Kern | Kein Vater, kein Land | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 143 Seiten, Format (B × H): 134 mm x 204 mm

Kern Kein Vater, kein Land

Roman
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-96639-042-2
Verlag: Secession Verlag Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 143 Seiten, Format (B × H): 134 mm x 204 mm

ISBN: 978-3-96639-042-2
Verlag: Secession Verlag Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



In kalter Winternacht flieht Lee aus der Stadt an die Sydow, ins Revier seiner Kindheit, zum Vater, dem Großvater seines noch sehr jungen Kindes. Doch der hat das alte Forsthaus Hals u?ber Kopf verlassen. Was ist vorgefallen im Sydower Forst? Was hat es mit den geto?teten Tieren auf sich? Im Sydower Luch, einer zunehmend zersto?rten Auenlandschaft, findet Lee schließlich seinen Vater. Doch der ist nicht mehr der stattliche Mann von einst, ein Anwalt der Natur und Hu?ter der Tiere, sondern ein verbitterter, wirrer Greis im Wahn. Lee begreift, dass er mit seinem Vater auch das Land seiner Kindheit verloren hat, und er weiß, um seinem eigenen Kind eine Zukunft zu bieten, muss er dieses Land endgu?ltig hinter sich lassen.

BJO?RN KERN, 1978 geboren im Su?dschwarzwald, lebt im Oderbruch. 'Die Erlo?ser AG' wurde fu?r das ZDF verfilmt, 'Das Beste, was wir tun ko?nnen, ist nichts' wurde zum Bestseller. Fu?r seine Bu?cher erhielt er unter andere. den Bru?der Grimm Preis und das Casa Baldi Stipendium der Villa Massimo sowie, fu?r seinen großen Beziehungsroman 'Solikante Solo', das Brandenburgische Literaturstipendium.
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AM SYDOWER GRABEN erreichten sie die Stadtgrenze, der Bürgersteig verendete in einem Haufen Schnee. Auf dem Ortsschild war der Name der Stadt durchgestrichen, darüber stand nichts. Kein Ort in den nächsten Kilometern, nirgends. Lee bog aufs Feld ab, die Luft roch verbrannt. Er leerte seine Flasche, warf sie auf den toten Acker, stolperte weiter, zog das Kind über die verharschten Schneewehen. Nach einigen Kilometern wagte er sich zurück auf die Landstraße, näherte sich der Lichtinsel einer Tankstelle. Er bedeutete dem Kind, an den Zapfsäulen zu warten, und betrat den grellen Verkaufsraum.

– Gibt’s Milch?

– Machste dich über mich lustig?

– Wo’s Milch gibt?

– Und was willste mit Milch, mitten in der Nacht?

Der Mann zeigte aufs Kühlregal. Lee nahm den letzten, vorrätigen Milchkarton, zahlte, barg draußen das Kind in seinem Arm. Gemeinsam stemmten sie sich gegen den Wind, machten wieder Strecke auf der verwaisten Landstraße, nach Osten, natürlich wieder nach Osten. Nach einer Zeit im Wind und im Schnee und in der Dunkelheit erreichten sie endlich den Deich.

Die Sydow war zugefroren in diesem Jahr, die Grate der aufgeworfenen Schollen mit Schnee überzogen, ein Eisfall voller Winkel und Kanten und Zacken. In der Flussmitte dampfte ein Eisbrecher, schob zwei Lichtkegel vor sich durch die Nacht, das Brechen der Schollen klang hart herüber. Eine Böe trieb dem Kind erneut Schnee unter die Fellkrause seines kleinen Parkas. Lee fegte die gröbsten Flocken heraus, drehte sich um, spähte, lauschte, doch der Raum hinter ihnen schien dunkel und leer.

– Wird alles gut, wenn wir bei Opa sind, sagte Lee.

– Werden die Männer uns folgen?

– Nein. Hab keine Angst.

Beim nächsten Kilometerstein schlitterten sie die vereiste Böschung hinunter, auf einen Grenzpfosten zu, und gingen landeinwärts. An den drei Eichen querten sie die Feldentwässerung, hielten sich einige hundert Meter am Schützengraben, betraten den Sydower Forst. Die Nacht verdichtete sich, ein Eichhörnchen stob davon, aus der Ferne das unermüdliche Krachen des Brechers.

Das Forsthaus lag karg und verlassen, die Fenster duster, der Schornstein ohne Rauch. Das Wellasbest war vom Anbau heruntergeweht und ragte zersplittert aus dem Schnee, ein goldenes Vorhängeschloss versperrte die Eingangstür.

– Sind wir da?, fragte das Kind.

– Ja, sind wir.

– Hier wohnt er? Warum geh’n wir nicht rein?

– Er ist nicht zuhause.

– Dann warten wir auf ihn?

– Da können wir lang warten, wie’s scheint.

Lee wusste nicht, was er tun sollte. Dass der Vater nicht mehr an der Sydow leben könnte, war ihm nicht in den Sinn gekommen.

Sein Vater.

Der Großvater seines Kindes.

Er hob das Kind auf den Arm, umrundete das Forsthaus. Der Bauwagen stand noch; in den Rillen der blechernen Außenverkleidung brach sich der Mond. Lee schob das Kind die wenigen Stufen zum Wagen hinauf, folgte ihm und zog die Tür hinter ihnen zu. Er sank auf die Liege, deckte das Kind zu, das Kind nuschelte etwas und schlief sofort ein.

Draußen, hinter dem Schiebefenster, schlich ein Reh über den Vorplatz, in der mondgrauen Nacht eines späten Winters. Eine Ricke, die ihren linken Hinterlauf nachzog, das Fell hatte sich von der Flanke gelöst, auf der baren Haut wuchsen Schwären. Lee bereute, dass er nicht das Gewehr aus dem Keller geholt hatte, am Fenster rauchte er die letzte, klamm gewordene Zigarette aus seiner Parkatasche auf.

Auf seinem Handy sah er nach, wann Tauwetter einsetzen würde. Ende der Woche.

Schwerer Unfall auf der A9.

Ehemaliger Bundestagspräsident gestorben.

Bayern – Schalke 0:1.

Das Symbol für Anrufe in Abwesenheit blinkte. Sie hatten dutzendfach versucht, ihn zu erreichen.

Später in der Nacht weckten ihn Motorengeräusche, eine Autotür wurde aufgerissen. Im ersten Moment fürchtete er, die Beamten wären ihm gefolgt. Technomusik wummerte zwischen den Kiefern, Funkverkehr knackte, Lee dimmte das Display seines Handys herab.

– Was ist das?, fragte das Kind.

– Das ist nichts.

– Ich höre es doch. Es rauscht. Einer spricht.

– Das ist Musik, sagte Lee.

– So klingt keine Musik. Ich weiß, wie Musik klingt. Sag, was ist das?

– Das ist nichts.

– Ich höre es doch.

Die Autotür wurde wieder zugeschlagen, der Bass setzte aus, auch das Knacken und Rauschen der Funkgeräte verklangen. Unwahrscheinlich, dass die Beamten ihm bis hier heraus gefolgt waren. Vielleicht nur ein Jäger. Lees Handy war nun feucht unter seinen verschwitzten Fingern, der Akkustand zu niedrig für ausreichende Helligkeit. Es gefiel Lee nicht, wie schnell sich das Licht verzog, bis da keines mehr war, bis es schwarz wurde, und als er gar nichts mehr sah, traf ihn die Nacht wie ein Schlag.

Er richtete sich auf, hektisch atmend, nahm die Hand des Kindes, was ihn beruhigte. Lees Vater hatte recht behalten. Es war kein Land für Kinder. Es war keine Zeit für Kinder. Im Frühjahr würde die Sydow über die Ufer treten. Draußen zeigte sich zwischen den Kiefern der erste Beginn des kommenden Morgens. Weißlich, noch ohne Wärme, ohne Sonne, nur etwas heller im sonst kalten Schwarz.

– Öffnen Sie die Tür!

Die Männer klingelten, klopften. Lee hielt dem Kind den Mund zu, trug es in Marjuschas Küche, in ihrer Wohnung im Außenbezirk, und schloss die Küchentür ab.

– Wenn Sie nicht umgehend aufmachen, kommen wir wieder und lassen die Wohnungstür aufbrechen!

Die Stimme des Mannes klang durch die beiden Türen gedämpft. Das Kind kroch unter Marjuschas Küchentisch und hielt sich die Ohren zu.

– Und wenn er doch nicht da drin ist?, fragte der Kollege des Mannes, leiser, der Stimme nach jünger.

– Er ist da drin, und das Kind ist bei ihm. Ich weiß es. Aufmachen! Machen Sie sofort die Tür auf! Zeigen Sie Verantwortung!

– Das hat doch keinen Sinn.

– Kommen Sie raus! Denken Sie nicht an sich, denken Sie an Ihr Kind!

Als Lee aus dem Schlaf schreckte, schmeckte er Blut im Mund. Er hatte sich das Wangenfleisch aufgebissen, mit der Zungenspitze fuhr er die Grate und Knoten aus Haut entlang, dann schluckte er das Blut hinunter und stand auf. Er vergewisserte sich, dass niemand im Forst vor dem Bauwagen stand, dass er in Sicherheit war. Die Männer hatten fast eine Viertelstunde vor Marjuschas Wohnung mit Klopfen zugebracht.

– Guten Morgen, sagte er zu dem Kind.

– Ich hab nicht geschlafen. Es war zu kalt.

– Du hast geschlafen wie ein Baby.

– Ich hatte Angst, ich erfriere. Ich will, dass Mama hier ist.

– Ich war die ganze Nacht bei dir.

– Mama merkt, wenn ich wach bin. Sie streichelt mich dann. Hier, schau, am Hals.

– Wir werden nicht lange bleiben.

– Du sollst herschau’n. Wo sie mich streichelt. Hier, an der Seite, am Hals.

– Wir müssen weiter nach Osten, ins Luch.

– Zu Mama?

– Zu Mama, ja.

– Dann geh ich heut wieder nicht in den Kindergarten?

– Nein. Und jetzt trink deine Milch.

Im Schlaf hatte der Atem des Kindes in der kleinen Fellkrause Reif hinterlassen, der unter dem angestrengten Schnaufen, mit dem das Kind stets trank, zu schmelzen begann. Erst jetzt, im Morgenlicht, sah Lee die Abbildung an der Wageninnenwand, eine verknappt gezeichnete Geiß mit praller Kruppe, der rücklings ein Bock aufsaß; daneben zwei Geißlein.

Die Liege, auf der Lee und das Kind geschlafen hatten, war fleckig, auf dem Boden lagen Mäusekot und Zigarettenkippen, Bierdosen und Zeitungspapier.

Lee wischte dem Kind den Milchbart von der Oberlippe.

– Warte hier.

– Wohin gehst du?

– Ich lass dich nicht allein.

– Ich will nur wissen, wohin du gehst.

– Du musst lernen, ein paar Minuten allein zu sein. Hier draußen gelten andere Regeln.

– Ich will aber nicht. Ich will das nicht lernen.

– Ich lass dich nicht allein. Niemals, hörst du?

Er ging durch schafthohen Schnee, der von oben in das Futter seiner Stiefel drang, schlitterte über herabgestürzte Verkleidungsbleche unter der Schneedecke, über Dachanker und gesplitterte Ziegel vom südlichen First. Die Hasenställe...


Kern, Björn
BJO¨RN KERN, 1978 geboren im Su¨dschwarzwald, lebt im Oderbruch. »Die Erlo¨ser AG« wurde fu¨r das ZDF verfilmt, »Das Beste, was wir tun ko¨nnen, ist nichts« wurde zum Bestseller. Fu¨r seine Bu¨cher erhielt er unter andere. den Bru¨der Grimm Preis und das Casa Baldi Stipendium der Villa Massimo sowie, fu¨r seinen großen Beziehungsroman »Solikante Solo«, das Brandenburgische Literaturstipendium.



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