Kießling / Safferling | Staatsschutz im Kalten Krieg | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 608 Seiten

Kießling / Safferling Staatsschutz im Kalten Krieg

Die Bundesanwaltschaft zwischen NS-Vergangenheit, Spiegel-Affäre und RAF

E-Book, Deutsch, 608 Seiten

ISBN: 978-3-423-43851-3
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Staatsdiener der Diktatur, Anwälte der Demokratie
Die Bundesanwaltschaft hat den Auftrag, den Staat zu schützen und zur Rechtseinheit beizutragen. In der frühen Bundesrepublik ging sie mit harter Hand gegen Kommunisten vor, war in die Spiegel-Affäre verwickelt und musste sich Anfang der 1970er-Jahre mit der Bekämpfung der aufkommenden RAF einer bis dahin unbekannten Bedrohung stellen. Zugleich scheute die Bundesanwaltschaft eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ihrer eigenen Mitarbeiter – obwohl viele bereits im 'Dritten Reich' wichtige juristische Positionen bekleidet hatten. Erstmals wird in diesem Buch die Geschichte der Bundesanwaltschaft zwischen 1950 und 1974 erforscht. Es wirft ein Schlaglicht auf die heute hochaktuelle Frage, wie eine Demokratie den Staat schützen kann, ohne die eigenen Werte zu verraten.
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1. Die Reichsanwaltschaft im Kaiserreich und in der Weimarer Republik
Entstehung und Gründung 1879
Im partikularisierten Recht der deutschen Einzelstaaten des 19. Jahrhunderts gab es – nach der Auflösung des Reichskammergerichts 1806 – kein einheitliches Strafrecht und keine einheitliche Strafverfolgung. Die Reichsgründung von 1871 unter preußischer Führung sollte dann aber für eine Vereinheitlichung des Rechts sorgen. Die Reichsgründung war zwar in vielen Punkten kompromisshaft und wurde auch als »System umgangener Entscheidungen« bezeichnet.[12] Die Rechtseinheit im Reich war aber 1871 ein erklärtes Ziel. Grundrechte und Demokratie, heute Grundpfeiler der Staatlichkeit, mussten im preußisch geprägten ersten deutschen Nationalstaat – anders als in der Frankfurter Paulskirche 1848 gefordert – zurückstehen.[13] Bei der Reichsgründung ging am Ende »Einheit vor Freiheit«.[14] Gleichwohl war die Entwicklung eines Rechtsstaats, also eines Staatsgebildes, das nicht der Willkür eines Herrschers folgte, sondern allgemeinen Gesetzen und öffentlichen Verfahren verpflichtet war, ein wichtiges Ziel.[15] Und ob es die Staatsspitze wollte oder nicht, auch erste demokratische Tendenzen regten sich bereits im Kaiserreich.[16] Kurz nach der Reichsgründung 1871 wurden ein gemeinsames Strafgesetzbuch, das im Wesentlichen dem Strafgesetzbuch des Norddeutschen Bundes entsprach, welches wiederum auf dem preußischen Strafgesetzbuch von 1851 beruhte,[17] und – neben den anderen Reichsjustizgesetzen – auch das Gerichtsverfassungsgesetz[18] und unmittelbar darauf die Strafprozessordnung[19] verabschiedet und in Kraft gesetzt. Mit der Errichtung des Reichsjustizamts als Vorläufer des späteren Reichsjustizministeriums wurde auch eine Reichsbehörde ins Leben gerufen, welche die Einheit des Rechts koordinieren und überwachen sollte. Im Gerichtsverfassungsgesetz – nicht aber in der Reichsverfassung[20] – war neben der Gründung des Reichsgerichts als oberste gerichtliche Autorität für das Reich auch die Reichsanwaltschaft vorgesehen. Im Oktober 1879 wurde beides eingerichtet.[21] Als Sitz der obersten Reichsjustiz wurde Leipzig bestimmt, geografischer Mittelpunkt des Deutschen Reichs, das sich 1877 allerdings nur knapp gegen Berlin durchsetzen konnte. Mit der Verlagerung der obersten rechtlichen Autoritäten aus der Hauptstadt heraus wollte man einen Zentralismus nach französischem Vorbild vermeiden.[22] Zunächst tagte das Reichsgericht in der Georgenhalle an der Goethestraße. Das neue Reich brauchte neue Gebäude. Nur kurz nachdem mit der Errichtung des Reichstags in Berlin begonnen worden war, wurde der Bau eines neuen Amtssitzes für das Reichsgericht im Leipziger Musikviertel ausgeschrieben. Die Gebäude sollten sich architektonisch aufeinander beziehen, um zu symbolisieren, dass die Legislative und die Judikative, als ihre höchste Kontrollinstanz, beide Teile des geeinten Staates sind. Reichstag und Reichsgericht ähneln sich daher in Grundriss und Größe und haben gemeinsam, dass sie dem Stil der italienischen Spätrenaissance nachempfunden sind. Wie viele andere Justizpaläste, die in dieser Zeit überall im Reich geplant und gebaut wurden, ist der ausladende Bau ein Symbol der Macht des Rechts. Über dem Recht thront – durch eine Skulptur auf der Spitze der Kuppel verkörpert – die Wahrheit. Die Grundsteinlegung erfolgte 1888 und bereits 1895 konnten die Reichsgerichtsräte und die Reichsanwälte in das neue Gebäude einziehen. Institutionelle Entwicklung der Reichsanwaltschaft bis 1933
Die Zuständigkeit des Reichsgerichts ergab sich aus § 136 Gerichtsverfassungsgesetz. Danach gab es eine doppelte Zuständigkeit. Das Reichsgericht fungierte zum einen als Revisionsgericht in Strafsachen für das gesamte Reichsgebiet.[23] Das heißt, die wichtigen Fälle der Landgerichte und Oberlandesgerichte konnten dem Reichsgericht vorgelegt werden, um zu überprüfen, ob das Recht richtig angewendet worden war. Ziel war die Vereinheitlichung der Rechtsprechung und damit auch der Rechtsanwendung. Man folgte hier der Tradition des Preußischen Obertribunals, an dessen Vorgehen man sich in den Anfangsjahren orientierte.[24] Dem Reichsgericht oblag zum anderen auch die erst- und letztinstanzliche Zuständigkeit in Staatsschutzangelegenheiten.[25] Die Zuständigkeit wurde später ausgeweitet. Seit 1893 umfasste sie auch das Gesetz gegen den Verrat militärischer Geheimnisse, den sogenannten Kriegsverrat.[26] Eine Kuriosität bot in den Anfangsjahren die Aufgabenaufteilung der am Reichsgericht eingerichteten Spruchgruppen, also die zur Entscheidung der einzelnen Fälle zuständigen Richterkollegien, genannt Strafsenate: Während der 1. Strafsenat für die Untersuchungshandlungen und auch für die Eröffnung des Hauptverfahrens in Staatsschutzsachen zuständig war, wurde das Hauptverfahren vor dem vereinigten 2. und 3. Strafsenat des Reichsgerichts geführt. Das heißt, nach den damals üblichen Besetzungen der Senate mit sieben Richtern waren insgesamt 14 Berufsrichter zuständig.[27] 1922 wurde dieses Vorgehen geändert und ein Strafsenat für die erst- und letztinstanzlichen Hauptverhandlungen für ausreichend erachtet. Die Reichsanwaltschaft war ebenfalls im neuen Reichsgerichtsgebäude untergebracht.[28] Sie hatte die Aufgabe, die Interessen des Staats vor den Senaten des Reichsgerichts zu vertreten. Damit hatte auch sie ein doppeltes Tätigkeitsfeld. Einmal war sie aufgerufen, in Revisionsverfahren den Fall dem Reichsgericht vorzutragen, außerdem war sie Ermittlungs- und Anklagebehörde bei Hoch- und Landesverratssachen. Das Reichsgericht und die Reichsanwaltschaft arbeiteten dabei eng zusammen, in den Worten von Reichsanwalt Neumann: »Die Entscheidungen des RG. in Strafsachen werden mit Recht als das Erzeugnis gemeinsamer Arbeit von RG. und Reichsanwaltschaft bezeichnet.«[29] An der Spitze der Behörde stand der Oberreichsanwalt, der gemeinsam mit drei Reichsanwälten diese Aufgaben wahrnahm. Je ein Reichsanwalt fungierte gleichsam als Spiegel für die drei Strafsenate beim Reichsgericht, die damals mit dem Senatspräsidenten und sechs Reichsgerichtsräten besetzt waren. Der Arbeitsanfall wuchs rasch.[30] 1881 wurden der Reichsanwaltschaft Hilfsarbeiter zugestanden. Diese wurden kurzfristig je nach Arbeitsaufkommen vom Reichsjustizministerium angefordert und von den Landesjustizverwaltungen abgeordnet. Zeitweise waren doppelt so viele Hilfsarbeiter wie Reichsanwälte in Leipzig tätig. 1885 kam ein vierter Reichsanwalt hinzu, 1908 ein fünfter und 1919 schließlich ein sechster. Im Jahr 1922 entschied man sich für eine gewisse Verstetigung der Hilfsarbeiterstellen und schuf in der Folge bis 1928 drei Stellen für Oberstaatsanwälte und eine für einen Ersten Staatsanwalt bei der Reichsanwaltschaft. Die Reichsanwälte waren an die Weisungen des Reichsjustizministers gebunden. Wie extensiv seitens des Ministeriums davon Gebrauch gemacht wurde, ist umstritten und wird – offenbar auch aus politischen Gründen – jeweils unterschiedlich dargestellt und bewertet. Die Ansicht, dass aus dem Ministerium niemals Anweisungen kamen, kann jedenfalls als widerlegt gelten.[31] Zugleich ist aber auch die Betonung des »Legalitätsprinzips« (vgl. § 152 Strafprozessordnung) schon zur damaligen Zeit auffällig: Ist der Staatsanwalt bei seinen Ermittlungen streng dem Gesetz verpflichtet, minimiert das die Möglichkeiten politischer Einflussnahme.[32] Die Reichsanwaltschaft fungierte nicht als Dienstaufsicht für die Staatsanwaltschaften der Länder. Aber die Staatsanwaltschaften der Bundesstaaten hatten in den Hoch- und Landesverratsfällen den Anweisungen des Oberreichsanwalts nach § 147 Abs. 2 des Gerichtsverfassungsgesetzes Folge zu leisten.[33] Die Staatsanwälte handelten in diesen Fällen im Auftrag des Oberreichsanwalts. Reichsanwalt Treutlein-Moerdes beschrieb das System anlässlich des 25-jährigen Bestehens der Reichsanwaltschaft in Staatsschutzangelegenheiten als eine einheitlich zentralistische Organisation der Staatsanwaltschaft mit der Reichsanwaltschaft an der Spitze.[34] Dazu gehörte auch die Polizei, die nach § 153 Gerichtsverfassungsgesetz dem Oberreichsanwalt ebenfalls Folge zu leisten hatte.[35] Die (Ober-)Reichsanwälte im Kaiserreich
Fünf Oberreichsanwälte hatten seit deren Gründung an der Spitze der Behörde gestanden, als 1926 Karl August Werner die Reichsanwaltschaft übernahm, der sie bis 1936 leitete. In diesen 57 Jahren (1879 bis 1936) waren damit nur...


Safferling, Christoph
Christoph Safferling ist Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Völkerrecht an der Universität Erlangen-Nürnberg. Er war Co-Autor der Studie zur NS-Vergangenheit des Bundesjustizministeriums: ›Die Akte Rosenburg‹.

Kießling, Friedrich
Friedrich Kießling ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Bonn. Er forschte und lehrte u.a. in London, Wien und Dresden. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist der Nationalsozialismus in der BRD.

Friedrich Kießling ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Bonn. Er forschte und lehrte u.a. in London, Wien und Dresden. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit sind die Nachwirkungen des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik. 
Gemeinsam mit Christoph Safferling hat Friedrich Kießling die Geschichte der Bundesanwaltschaft nach dem 2. Weltkrieg aufgearbeitet, von der Presse breit gelobt: "Eine fulminante Studie über alte Nazis und ihren Kampfauftrag in der frühen Bundesanwaltschaft." Süddeutsche ZeitungChristoph Safferling ist Professor für Strafrecht und Völkerrecht an der Universität Erlangen-Nürnberg und Direktor der Internationalen Akademie Nürnberger Prinzipien. Er war Co-Autor der Studie zur NS-Vergangenheit des Bundesjustizministeriums: ›Die Akte Rosenburg‹.
Gemeinsam mit Friedrich Kießling hat Christoph Safferling die Geschichte der Bundesanwaltschaft nach dem 2. Weltkrieg aufgearbeitet, von der Presse breit gelobt: "Eine fulminante Studie über alte Nazis und ihren Kampfauftrag in der frühen Bundesanwaltschaft." Süddeutsche Zeitung


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