E-Book, Deutsch, 519 Seiten
Reihe: Kisch bei Null Papier
Kisch Entdeckungen in Mexiko
Überarbeitete Fassung
ISBN: 978-3-96281-705-3
Verlag: Null Papier Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 519 Seiten
Reihe: Kisch bei Null Papier
ISBN: 978-3-96281-705-3
Verlag: Null Papier Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Egon Erwin Kisch (eigentlich Egon Kisch; 1885-1948) war ein deutschsprachiger Schriftsteller, Journalist und Reporter. Er gilt als einer der bedeutendsten Reporter in der Geschichte des Journalismus. Nach dem Titel eines seiner Reportagebände ist er auch als 'der Rasende Reporter' bekannt.
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Geschichten mit dem Mais
Der mexikanischen Erde verdankt die Welt den Mais, ihren großen Ernährer. (Nur der Reis ist ein noch größerer.)
Der Mais ist eines der Kroninsignien von Mexiko; Krone ist die Agave, Zepter ist der Orgelkaktus, und der golden erstrahlende Reichsapfel ist der Maiskolben.
Nirgends tritt eine Ackerfrucht in Städten so sichtbarlich in Erscheinung wie der Mais in Mexiko. Das erste, was auffällt, sind die Tortillerías, Bäckereien und Bäckerläden zugleich und doch auch keines von beiden. Schaufenster und Türen fehlen, so zwar, dass das Lokal zu einer offenen Nische der Straße wird. Ein Teil der Arbeit vollzieht sich sogar auf dem Bürgersteig: das Scheuern der steinernen Reibe »Metate«, die Reinigung des eisernen Herds und am Abend das Kneten der ausgebrannten Holzkohle zu einer Art Briketts.
Das Innere aber, wenn man bei einem so weit geöffneten Raum von einem Innern sprechen kann, ist keine Bäckerwerkstatt mit Backofenglut und schwitzenden Gesellen und schürenden Lehrlingen, mit langen Feuerzangen, sargähnlichen Trögen und vielstöckigen Brotregalen.
In den Tortillerías sind nur Frauen am Werk. Vorerst kneten sie den aus Kalk und gemahlenem Mais bestehenden Teig, die Masa. Es ist der Kalk, der die Schmackhaftigkeit und die beliebte Helle der Tortilla ausmacht und den Esser vor Rachitis schützt; auf Schritt und Tritt sieht man, dass die Tortilla den Zähnen gut tut, – selbst die ältesten Mexikaner fletschen ein lückenloses weißes Gebiss mitsamt rosarotem Zahnfleisch, wie es bei Brotfressern nur dann erstrahlt, wenn es vom Dentisten stammt.
Ist der Teig durchgeknetet und geschmeidig, dann nimmt die Tortillera … Ehe wir weiterschreiben, müssen wir den Leser warnen, das Wort Tortillera etwa in Spanien so ohne weiteres anzuwenden. In Spanien macht und isst man keine Tortillas, aber es gibt Tortilleras. So heißen nämlich dort die lesbischen Frauen. (Als ein Schiff mit spanischen Flüchtlingen in Veracruz landete und mexikanische Zeitungen an Bord kamen, starrten die Passagiere verblüfft auf die Überschrift »Streik der Tortilleras«. Welch seltsames Land, sagten die Neuankömmlinge, wo solche Frauen streiken. Verlangen sie kürzere Arbeitszeit, höhere Löhne, Kollektivvertrag?)
Aber wir sind bei den normalen mexikanischen Tortilleras, während sie von der Teigmasse einen kleinen Klumpen zwischen die Handflächen nehmen. Nun beginnt ein weithin hörbarer Arbeitsgang. Der Klumpen wird zu einer runden und dünnen Platte gepatscht, die, um noch kreisrunder und noch dünner zu werden, unzählige Male und in hohem Bogen blitzschnell aus der einen Handfläche in die andere fliegt. Die Tschinellenschläger der seligen Wiener Burgmusik werden von den Tortilleras geradezu an die Wand geklatscht, – was Wunder, jonglieren doch die Mexikanerinnen schon seit Urzeiten ihr tägliches Brot auf diese Art und Weise, wie sollten sie’s da nicht besser können als ein Soldat mit beschränkter Dienstzeit!
Kundinnen füllen den Laden, begleiten das Klatschen mit ihrem Klatsch, dieweil die Disken die Luft durchfliegen. Von Zeit zu Zeit taucht die Tortillera ihre Hände in warmes Wasser, um haftengebliebene Teigstückchen abzuspülen. Schließlich hat der Fladen eine fast arithmetische Kreisrundheit erreicht. Auf den Comal, die heiße Herdplatte, kommt nun ein wenig Fett, damit die Tortilla nicht kleben bleibe, wenn sie daraufgelegt wird, und sie wird daraufgelegt. Leicht angebacken, mit einem schwarzen Fleck auf gelbem Fond, frisch und warm, ist sie ein Eierkuchen ohne Ei, ohne Salz und ohne Zucker. Die Tortilla ist das Brot von Millionen, und dient auch als Gabel, Löffel und Teller für jene, die zu diesem Brot noch etwas anderes zu essen haben.
Der tägliche Marktbesuch wird mit dem Einkauf der Tortillas beschlossen, und aus der Tortillería läuft die Käuferin geradenwegs nach Hause, um die Tortillas noch warm auf den Tisch zu bringen. Dort, wo das Backen im Haus geschieht, geschieht es während der Tischzeit, und ununterbrochen werden aus der Küche neue Tortillas herangetragen, auf dass sie so heiß gegessen werden, wie sie gekocht sind.
In den Dörfern regiert nicht die Tortillería das Straßenbild, sondern der Molino de Nixtamal, die Maismühle. Kein Dorf, das nicht mindestens einen Laden mit dieser Aufschrift und einer kleinen Mühle mit Gasolinmotor hat. »Nixtamal« ist ein indianisches Wort, das sich in die heutige Zeit Mexikos hinübergerettet hat. (Auch das Wort »Tlapalería« stammt von einem aztekischen Substantiv, aber da es in der Aztekenzeit kaum Farbwarengeschäfte gab, muss es erst später in Geschäftsgebrauch gekommen sein. Nixtamal wurde jedoch schon in der prähispanischen Zeit zermahlen.)
Die Frauen der Provinz bringen ihren eigenen Mais in den Molino de Nixtamal. Etwas Mais hat auf dem Lande jedermann, zumindest ein paar Stauden, die rings um die Hütte aufschießen. In den Höfen steht – Wahrzeichen des mexikanischen Dorfes – ein viereckiges, schlankes Türmchen, aus Maisstroh geflochten: der Cincolote, Speicher für Maiskolben. Ein Dach schützt ihn gegen Regen, und er steht hoch auf hölzernen Füßen, damit die Ratten nicht hinaufkriechen können.
Dem Cincolote entstammen die Körner, welche die Hausfrau im Molino de Nixtamal mit Kalk zur Masa vermahlen lässt. Zu Hause – jeder Küchenherd eine Tortillería – bäckt sie die Tortillas für ihre Familie. Oder auch für den Verkauf. Die Tortillas auf den Markt zu tragen ist Altenteil der Urahne. Barfüßig, auf den Zehenspitzen, mit gebeugten Knien und schnellen kurzen Schritten, den Korb auf dem Kopf balancierend, trabt sie seit tausend Jahren ihren Marktweg, oft meilenweit. Ein mitleidiges Auto will sie mitnehmen. Antwortlos, verständnislos trabt sie weiter, dem Markte zu. Dort hockt sie seit dem ersten jener tausend Jahre unbeweglich mitten im stoßenden Gewühl vor dem gleichen Korb mit den gleichen Tortillas an der gleichen Stelle. Wenn das letzte Stück seinen Käufer gefunden hat, trabt sie nach Hause, wie sie gekommen.
Die Molinos de Nixtamal in den großen Städten sind Fabriken, elektrisch betrieben, Aktien- oder Kommanditgesellschaften gehörig. Gegen sie und gegen ihre Maislieferanten richten sich die Vorwürfe der Bevölkerung, wenn der Preis der Tortilla steigt. Denn der Preis der Tortilla bestimmt das Leben der Massen.
Bei der...