: The White House / Lawrence Jackson.
Bild 5: Schweizerische Bundesversammlung. Foto: Béatrice Devènes.
In den USA wie in der Schweiz werden oft einzelne...




