E-Book, Deutsch, 486 Seiten
Kemme / Groß / Posch Basislehrbuch Kriminologie
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-8011-0928-8
Verlag: Verlag Deutsche Polizeiliteratur
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 486 Seiten
ISBN: 978-3-8011-0928-8
Verlag: Verlag Deutsche Polizeiliteratur
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zu den Herausgeberinnen: Frau Prof. Dr. iur. Dipl. Psych. Stefanie Kemme ist seit 2023 Professorin für Kriminologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Sie studierte Psychologie und Rechtswissenschaften an der Freien Universität und an der Humboldt-Universität in Berlin sowie an der Università Degli Studi Roma Tre. Nach einem Jahr in Frankreich trat sie an der Justus-Liebig-Universität in Gießen eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzugsrecht bei Prof. Dr. Kreuzer an. Sie promovierte 2007 in den Rechtswissenschaften. Nach dem Referendariat am Kammergericht Berlin arbeitete sie zunächst als Rechtsanwältin für die Wirtschaftskanzlei Heuking Kühn Lüer Wojtek. 2009 begann sie ihre Tätigkeit als Projektleiterin am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN). Von 2011-2015 war sie Juniorprofessorin für Strafrecht an der Universität Hamburg und von 2015-2023 Professorin für Kriminologie und Strafrecht an der Hochschule der Akademie der Polizei Hamburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Polizei, Punitivität, Vorurteile und Stereotype, Jugenddelinquenz und Jugendstrafrecht, Kriminalpolitik, Kriminalitätsprognosen, Rechtspsychologie und Interkulturelle Kriminologie. Prof. Dr. Eva Groß studierte in München Soziologie, in Hamburg internationale Kriminologie und promovierte an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld (2016). Von 2008-2015 arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld. Von 2015-2018 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der kriminologischen Forschungsstelle des LKA Niedersachsen und trat im Dezember 2018 eine Professur für Kriminologie und Soziologie an der Hochschule in der Akademie der Polizei in Hamburg an. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, vorurteilsmotivierte Kriminalität (Hasskriminalität), Polizei, Rechtsextremismus, (Online-)Radikalisierung, Viktimisierung/Dunkelfeld, Ökonomisierung des Sozialen, institutionelle Anomie und soziale Ungleichheit. Unter Mitarbeit von: Prof. Dr. Lena Posch Dr. Anabel Taefi Prof. Dr. Ulrike Zähringer
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1Was ist Kriminologie?
Zum folgenden Kapitel
Wie grenzt sich die Kriminologie zur Kriminalistik ab und wie ist sie eingebettet in die Kriminalwissenschaften?
Was sind die Bezugswissenschaften der Kriminologie?
Was ist der Unterschied zwischen Kriminalität und Delinquenz?
Wie stehen Kriminologie und Kriminalpolitik zueinander?
Welche Strafzwecke gibt es?
Warum Kriminologie für Polizeibeamt:innen?
Kriminologie bedeutet als Kombination von „crimen“ (lat. Verbrechen) und „lógos“ (griech. Lehre) wörtlich übersetzt die Lehre vom Verbrechen bzw. die Lehre von der Kriminalität. Damit ist ihr Gegenstandsbereich aber keineswegs abschließend beschrieben. Verschiedene Autoren haben versucht zu beschreiben, was Kriminologie ist und womit sie sich beschäftigt.
So schreiben Sutherland, Cressey und Luckenbill1: Diese Definition legt den Fokus auf den Rechtsbrecher und die Verbrechenskontrolle.
Nach Kaiser2 ist die „Kriminologie die geordnete Gesamtheit des Erfahrungswissens über das Verbrechen, den Rechtsbrecher, die negative soziale Auffälligkeit und über die Kontrolle dieses Verhaltens. Ihr Wissensgebiet lässt sich mit den drei Grundbegriffen Verbrecher, Verbrechen und Verbrechenskontrolle treffend kennzeichnen. Ihnen sind auch die Opferbelange und die Verbrechensverhütung zugeordnet“.
Kerner3 verwendet eine noch detailliertere Definition, indem er Kriminologie als „Wissenschaft von den Entstehungszusammenhängen, Erscheinungsformen, Vorbeugungs- und Bekämpfungsmöglichkeiten, geeigneten Sanktions- und Behandlungsformen des Verbrechens im Leben von Individuen und Gruppen sowie der Kriminalität im Gefüge von Staat und Gesellschaft unter Beachtung der Reaktionen auf Seiten der Verbrechenskontrolle“ beschreibt.
Die Kriminologie beschäftigt sich also
mit dem:r Rechtsbrecher:in bzw. dem:r Täter:in, und auch mit dem lediglich sozial Auffälligen,
mit Kriminalität sowie insgesamt mit sozial abweichendem Verhalten, mit Entstehungszusammenhängen und Erscheinungsformen der Kriminalität
mit sozialer Kontrolle dieses Verhaltens und damit auch mit der Prävention und geeigneten Sanktions- und Behandlungsmaßnahmen und
mit dem Opfer. Dieses stand lange Zeit nicht im Fokus des kriminologischen Interesses. Heute ist die Viktimologie (Opferforschung) ein wichtiger Teilbereich der Kriminologie.4
1.1Kriminologie als Teil der Kriminalwissenschaften
Dass die Kriminologie in Deutschland ist, stellte bereits Schneider 19745 fest, beansprucht aber bis heute Gültigkeit, was sich leicht mit der in der Bevölkerung stattfindenden Verwechslung von Kriminologie und Kriminalistik belegen lässt. Schwind und Schwind6 schreiben dazu amüsiert, dass dieser Fehler auch den Medien unterläuft, wenn bspw. in Zeitungen Überschriften wie „Kriminologen auf Verbrecherjagd“ auftauchen.
Die Kriminalistik ist die Lehre von den Mitteln und Methoden der Bekämpfung einzelner Straftaten und der Kriminalität durch vorbeugende (präventive) und strafverfolgende (repressive) Maßnahmen.
Während der Kriminalist mit kriminaltaktischen, kriminaltechnischen und kriminalstrategischen Methoden versucht, Straftaten aufzuklären und den Täter zu überführen sowie Straftaten zu verhüten, versucht der Kriminologe mit sozialwissenschaftlichen Methoden nach Gesetzmäßigkeiten im Verhalten der Menschen, die mit einer Straftat zu tun haben (bspw. als Opfer, Täter, Polizeibeamte oder Justizangehörige), zu suchen.7
Die Kriminalistik ist Teil des Strafverfolgungssystems unter Zugrundelegung des strafrechtlichen Verbrechensbegriffs, wohingegen die Kriminologie „von außen“ auf den Verbrecher, die Taten und die Instanzen sozialer Kontrolle blickt und dabei auch abweichendes Verhalten, das nicht strafrechtlich relevant sein muss, unter Zugrundelegung eines weitreichenderen kriminologischen Verbrechensbegriffs berücksichtigt.
Bis heute gibt es kein einheitlich anerkanntes System der Kriminalwissenschaften. Bereits Groß und Geerds haben klassisch zwischen den normativen (juristischen) und den empirischen Kriminalwissenschaften unterschieden.8 Abbildung 1 zeigt ein erweitertes Modell auf Basis dieser Unterscheidung. Zu dem normativen Bereich zählen das materielle Strafrecht, das Verfahrensrecht, das Sanktionenrecht sowie weitere juristische Bereiche mit Kriminalitätsbezug. Unter dem Dach der empirischen Kriminalwissenschaften sind die Kriminologie und die Kriminalistik zu verorten.
Die Kriminologie ist im Gesamtsystem der Kriminalwissenschaften zu betrachten und existiert bereits seit etwa 250 Jahren,9 auch wenn der Begriff der Kriminologie erst durch das Buch „Criminologia“ des Italieners Garofalo10 bekannt wurde.
Nach Brauneck11 ist die Kriminologie aus dem praktischen Bedürfnis entstanden, Straftaten nicht nur juristisch, bspw. durch Auslegung der Strafgesetze, sondern auch in ihren soziologischen und psychologischen Zusammenhängen zu verstehen. Ist die Kriminologie also nur eine Hilfswissenschaft des Strafrechts?
Nein, Sie ist als ein Bestandteil der Kriminalwissenschaften eigenständig. Sie ist interdisziplinär, national und international verankert sowie meist praxisorientiert. Sie hat einen eigenen Gegenstandsbereich, eigene Theorien und eigene Methoden. Sie ist eine empirische Sozialwissenschaft, die systematisch Daten über soziale Tatsachen vorwiegend durch Beobachtung, Befragungen/Interviews oder Experimente erhebt und auswertet. Schauen wir uns zunächst an, was Interdisziplinarität, nationale und internationale Verankerung und Praxisorientierung meint.
1.2Kriminologie als interdisziplinäre Wissenschaft
Interdisziplinarität beschreibt das integrationsorientierte Zusammenwirken von Personen aus mindestens zwei Disziplinen.12 Es lässt sich sagen, dass der Gegenstandsbereich der Kriminologie seit der Aufklärung von Philosophen, Anthropologen, Psychologen, Soziologen, Psychiatern, Medizinern, Juristen, Pädagogen, Politik- oder Erziehungswissenschaftlern, um nur einige zu nennen, also unter Einbeziehung verschiedener Disziplinen, betrachtet und erforscht wurde. Der jeweilige Einfluss einer Disziplin war in der Geschichte der Kriminologie und ist nach wie vor in verschiedenen Kulturen unterschiedlich stark.
Besondere Bedeutung haben die Soziologie, die Psychologie, die Pädagogik, die Medizin/Psychiatrie und die Biologie/Ethologie/Neurobiologie.
Die Soziologie ist eine Wissenschaft, die soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will.13 Im Zentrum steht das Zusammenleben von Menschen und Gemeinschaften. Im Rahmen der Kriminalsoziologie geht es primär um die gesellschaftlich bedingten Ursachen von Kriminalität und abweichendem Verhalten, um soziale Probleme und soziale Kontrolle. So werden bspw. sozioökonomischer Status, Arbeitslosigkeit, Armut, Merkmale der Wohnumgebung und deren Zusammenhänge zur Kriminalität untersucht. Auch die sozialen Normen des Zusammenlebens in Gruppen und Gesellschaften und damit verbundene gesellschaftliche Ausgrenzungsprozesse sind Themen der Kriminalsoziologie. Der soziologische Ansatz fokussiert somit nach Sutherland, Cressey und Luckenbill14 auch verstärkt auf das „lawmaking“, indem Bedingungen, unter denen sich Strafgesetze z.B. aus Normen entwickeln, systematisch analysiert und ihre Folgen betrachtet werden.
Im Zentrum der Psychologie hingegen steht nicht die Gesellschaft, sondern das Individuum. Die Psychologie beschäftigt sich mit dem Erleben und Verhalten des Menschen, seine Entwicklung im Laufe des Lebens und alle dafür maßgeblichen inneren und äußeren Ursachen und Bedingungen. Von Bedeutung für die Kriminologie sind vor allem die Entwicklungs-, die Sozial- und die Rechtspsychologie.
Als Teilbereich befasst sich die Rechtspsychologie mit der Anwendung psychologischen Wissens oder psychologischer Methoden zur Lösung von Aufgaben des Rechtssystems.15 Sie ist wiederum in die Teilbereiche ‚Kriminalpsychologie‘ und ‚Forensischen Psychologie‘ unterteilt. Letztere befasst sich mit psychologischen...