Karlsson Zauberhafte Dorabella - Samsons 13. Kindermädchen
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-446-24863-2
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-446-24863-2
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ylva Karlsson, 1978 bei Stockholm geboren, gilt als großes Nachwuchstalent der schwedischen Kinderliteratur. Ihren Erstling schrieb sie als Hausarbeit noch auf dem Gymnasium. Wenig später wurde er veröffentlicht und erhielt den Preis für das beste Debüt des Jahres. Im Hanser Kinderbuch sind bereits erschienen Sei kein Frosch, Malin! (2002) und Die Reise zum Kaiser (2007). 2015 folgte das von Leonard Erlbruch illustrierte Kinderbuch „Zauberhafte Dorabella – Samsons 13. Kindermädchen“.
Weitere Infos & Material
DAS ERSTE KAPITEL …
… in dem wir Samson und seinen kleinen Bruder kennenlernen und eine wichtige Person von einem Baum herunterklettert. Es ist ganz einfach das Kapitel, in dem alles anfängt.
»Samson!«, rief Samuel, Samsons kleiner Bruder. »Samson, da im Baum sitzt eine Frau!«
Samson lief schnell ans Fenster.
Er sah keine Frau, nur Dohlen. Der ganze Ahorn unten im Hof war voller Dohlen. Auch die Dächer ringsum waren voll. Noch nie hatte er so viele Dohlen auf einmal gesehen. Und die auf den Dächern guckten alle zu dem Baum.
»Doch! Ehrlich!« Samuel fuchtelte so aufgeregt mit seinem Legoauto, dass Samson einen Schritt zurücktreten musste. »Ich hab eine Frau gesehen! Mit einem Schirm!«
Die beiden befanden sich im Schlafzimmer ihrer Eltern, die sich gerade umzogen, weil sie heute Abend ausgehen wollten.
»Ich weiß wirklich nicht, was wir da machen sollen«, seufzte Mama.
»Unglaublich, so was!«, sagte Papa. »Mitten im Schuljahr einfach aufzuhören!«
Samson wusste, worüber die Eltern sprachen.
Es ging um Emma.
Emma war Samsons und Samuels Kindermädchen. Sie holte die beiden regelmäßig vom Hort ab und passte auf sie auf, bis Mama oder Papa nach Hause kam.
Samson und Samuel hatten schon Tausende von Kindermädchen gehabt.
Oder sagen wir Hunderte.
Also genau genommen waren es zwölf.
Aber auch zwölf sind ganz schön viele. Stell dir mal zwölf verschiedene Menschen vor, dann wird dir das klar!
»So schnell einen Ersatz für Emma zu finden ist unmöglich!«, schimpfte Papa und starrte in den begehbaren Kleiderschrank. »Als hätte ich nicht schon genug um die Ohren! Mehr als jeden zweiten Freitag Abholen ist da beim besten Willen nicht drin. Und du holst sie ja sowieso schon einmal die Woche ab.«
»Hm«, machte Mama, die sich gerade für ein dunkelgrünes Kleid entschieden hatte. »Ich hab heute mit Charlotte geredet. Sie und Daniel haben eine ältere Dame als Nanny und sind sehr zufrieden. Das heißt, wenn sie bald nach Brüssel ziehen, könnten wir vielleicht …«
»So jemand ist bestimmt schon vergeben«, sagte Papa. »Sonst wär’s natürlich perfekt. Ältere Damen ziehen in aller Regel nicht mehr so schnell um, und den Kindern würde ein bisschen Kontinuität auch guttun. Wahrscheinlich würde eine ältere Dame auch für mehr Ordnung sorgen.«
Samson sagte nichts. Er sagte meistens nichts.
Oder höchstens zu Samuel.
Manchmal, wenn die Eltern abends gute Nacht gesagt hatten, kam Samuel in Samsons Zimmer geschlichen und kroch zu ihm ins Bett. Dann konnte es sogar vorkommen, dass Samson derjenige war, der am meisten redete.
Aber immer leise, flüsternd. Damit die Eltern nichts merkten. Sie mochten es nämlich nicht, dass Samson und Samuel im selben Bett schliefen.
Jetzt gerade sah Samson zu, wie Samuel mit seinem Legoauto erst auf dem Fensterbrett entlangfuhr und dann runter auf den Fußboden. Samuel hatte offensichtlich nicht mitbekommen, was Mama und Papa da besprachen.
»Ein Glück, dass Emma wenigstens heute noch kommen kann!«, sagte Mama und schaltete den Föhn ein. Papa ging ins blau gekachelte Badezimmer.
Mit Samsons Stimme verhielt es sich so: Ab und zu verschwand sie und blieb dann lange weg. In Emmas Gegenwart passierte das besonders oft. Dann wurde er erst ganz normal wütend wie andere Jungs auch, aber noch dazu wurde er stumm. Sonst hätte er Samuel auch verteidigt, wenn Emma wieder mal böse wurde. (Immerhin war er Samuels großer Bruder, auch wenn Samuel nicht sehr viel kleiner war als er.)
Emma wurde oft böse. Aber nicht auf Samson.
Allerdings war es auch nicht Samson, der immer direkt aus dem Haus auf die Straße rannte. Und er ließ auch keine rutschigen Puzzleteilchen und scharfkantigen Legosteine auf dem Fußboden herumliegen. Oder kletterte auf dem Klettergerüst bis ganz nach oben, um dann prompt runterzufallen. Samson stibitzte auch nicht Mamas Nagellack und schmierte damit ihr schönes Tischchen aus Marokko voll. Und er schnitt keine Sofakissen auf, um nachzuschauen, ob sich die Füllungen von blauen, roten und gelben Kissen unterschieden (was erstaunlicherweise der Fall war, wie man wusste, seit Samuel es ausprobiert hatte).
Vor allem wegen der Sache mit den kaputten Kissen war Emma richtig sauer geworden. Und Papa hatte sich mächtig über Emma aufgeregt, weil Federn und Schaumgummifussel durchs ganze Wohnzimmer und sogar ins Esszimmer geflogen waren. Aber vor allem hatten sie das schwarze und das weiße Sofa vollgeschneit und sich überall in den Teppichen festgesetzt. Pavel, der jeden Freitag zum Saubermachen kam, erzählte hinterher, er habe über eine Stunde gebraucht, um alles wegzukriegen.
Und jetzt würde Emma also aufhören. Sie würde nach Frankreich fahren und studieren, weil sie überraschend einen Platz für Nachrücker bekommen hatte, wie sie behauptete. Aber Samson hatte den Verdacht, dass es doch mit den Kissen zu tun hatte. Nur schade, dass er und Samuel den Schnee nicht noch ein bisschen durch die Gegend hatten pusten können, bevor Emma ins Wohnzimmer kam, das wäre nämlich lustig gewesen.
Mama saß inzwischen vor dem Spiegel und schminkte sich langsam und sorgfältig. Heute Abend war es ihr wohl wichtig, besonders hübsch auszusehen. Samuel stand neben ihr und befingerte sämtliche Döschen und Fläschchen. Aber vor allem die Fläschchen mit Nagellack.
Samson schaute aus dem Fenster, über den Balkon und an dem herbstgelben Ahornbaum vorbei. In manchen der Wohnungen auf der anderen Hofseite brannte Licht.
Eins der Fenster dort war voller Pflanzen. Sie bedeckten sämtliche Fensterscheiben, sogar die kleinen ganz oben.
Samson überlegte, wie es wohl wäre, dort zu wohnen. Vielleicht war das Licht in der Wohnung grün.
Er schloss die Augen.
Wenn er dort drüben wohnen würde, wäre er jemand ganz anderes. Ein anderes Kind. Er hätte schwarze lockige Haare, eine Brille und eine Menge Freunde. Und er hätte einen normalen Namen! Einen Namen, der kein bisschen komisch war.
Samson schaute oft fremde Fenster an.
Das Telefon klingelte.
Mama und Samuel spreizten hilflos ihre frisch lackierten Fingernägel, also nahm Samson den Hörer ab und reichte ihn Mama, die ihn mit steifen Fingern anfasste.
»Ja, hallo?«, sagte sie mit ihrer Telefonstimme. »Hallo, Emma!«
Dann sagte sie zweimal »Aha«. Beim zweiten Mal klang ihre Stimme enttäuscht. »Aha.«
»Ja, natürlich höre ich, dass es dir nicht gut geht. Nein, nein, keine Angst, das verstehe ich. Gute Besserung!«
Samson sah sie an. Mama schien den Tränen nah zu sein.
»Emma ist krank!«, rief sie in Richtung Bad. »Sie kann nicht kommen!«
Papa streckte den Kopf aus dem Bad. Er hatte Rasierschaum im Gesicht. Mama seufzte und begann, den Reißverschluss ihres Kleids aufzuziehen.
Da läutete es an der Tür.
Mama warf Samson einen erstaunten Blick zu. Dann zog sie den Reißverschluss an ihrem Kleid wieder zu und ging an die Tür, um aufzumachen.
Vor der Tür stand eine Frau. Sie trug Jeans, und ein langer roter Zopf fiel ihr über die Schulter. Ihr Gesicht war runzlig und, soweit Samson sehen konnte, ungeschminkt. Aber ihre Fingernägel waren rosa lackiert.
»Ja?«, sagte Mama fragend.
»Das ist sie«, flüsterte Samuel von so nah, dass Samsons Ohr davon nass wurde.
»Wer?«, fragte Samson.
»Die aus dem Baum.«
»Ich habe gehört, dass Sie eine Nanny brauchen«, sagte die Frau mit einer Stimme, die ruhiger und tiefer klang als die von Mama.
»Ja«, sagte Mama. Erst sah sie noch unschlüssig aus, doch dann hellte sich ihre Miene auf. »Ach ja! Charlotte und Daniel! Natürlich!«
Sie reichte der Frau die Hand und begrüßte sie.
»Dorabella«, sagte die Frau. »Dorabella Travers.«
Dann stellte sie ihren Regenschirm und ihre Tasche ab. Auf die Tasche waren Ahornblätter gestickt. Und eine Dohle. Und plötzlich kam es Samson so vor, als würde sich die Dohle bewegen. Als würde sie sich bücken und einen Legostein auf dem Fußboden so fest mit dem Schnabel anstupsen, dass er davonflog.
Samson schnappte vor Überraschung nach Luft. Er musste sich geirrt haben. Eine gestickte Dohle konnte sich nicht bewegen.
Dorabella drehte die Tasche mit dem Fuß so um, dass er den Vogel nicht mehr sehen konnte.
Dann schaute sie Samson an, und kurz glaubte er, sie würde ihm die Zunge rausstrecken. Aber sie lächelte nur ganz normal. »Das hier ist Samson, vermute ich«, sagte sie. »Und du musst Samuel sein.«
Samson sagte nichts. Samuel nickte erst verdutzt, dann sah er plötzlich sauer aus.
Mama lächelte zufrieden und nickte, als wäre sie zu einer Entscheidung gekommen.
»Ja«, sagte sie. »Ich würde natürlich verstehen, wenn Sie nur vorbeigekommen wären, um sich vorzustellen und so weiter. Aber könnten Sie vielleicht …? Wäre es möglich, dass Sie jetzt gleich anfangen?«
»Das sollte ich wohl«, sagte Dorabella.
Mama lächelte noch einmal.
»Wunderbar«, sagte sie. »Genial. Kommen Sie herein, liebe Dorabella! Ich zeige Ihnen schnell, wo Sie alles finden, dann besprechen wir das Praktische und …«
»Später«, sagte Dorabella ruhig. »Machen Sie sich jetzt lieber auf den Weg, damit Sie nicht noch zu spät kommen!«
Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf die Wanduhr im Flur, und Mama riss entsetzt die Augen auf.
»Du liebe Güte! Ich dachte, wir hätten noch …« Damit verschwand sie zu Papa ins Schlafzimmer.
Nach knapp einer Minute waren sie wieder da, Papa mit seiner Krawatte in der Hand.
Samson wunderte sich genauso wie Mama. Gerade war es noch halb sechs gewesen, und jetzt war es plötzlich kurz vor halb...




