E-Book, Deutsch, 416 Seiten
Kelman Island of Fear
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-98952-196-4
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Thriller: Sie findet ein entführtes Kind - wird sie es beschützen können?
E-Book, Deutsch, 416 Seiten
ISBN: 978-3-98952-196-4
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Mit mehr als zwei Millionen verkauften Exemplaren ihrer Bücher ist Judith Kelman eine Meisterin der psychologischen Spannung. Sie wurde für ihren Thriller »Fürchte dich vor mir« mit dem Mary Higgins Clark Award ausgezeichnet und war Vorsitzende der Mystery Writers of America. Sie lebt in New York City. Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihre Thriller um Rechtsanwältin Sarah Spooner mit den Bänden »Wo das Dunkel herrscht« und »Wenn die Unschuld stirbt« sowie die Standalone-Thriller »House on the Hill«, »Schrei, wenn du kannst« und »The Black Widow«.
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Kapitel 1
Irgendetwas war im Kinderzimmer nicht in Ordnung. Eva Haskel wurde von einem nicht zu überhörenden Knacken wach. Dann war es wieder still, bedrückend still. Eine schreckliche Ahnung legte sich wie eine Schlinge um ihren Hals.
Sie lauschte angestrengt und konnte die Vorboten eines nahenden Sturmes wahrnehmen. Regen prasselte, klatschend schlugen Äste aufeinander, und der Wind heulte leise.
Das Knacken wiederholte sich nicht Vielleicht hatte sie es sich nur eingebildet. Das Entsetzen ließ nach und verschwand langsam.
Neben ihr murmelte Cal im Schlaf. Eva betrachtete sein eckiges Kinn und die Linien seiner Wangenknochen. Sie kannte die Falten auf seiner Stirn, die sich dort vom vielen Grübeln eingezeichnet hatten. Die Nase war schmal und die Lippen, wie in der Zeichnung eines Kindes, voll und vertrauend. Behutsam zeichnete Eva die Konturen mit ihrer Zunge nach. Cais Augen bewegten sich im Traum hinter geschlossenen Lidern. Eva lehnte sich zurück und betrachtete seinen schlanken Körper. Sie ließ einen Finger über seine Brust gleiten, fuhr über die holprige Straße der Rippen hinab und beschrieb liebkosend einen Kreis um seine Leisten.
Cal stöhnte.
Ganz zart streichelte Eva ihn, beobachtete, wie er sich bewegte. Sie spürte Erregung in ihrem Schoß und fühlte eine beklemmende Sorge in sich aufsteigen. Morgen würde Cal sie verlassen; das tat er immer dann, wenn sie ihn am meisten brauchte. Wieder hörte sie das Geräusch. Schicksalsschlange, zischende Bedrohung.
Diesmal handelte sie, ehe die Angst sie lähmen konnte. Sie mußte im Kinderzimmer nach dem Rechten sehen.
Während sie den Gürtel um ihren Frotteemantel band, schob sie ihre Füße in die Samtslipper. Das Holz im Ofen mußte heruntergebrannt sein. Tagsüber war der Spätsommer immer noch spürbar, aber der Sonnenuntergang brachte einen Hauch herbstlichen Fröstelns. Ihr Magen rumorte. Die Kälte war schlecht für ein kleines Kind, sogar gefährlich. Die Kälte konnte durch die zarte Haut dringen, die spärlichen Abwehrkräfte niederringen und zu wer-weiß-was-führen. Inmitten der Schatten, die durch den Flur glitten, blieb Eva stehen, um sich zu beruhigen. Sorge füllte die Luft und ließ sie sauer erscheinen. Als ob man einem Kind geronnene Milch füttert, dachte sie und versuchte den aufsteigenden Ekel zu unterdrücken.
Ihre Stimmung hob sich, als sie das Zimmer des Babys betrat. Auf Wänden und Gardinen segelten leuchtende Boote. Kleine Leuchttürme, geschaffen nach dem Vorbild der Türme, die die gefährlichen Sandbänke der Norwalk Inselgruppe markierten, dienten als Lampen. Da standen Seemannspuppen, Piratenbären und eine Flotte leuchtender Spielzeugschiffe. Die Regale waren vollgestopft mit Märchenbüchern, die von heldenhaften Seefahrern, tapferen Fischern und mächtigen Bewohnern der Tiefe handelten. In den Möbeln aus glänzendem Nußholz waren seit sechs Generationen die Kinder der Familie Haskel gewiegt und gehätschelt worden.
Es ist nichts, Eva, gar nichts, nur deine dummen Nerven, die dir wieder einen Streich spielen.
Vielleicht sagten die Leute vom Festland deshalb, sie sei verrückt Erst letzte Woche, als sie mit der Fähre nach South Norwalk gefahren war, um Vorräte einzukaufen, hatte sie ein paar von ihnen darüber sprechen hören.
Eva war in das Water Street Café gegangen, um einen Eistee zu trinken. Er wurde dort so serviert, wie sie ihn mochte, mit einem Sproß frischer Minze und braunem Zucker.
Während sie an der Balustrade zum Anlegeplatz saß, konnte sie Bruchstücke der Unterhaltung des Paares auf der anderen Seite des Ganges hören.
»Ist das nicht die Haskel-Frau?«
»Die Mutter, meinst du?«
»Schsch, sie kann dich hören!«
Es waren Fremde, aber Eva kannte sie alle viel zu gut Als Kind war sie oft hinter ihrem Vater hergelaufen, wenn er die besten Speiselokale in Süd-Connecticut belieferte. Während Papa und die Angestellten die Säcke in die Küche schleppten, wartete Eva in der Fahrerkabine des Lieferwagens mit der Aufschrift HASKEL UND SÖHNE, ERSTKLASSIGE BLUEPOINT-AUSTERN SEIT 1863.
Um sich die Zeit zu vertreiben, beobachtete Eva die Damen, die in ihren Luxuswagen zum Lunch oder Tee heranfuhren. Sie sah ihnen zu, wie sie sich in ihren Ledersitzen drehten und vorwärts glitten, als wären sie auf Rollen montiert Eva lernte ihre Bewegungen: das Haar zurückzuwerfen und zu schreiten – schreiten mit erhobener Nase und unnahbarem Blick.
Es gab Hunderte von ihnen, und sie alle glichen sich wie Zwillinge. Jede von ihnen gehörte entweder zum Country Club oder zum Yacht Club oder zum Health Club oder zur Junior League, und alle waren sie ihr Leben lang herausgeputzt und verwöhnt worden.
Eva kam zu der Überzeugung, daß diese Frauen nur zur Zierde da waren, sie dienten keinem ernsthaften Zweck. Sie glichen Autos in einer Werbung: strahlend perfektes Äußeres, doch nichts Nennenswertes unter der Haube.
Dennoch schmerzten ihre Worte. Eva haßte es, wenn über sie gesprochen wurde, selbst wenn es anerkennend war. Ihre Wangen brannten, während sie so tat, als beobachtete sie den Hafen.
Stimmt, das ist sie, flüsterte eine. Ich habe sie in den Nachrichten gesehen.
Ein frisierter Kopf neigte sich in geheuchelter Anteilnahme. Rote Lippen sprühten vergiftetes Flüstern. Schrecklich. Ich habe gehört, sie soll den Verstand verloren haben.
Sieht jedenfalls so aus. Mein Gott, diese Haare!
Eva rührte ärgerlich in ihrem Tee und wirbelte einen Zuckerschleier auf. Diese dummen Hühner hatten nicht die leiseste Ahnung. Alle Frauen der Haskels hörten mit der Geburt des ersten Kindes auf, ihr Haar zu schneiden. Den genauen Grund hierfür kannte Eva nicht, aber die Tradition war jahrhundertealt und an sie weitergegeben worden, zusammen mit dem Blattmusterporzellan, dem handgestickten Taufkleid und der goldenen Uhr mit dem zerbrochenen Glas. Für Eva waren Familientraditionen so tief und unerbittlich wie die Gezeiten. Unmöglich, sie zu mißachten, unsinnig, es überhaupt zu versuchen.
Evas dunkle, störrische Mähne fiel ihr bis über die Taille. Sie bevorzugte formlose Hängekleider, die kaum ihren schmächtigen Körper berührten. Schuhe haßte sie, und Schmuck trug sie nie. Aber nichts davon bedeutete, daß sie nicht mehr bei Verstand wäre.
Oder doch?
Das beschäftigte sie, als sie jetzt im Kinderzimmer stand. Öffne die Augen und sieh dich um, Eva. Es ist alles in Ordnung. Der Sturm, der sein Unwesen treibt, muß das Geräusch verursacht haben.
Aber als sie hinüberging, um im Kinderbett nachzuschaun, hörte sie wieder das Geräusch. Es zischte hinter ihr. Als sie sich blitzschnell umdrehte, entdeckte sie die flackernde Birne. Die Lampe war ein Modell des Green’s Ledge Leuchtturmes. Auf einem Steinfuß stand der weiße Turm, den ein Metallgeländer zierte. Als das Flackern aufhörte, war das Licht schwächer, fast erloschen.
Eva wurde wütend. Sie hatte die Birne von einer dieser Wohltätigkeitsorganisationen gekauft, die sie ständig tun eine Spende anbettelten. Jedes Mal, wenn Jackson Quints Postboot anlegte, brachte es ihr eine Handvoll raffinierter Bittbriefe von der einen oder anderen Gruppe.
Sie konnte sich noch gut an diesen erinnern. »Helfen Sie, Licht in das Leben von blinden und sehbehinderten Kindern zu bringen«, lautete der Verkaufsslogan im Brief, auf dem das engelsgleiche Gesicht eines kleinen Jungen abgebildet war. Das Kind war überwältigend schön und vollkommen – bis auf die Augen, die aussahen wie dumpfe Monde, die in dichtem Nebel untergegangen waren. Diese traurigen Augen hatten direkt aus der Broschüre heraus Eva das Herz aus dem Leibe gerissen.
Gleich mit dem nächsten Postboot hatte sie ihre zwölf Dollar plus der zwei achtundneunzig für Porto und Versand abgeschickt Zwei Monate später brachte Jackson Quint ein Päckchen mit zwei lumpigen 60-Watt-Birnen vorbei. Ein aufwendiges Zertifikat, welches beigelegt war, garantierte, daß sie hundert Jahre halten würden. Natürlich hatte Eva das nicht ernst genommen, wer würde schon in hundert Jahren Reklamationen entgegennehmen? Und wer würde sie vorbringen? Trotzdem gefiel ihr der Gedanke, im Kinderzimmer eine besonders haltbare Lichtquelle zu haben. Babys hatten aus gutem Grund Angst vor der Dunkelheit. Dunkelheit war die Maske des Bösen, die Spielwiese des Todes. Nie hatte die Dunkelheit je etwas Gutes hervorgebracht bis auf den Morgen.
Das Lampenlicht flackerte wieder.
»Hab keine Angst, Liebling«, flüsterte Eva, »Marni ist hier.« Sie ließ die Bettwand herunter und fuhr mit ihren Händen unter das Deckenbündel.
Während sie es sich im Schaukelstuhl bequem machte, summte sie leise vor sich hin. Das rhythmische Knarren des Stuhls und der feste Druck gegen ihre Brüste ließ sie schläfrig werden. Wärme durchströmte sie, alles wurde licht und leicht Der wütende Sturm draußen schien Meilen entfernt »Marnis kleiner Liebling.«
Plötzlich zerriß ein Blitzstrahl den Nachthimmel. Eine heftige Erschütterung ergriff das Haus. Eva hörte die Mole knirschen, die aufgewühlte Brandung forderte die Wellenbrecher heraus. Sie zog ihr Bündel noch näher an sich, streichelte und beruhigte es. »Nur ruhig, mein Schatz, es ist nichts passiert«
Die Kleinen waren so ängstlich bei Sturm, am besten, man versuchte sie abzulenken. Eva sang den ersten Vers, der ihr in den Sinn kam: »Maikäfer, flieg«, Ruhe breitete sich in ihr aus, sie fühlte sich wohl.
»– dein Vater ist im Krieg –« Sie verschluckte die letzten Worte. Welch schreckliche Vorstellung. Weshalb beschäftigten sich so viele...




