Kesting Augenblicke mit Jean Améry
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8353-2671-2
Verlag: Wallstein Verlag
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Essays und Erinnerungen
E-Book, Deutsch, 270 Seiten
ISBN: 978-3-8353-2671-2
Verlag: Wallstein Verlag
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Hanjo Kesting, geb. 1943, war bis 2006 Leiter der Hauptredaktion »Kulturelles Wort' beim NDR. Seit 2006 arbeitet er als Redakteur der Zeitschrift »Neue Gesellschaft/ Frankfurter Hefte'. Zuletzt edierte er eine »Ho?rEdition der Weltliteratur' in 50 Ba?nden. 2005 erhielt er den KurtMorawietzLiteraturpreis der Stadt Hannover und 2007 die Ehrenpromotion der Universita?t Hamburg.
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Der Tod des Geistes als Person
Erinnerung an Jean Améry
Wer war Jean Améry? Der Schriftsteller selbst pflegte, wenn man ihn um Auskunft über seine Person und sein Leben bat, mit ein paar dürren, knappen biographischen Daten zu antworten. Geboren 1912 in Wien, aufgewachsen in Oberösterreich als Sohn einer Kriegerwitwe, die in Bad Ischl eine Gaststätte und Pension betrieb; der Vater war 1916 im Ersten Weltkrieg als Tiroler Kaiserjäger gefallen. Eine kleinbürgerliche Herkunft, eine Jugend in der österreichischen Provinz – kaum tritt aus solchen Hinweisen die geistige Physiognomie des Mannes hervor, der als einer ihrer großen Essayisten zur deutschen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts gehört.
Als Jean Améry 1977 den Lessing-Preis erhielt, hieß es in der Preisurkunde: »… ein streitbarer Humanist … der lebenslang Wert und Würde des einzelnen gegen eine übermächtige Gesellschaft verteidigt hat – die er dennoch nicht als dumpfe Masse verachtet.«
Was erfahren wir aus solchen Sätzen? Viel und wenig zugleich, wie immer, wenn für ein großes und vielfältiges Lebenswerk die prägnante Formel gesucht wird. Gewiss trifft zu: Jean Améry war ein geistiger Nachfahr der Aufklärung, er verteidigte Wert und Würde des Einzelnen, er schlug sich auf die Seite des kleinen Bürgers und einfachen Mannes, der Namenlosen und Außenseiter. Und dennoch verstellen diese Sätze den Blick wenn nicht auf das Wesentliche, so doch auf das Charakteristische: die unverwechselbare Subjektivität, die – nach einem Wort Amérys – des Einzelnen einziges Eigentum ist. Hinter der Formel vom »streitbaren Humanisten« verschwindet das reale Lebensschicksal des Jean Améry, des Emigranten, Résistance-Kämpfers und KZ-Insassen, bis zur Unkenntlichkeit.
Noch einmal also: Wer war Jean Améry? Er war ein deutsch schreibender Jude aus Österreich, der mit Geburtsnamen Hans Mayer hieß und sich später, nach 1945, jenseits der deutschen und österreichischen Grenzen, durch Umstellung der Buchstaben in den französischen Jean Améry verwandelte. Ein Journalist, Publizist und Schriftsteller. Ein Kulturkritiker und Philosoph. Ein in einem in Deutschland seltenen und ungewöhnlichen Sinn. Autor eines umfangreichen politisch-schriftstellerischen Werks, bestehend aus zahllosen Zeitungsartikeln, kulturkritischen Streitschriften, Zeitanalysen, literarischen Essays, erzählerischen Reflexionen. Er war unermüdlich tätig für Hörfunk und Fernsehen, wurde oft geladen zu Vorträgen und Diskussionen. Er war schließlich der Verfasser von – wenn wir richtig zählen – achtzehn Büchern, von denen einige zu relativer (und das heißt im Zeitalter der Massenmedien bemerkenswerter) Bekanntheit gelangten: .
Am 17. Oktober 1978 nahm sich Jean Améry in einem Hotelzimmer in Salzburg mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben. Es war der Tag der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse, zu der man ihn erwartete. Nun empfing man die Nachricht von seinem Tod mit respektvoller Erschütterung. Der Betrieb, die Geschäftigkeit, das Geschäft, all diese realen Manifestationen dessen, was Améry den »Glanz-Verfall« genannt hat, ließen ein Innehalten nicht zu. Nachrufe waren zu schreiben und Würdigungen. Und natürlich erinnerte man sich an den »Diskurs über den Freitod«, worin Jean Améry geschrieben hatte: »Der Freitod in seiner Widersprüchlichkeit ist der einzige Weg ins Freie, der uns offensteht. Vielleicht ist der frei gewählte Tod die einzige Chance eines wahrhaft würdigen Sterbens.«
Für Jean Améry bedeuteten diese Sätze gewiss mehr als ein intellektuelles Denk-Spiel. Dass sie ernst gemeint waren, musste im Salzburger Hotelzimmer vom Autor nicht erst bewiesen werden. Erschreckender und entwürdigender Gedanke, dass hier etwas hätte bewiesen werden sollen. Gleichwohl, es schreibt einer nicht umsonst ein Buch über den Freitod. Die Öffentlichkeit, gedankenlos, unbekümmert, sensationsgierig, wollte es anders sehen. Der Freitod wurde durch Schlagwörter in Schlagzeilen verschoben. »Ein Toter auf Abruf« hieß es in einer großen Zeitung. Und schlimmer noch: Das Buch über den Freitod, gewiss ein Indiz der suizidären Disposition des Autors, nahm man für ihre Ursache. Wo allenfalls ein nicht durchschaubarer Zusammenhang bestand, wurde eine direkte Kausalität vermutet und ausgesprochen. So taugte dieser Tod, der als ein freier gewollt war, noch zur Mystifikation. Im »Diskurs über den Freitod« stehen die Sätze: »… worauf es [den Suizidanten] ankommt, ist die je totale und unverwechselbare Einzigartigkeit ihrer Situation, der ›situation vécue‹, die niemals vollkommen mitteilbar ist, so daß also jedesmal, wenn einer stirbt von eigener Hand, oder auch nur zu sterben versucht, ein Schleier fällt, den keiner mehr heben wird, der günstigstenfalls so scharf angeleuchtet werden kann, daß das Auge ein fliehendes Bild erkennt.«
Das aber heißt: Nichts wissen wir wirklich über die »Situation vor dem Absprung«, wie Améry den unbegreiflichen Augenblick genannt hat. Wir können ihn nur, mit Améry, hypothetisch fassen als Erfahrung eines »absurden Freiheitsrausches«, als Akt der Freiheit, der »im doppelten Wortsinne Freiheit«. Als solcher bleibt er abstrakt, es lässt sich kein Zeugnis davon geben. Wohl aber trifft zu, dass ein solcher Tod das Leben, das vorausging, noch einmal blitzartig erhellt. Diese Kausalität, die sich hier, obzwar undurchschaubar, voraussetzen lässt, kann auch durch den »Akt der Freiheit« nicht aufgehoben werden. Hans Mayer, Freund und Kollege Jean Amérys und sein Doppelgänger im Namen, schrieb: »Schlimm aber ist das Allgemeine in diesem sehr besonderen Fall. Jean Améry folgte dem Beispiel von Paul Celan und Peter Szondi. Drei Menschen aus dem Land Kakanien, wie Robert Musil es genannt hat. Drei Juden. Drei Überlebende, die erfahren mußten, was gemeint ist mit jenem wiederkehrenden Vers aus der ›Todesfuge‹: ›der Tod ist ein Meister aus Deutschland‹. Auch Jean ist in Auschwitz gewesen: wie Celan. In Bergen-Belsen: wie Peter Szondi. Sie alle empfanden das Überleben als unerlaubt. Das war zu revidieren. Aber sie haben uns viel geschenkt: Werke und Erinnerungen.«
Wer war Jean Améry? Die Antwort auf die Frage ist durch die Umstände dieses Todes eher schwieriger geworden. Wir können erinnern an sein Leben, seine Bücher, sein Werk, und wir können dadurch – wie es am Ende des »Diskurses über den Freitod« heißt – »gedämpft und in ordentlicher Haltung, gesenkten Kopfes den beklagen, der uns in Freiheit verließ«.
So haben wir ihn vor uns: ein kleiner schmächtiger Mann von graziler Beweglichkeit, in den Händen die unvermeidliche Zigarette, französische Marke, die Rede mit energischen Bewegungen der fingergespreizten Hand untermalend. Der Blick unter hängenden Augenlidern konzentriert und gespannt, manchmal müde in sich zurücktretend, dann wieder aufstrahlend in freundlicher Zugewandtheit. Bezwingender Charme, ein wenig hilflos, ein wenig ironisch. Die Zumutungen des Alltags werden spöttisch ignoriert. Niemals ein lautes Wort. Jede Grobheit wie ein Riss in der Welt. Geistesmensch. Umfassende Bildung. Leben in Büchern, Bildern, Filmen, Gesprächen. Aber wie entfesselt am Steuer des Autos. Die Maschine als Werkzeug, nicht als Feindin des Menschen. Fortschrittsglaube und humane Skepsis – beides zugleich. Licht und Dunkel sind hier vermischt wie in dem Jahrhundert, das man das aufgeklärte nennt. Nicht unmöglich, sich auf diesem Kopf die Allongeperücke vorzustellen. Mozart und Voltaire. Die Einheit von Grazie und Dämonie. Klarheit des Geistes, aber eingegraben in die Physiognomie Züge des Leidens, der Verzweiflung.
Als Jean Améry Mitte der sechziger Jahre, sehr spät, als fast Fünfundfünfzigjähriger, auf der literarischen Bühne Westdeutschlands erschien, schrieb Alfred Andersch in einem Aufsatz von der »Rückkehr des Geistes als Person«. Gemeint war nicht der Geist deutscher Provenienz, der Geist Hegels und Heideggers, der reine Geist, der sich Systeme baut und der Faszination eines die Praxis verachtenden Denkens erliegt. Unverkennbar bei Améry war die französische Prägung seines Denkens, ein Denken aus Sensibilität, nervöser Empfindlichkeit, Gereiztheitsreaktionen. Die Form, die es sich suchte, war nicht das System, sondern der Diskurs, seine Methode nicht wissenschaftlich streng, sondern bekenntnishaft und selbstanalytisch. Dies Denken trat hervor in einer klaren, aufhellenden, geschmeidigen Prosa und entfaltete sich vollends in der Form von Amérys glanzvollen Essays.
Der Essay ist eine subjektive Form des Schreibens. Er entwickelt sich spontan und assoziativ, wird belebt durch Phantasie und Intuition, verbindet Erzählung und Analyse, Bericht und spekulative Anstrengung des...