E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Kaufmann Die Nacht ist laut, der Tag ist finster
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-455-00106-8
Verlag: Tempo
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-455-00106-8
Verlag: Tempo
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kat Kaufmanns zweiter Roman – eine rasant erzählte Road Novel
Ernst hinterlässt seinem Enkel Jonas 5000 Euro und eine Notiz, die sagt: Finde diesen Mann. Dazu nur ein Name: Valerij Butzukin.
Jonas hat nie von diesem Mann gehört. Hat sich Opa Ernst einen Scherz erlaubt, den er nicht mehr auflösen wird, weil er tot ist? Oder war es das Delirium? Die Wahnvorstellung eines senilen Menschen? Um Jonas weht der Kalte Krieg 4.0, und hier, inmitten von immer mehr Grenzen, die sich schließen, beginnt für ihn eine Odyssee, die ihn – ob er will oder nicht – immer tiefer in ein fremdes Land und zu fremden Menschen führt: in die Russisch Asiatische Union. Mit Stas und Juri, die er auf der Suche nach Passfälschern kennenlernt, begibt er sich in ein Labyrinth, das Urgroßvater, Großvater, Jonas und den Unbekannten für immer verbinden und trennen wird.
"Die Nacht ist laut, der Tag ist finster" ist ein Roman über das Schicksal der Menschen, aneinander vorbeizuschrammen. Über Verlust, über Freundschaft und über das Wiederauftauchen von Spuren, die im Schnee verweht waren und einen doch nur noch tiefer in die Irre des eigenen Geistes führen. In den Geist, der einem verheimlicht, dass man selbst es war, der alles, was so kommt, wie es kommt, unausweichlich vorgezeichnet hat.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Cover
Titelseite
Motto
Prolog
1 T. Rex, Tiger und Ernst
2 Stas und Juri
3 Wer ist dieser Aschkenasi
4 Lassen Sie uns durch, wir sind durch!
5 »Romeo, oh Romeo«
6 Ewige Weiten, Berge aus Schnee und Cola
7 In der Hölle aus Beton
8 In the Air tonite
9
Fußnoten
Über Kat Kaufmann
Impressum
2 Stas und Juri
Die Trackingnadel in deinem Telefon sagt, du bist da. Das Ding heißt Lavka. Tanzladen mit bunten Glühbirnchen, die den Eingang zieren. Die Zuchtbullen davor, zwei Riesen, denen ihr Neanderthalensis vulgaris fest in die Physiognomie gezimmert ist, rauchen und stoßen den grauen Qualm aus den Nüstern. Das ist hier nicht wie bei den Italos, die dir höchstens mal in die Wange kneifen und kein Problem haben, solange du nicht ihren Fußballclub beleidigst. Und auch nicht wie bei den Türken, die in diesen neonbeleuchteten Kneipen, so hell wie im Schlachthaus, alle wie hypnotisiert in eine flackernde Kiste starren und nicht mal merken, ob du da bist oder schon weg mit deiner Falafel. Das sind kahlgeschorene Atzen, die dich sehr, sehr komisch angucken. Ja, du bist hacke. Aber so hacke auch wieder nicht. Du schwankst etwas, während du entscheidest, ob du jetzt wirklich da rein willst. Jetzt taumelst du an den Zigarette rauchenden Riesen vorbei, und sie schaffen dir unerwartet freundlich eine Einflugschneise und lachen. Dann sollst du fünf Euro zahlen. »Macht ihr auch Pässe?«, fragst du die bunt wie ein Las-Vegas-Tannenbaum geschmückte Dame an der Kasse. »Sag ma, geht’s noch?!«, fragt sie zurück. Du bist drin. Du kaufst dir an der Bar noch einen Meister, weil du sonst lesen müsstest, was es noch so gibt. Irgendwann tanzt du sogar. Du tanzt zu jedem Song, der kommt, und fühlst dich, als wärst du jetzt mit den Affen im Gehege mit Strobo. Jeden, den du anrempelst, fragst du, ob er wüsste, wo man Pässe machen kann. Und dann rempelt plötzlich einer zurück. Aber so ordentlich. Wie ein Amboss, der im Trickfilm grundlos vom Himmel fällt und jemanden erschlägt. Du liegst in der Ecke, der Typ kam von irgendwoher angeflogen und hat dich einfach umgenietet. »Oh! Iswini, slysch?«, sagt der und hebt dich wieder auf die Beine. »Ich versteh dich leider nich«, sagst du und schmeißt den Flaschenhals, der noch übrig ist von deinem Jägermeister, in die Ecke. »Oh, Mann … Tut mir echt leid, Mann. Komm, ick hol dir ’n neuen Drink, aber wat orntlichet, wa?«, sagt der Typ und stellt sich vor. Stanislav. Stas. »Hey, Bratan! Ob du mal Feuer hast?«, fragt er dich, als ihr an der Bar steht und du sagst, dass du besorgt bist, er könnte explodieren, wenn man ein Feuerzeug in die Nähe seines Tanks bringt. Du zeigst auf seinen Mund, aus dem es riecht wie aus einem Kanister mit Hochprozentigem, und Stas lacht schallend und schlägt dir mit seiner Pranke auf die Schulter. Und du weißt gerade nicht, was als Nächstes kommt – ob es beim Lachen bleibt oder er dich gleich ins K.o. boxt. / Ja, du hättest alles andere vermutet, als dass du schon zwanzig Minuten später mit diesem Stas und seinem Freund Juri an der Theke einer holzvertäfelten Kneipe namens Bierhimmel, Bierbaum, Biergarten oder so, du weißt es nicht mehr genau, kleben würdest, weil das Lavka dichtgemacht wurde. Razzia. ›Hast du etwa was Besseres vor?‹, hat Stas gesagt. ›Haste eben nicht! Komm schon, komm!‹ Er hatte recht, also bist du gefolgt. Bierhimmel. Unendliche Weiten. Pöbel, Gesocks und solche, die es noch werden wollen. Dieser Juri singt jetzt, dir persönlich gewidmet, ein Geburtstagslied, während er auf dem Barhocker balanciert. Eigentlich singt er nicht, er grölt. »Bekloppte dieser Welt, vereinigt euch! Ein Junger Hirnophant wird heute alt Ganze fünfundzwanzig Jahre Trallallallalla! In seinem Kopf nur Mus – Das hat der Arzt ihm so gesagt …« Du sitzt jetzt still in einer angenehm vor jeglicher Eskalation geschützten Ecke zwischen Tresen und Wandgarderobe und trinkst dein Bier. Hirnophant. Törööö, denkst du. Hättest du den beiden lieber nicht sagen sollen, dass es in deinem Kopf ganz schön ballert. Erzählt man nicht, so was. Aber was sind die auch so auf Kumpel gleich?! Hat dich verwirrt. Hast direkt aufgemacht. Juri, immer noch auf dem Hocker, gestikuliert breit mit den Armen. »Runter da jetzt! Runter, du Verrückter! Wat mit dir passiert, dit kann mir ja egal sein, aber meinen Hocker, den machst du mir nicht kaputt!«, schreit die Wirtin. Juri klettert langsam und enttäuscht darüber, unterbrochen worden zu sein, wieder erdwärts. »Komm! Ich geb ma noch einen aus!«, sagt Stas. Die etwa zwölf Gäste, manche halb auf dem Tisch liegend, andere wie gebannt auf die Spielübertragung im Flatscreen über dem Tresen starrend, sitzen jetzt, nachdem man Juri zur Räson gebrüllt hat, wieder still vor ihren Getränken. Stas bestellt eine Flasche Wodka – »die größte, die da is«, sagt er zur genervten Wirtin und schaut dich glücklich an. »Ich kann nicht mehr«, sagst du, aber das scheint untergegangen zu sein. Die Wirtin fängt an, im unteren Schrank zu kramen, und Stas nickt dir zwinkernd und breit lächelnd zu, wobei er seine Zahnlücke zwischen den vorderen beiden Zähnen präsentiert. Er sagt: »Nä, mein Junge? Machnwa jetze«, und zahlt mit einem Fünfziger, den er aus einem Bündel Scheine in seiner Hosentasche herauszieht. Du versuchst erneut mit Kopfschütteln gegen diese Idee zu stimmen – wer soll denn das trinken alles? Es sei denn, Stas lädt noch die Nachbarkneipe mit ein – aber Stas schaut dich gar nicht mehr an, sondern Juri, der zwar nach der Ansage die Kneipenmöbel in Ruhe lässt, aber jetzt von Grüppchen zu Grüppchen, Tisch zu Tisch geht, den Menschen seine Hände auf die Schultern legt und statt für alle, vom Barhocker aus, nun eben privat, close-up, direkt in die Ohren, seine Ständchen zum Besten gibt. Die Gäste fuchteln um sich, als wäre er eine nervige Fliege, wenn er ihnen süß flüsternd in die Ohrmuscheln säuselt. Die Barfrau stellt die Flasche auf den Tresen, Stas verlangt drei Gläser. »Das ist die größte Flasche?«, sagt er. »Is ja nicht mal ’n Liter. Komm, du Idiot!«, ruft er Juri zu. Der macht eine Drehung, als hätte er keine Knochen im Leib, und steuert, als er Stas mit der Flasche in der Hand anvisiert hat, leicht schwankend – hier und da kollidiert er mit den Stühlen der gerade besungenen Gäste – der Flasche entgegen. Du selbst bist richtig durch, aber jetzt doch ziemlich gut drauf. An den beiden gemessen bist du der normalste Mensch der Welt. Guck sie dir doch an: Der eine ein muskulöser Haufen Stress, der so nett lächelt, als würde er einen gleich umbringen oder liebevoll in die Arme nehmen und zerdrücken, und der andere sein hübscher Troubadour? Warum geben die sich überhaupt mit dir ab? Bratan, Bruder, sagen die zu dir. Vermutlich verbrüdern die sich täglich mit irgendwelchen Resten, die allein in der Nacht herumgammeln. Und jetzt sitzt du hier und guckst dir diese beiden an und bist unentschieden zwischen Todesangst und einem super Abend. »Hier, Bratan!« »Das is ein Saftglas!« »Scheißegal, Mann!«, sagt Stas und hält sein Glas hoch. Juri redet auf die Bedienung ein, warum sie denn keine Häppchen machen könne, während diese statt Brote zu belegen, ihn belegt, ihm immer lauter und deutlicher einzutrichtern versucht, dass Häppchen um vier Uhr nachts einfach mal nicht drin sind jetzt. Hat mir gerade noch gefehlt heute, denkt sie sicher. Die hat im Mund bestimmt einen faulenden Zahn, so komisch, wie sie beim Sprechen ihren Kiefer verzieht, denkst du und versuchst bei jedem Öffnen ihres Mundes zu zählen, wie viele Implantate sie bräuchte, um wieder ein vollständiges Gebiss zu haben. So eine Behandlung zahlt die Kasse nicht. Und dann kommt so ein rotzevoller Heini und will, dass sie Brote schmiert. Ob’s hackt, denkt sich die Barfrau bestimmt. Würdest du auch denken an ihrer Stelle. Aber von deiner Seite des Tresens betrachtet, ist alles bislang recht amüsant. »Doch!«, sagt Juri, »muss drin sein! Das gehört zum guten Ton!«, sagt er. Der Mann der Barfrau kommt ihr zu Hilfe und stellt sich vor sie. »Sag du es ihm, René«, sagt sie, nimmt eine Rohrzange und geht in Richtung Toilette, irgendein sanitäres Verstopfungsproblem lösen gehen, ist bestimmt weniger nervig als ihr hier. René steht nun wie ein brünftiger Primat aufgebaut hinter dem Tresen, beide Hände auf die Ablagefläche gestützt, und wartet, was aus Juri noch so rauskommt. Aber Juri hat plötzlich keine Lust mehr, sich zu unterhalten, und dreht sich um: »Is ja gut, is ja gut, René. Kein Grund, hier den Bock rauszuhängen«, er nimmt sein Glas aus Stas’ Hand: »Auf die Liebe, ihr Spackos.« Du zierst dich nicht mehr. Du denkst an Sina und an Mutter, wie sie jetzt in ihren warmen Betten liegen und frieren, weil du ihnen einen Eispflock ins Herz verpasst hast. All die Bitterkeit rutscht dir mit dem halb warmen Wodka die Kehle runter und legt sich in deinem Bauch schlafen. Du, Stas und Juri. Drei, zählst du. Eine phantastische ungerade Zahl. Die zweite nach eins. Und die ist zu klein, um eine so gute Party zu feiern. Das ist der längste Geburtstag, den du je hattest. Und mit steigendem Pegel wird der immer besser. Ein eigenständiges Grinsen zieht sich von einem Ohr zum anderen. Die Flasche wird leerer und leerer. Die Kneipe auch. Lediglich an einem Tisch sind noch vier Menschen. Und am Tresen steht ein älterer Mann und gleitet, schon halb im Schlaf, an der Holzvertäfelung herab. Er rappelt sich wieder auf, um dann wieder abzugleiten, immer und immer wieder, ein verlässlicher Regelmäßigkeit folgendes Spiel. Zeit, mit dem Trinken aufzuhören, denkst du dir. Sowohl für ihn als auch für dich. Dir ist übel. Stas erzählt Juri, dass seine Freundin jetzt heiraten will,...




