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E-Book

E-Book, Deutsch, 416 Seiten

Kleeman Roboterland

Wie wir morgen lieben, leben, essen und sterben werden

E-Book, Deutsch, 416 Seiten

ISBN: 978-3-641-23951-0
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Willkommen in Roboterland? In ihrem eindrucksvollen Debüt nimmt uns die britische Journalistin und Dokumentarfilmerin Jenny Kleeman mit auf eine faszinierende Reise in die Welt von morgen - die schon heute entsteht. Die technische Entwicklung wird bald alle Bereiche unseres Lebens komplett verändern: wie wir geboren werden, essen, Sex haben und sterben. Kleeman trifft die Entwickler von Sexrobotern, von Organen und Fleisch aus dem 3D-Drucker und von künstlichen Gebärmüttern. Hautnah beobachtet sie, wie High-Tech-Erfindungen unseren Alltag erobern. Was macht diese radikale Veränderung mit uns? Werden wir in Roboterland noch menschlich sein? Eine hochspannende Live-Reportage aus den Labors unserer Zukunft, in denen die Grenzen des uns Bekannten radikal verschoben werden.

JENNY KLEEMAN ist eine preisgekrönte Journalistin und Filmemacherin. Sie studierte in Cambridge Politik und Sozialwissenschaften und reist auf der Suche nach spannenden Geschichten und Persönlichkeiten um die Welt. Kleeman lebt in London und schreibt unter anderem für den Guardian, The Times und The Sunday Times. Für BBC und Channel 4 hat sie diverse TV-Sendungen gemacht.
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1.
»Hier wird gezaubert.«
Der Firmensitz von Abyss Creations ist ein unscheinbares graues Gebäude an der Route 78 in San Marcos, 30 Autominuten von San Diego entfernt. Der Parkplatz ist nur zur Hälfte belegt, das Gelände von einer hohen Mauer umgeben. Ein Schild, ein Logo oder einen sonstigen Hinweis darauf, dass hinter den getönten Scheiben ein weltbekanntes, global führendes, millionenschweres Sexspielzeugunternehmen tätig ist, sucht man vergebens. Auf die Aufmerksamkeit von Passanten, Fans oder Neugierigen wird hier kein Wert gelegt. Wer durch die Schiebetür tritt, wird von einer lebensgroßen weiblichen Puppe mit dunkler Brille begrüßt. Sie sitzt am Empfang, und ihr weißes Shirt spannt sich über das üppige Dekolleté. Neben ihr steht eine männliche Puppe mit grauer Krawatte und Weste. Die Mandelaugen und markanten Wangenknochen erinnern mich eindeutig an die Videos und Fotos, die ich von Matt McMullen gesehen habe, dem Gründer, Chefdesigner und CEO von Abyss Creations. Über den Empfangstresen winden sich die künstlichen Wurzeln einer ausgesprochen lebensechten Plastikorchidee. Hier ist alles synthetisch. Doch das merkt man erst auf den zweiten Blick. Abyss Creations stellt die RealDoll her – die bekannteste hyperrealistische Silikonsexpuppe der Welt. Jedes Jahr werden 600 Stück aus der Fabrik in San Marcos in Schlafzimmer nach Florida und Texas, Deutschland und Großbritannien, China, Japan und anderswohin versendet. Das Basismodell schlägt mit 5999 Dollar zu Buche, eine Sonderanfertigung nach besonderen Kundenwünschen kann ohne Weiteres in die Zigtausende gehen. Die Zeitschrift Vanity Fair bezeichnet sie als »den Rolls Royce unter den Sexpuppen«. RealDolls sind schon als Models bei Modeaufnahmen von Dolce & Gabbana aufgetreten, in verschiedenen Filmen und Fernsehsendungen, von CSI: New York bis zu My Name is Earl und besonders publikumswirksam mit Ryan Gosling in Lars und die Frauen. Sie sind das absolute High End des Masturbationsmarkts. Durch die Fabrik führt mich Dakotah Shore, Matts Neffe und rechte Hand. Er kommt mir schon entgegen, begrüßt mich und lächelt herzlich hinter seinem imposanten kupferroten Bart hervor. Dakotah ist im Versand tätig und kümmert sich um die Social-Media-Accounts. Er ist erst 22, arbeitet aber schon seit seinem 17. Lebensjahr hier. Er ist quasi mit den Puppen aufgewachsen. »Als ich noch klein war, hat mein Vater hier gearbeitet. Matt ist der Bruder meiner Mutter und steht mir sehr nahe. Das hier hat daher für mich schon immer dazugehört und kam mir niemals seltsam vor«, erklärt er und führt mich hinter den Empfangsbereich, vorbei an einem Gestell mit Puppen in Spitzenunterwäsche und hochhackigen Schuhen. Eine Puppe ist blond, mit Porzellanteint und glänzenden kirschroten Lippen, eine andere milchkaffeebraun mit wilden Locken. Eine Goth-Puppe hat Piercings in Nase, Lippen und Nabel und Stecker in den Brustwarzen, die unter ihrem Neckholder-Netzhemd deutlich zu sehen sind. »Das erste Mal war ich mit zwölf oder 13 hier und fand es cool«, erzählt Dakotah weiter, relativiert das aber schnell. »Natürlich habe ich damals nicht die ganze Fabrik gesehen, nur die Puppen oben am Empfang. Und die fand ich cool – ganz wie echte Empfangsdamen.« Er lächelt verlegen. Wir passieren einen Gang, dessen Wände eingerahmte Zeitungsausschnitte und Filmplakate zieren, auf denen RealDolls abgebildet sind. Was auf den ersten Blick wie ein Disney-Cartoon wirkt, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Schneewittchen, das von allen sieben Zwergen gleichzeitig befummelt wird. Dakotah öffnet eine Tür und sichert sie mit einem Türstopper: einem überdimensionalen, geäderten, erigierten Silikonpenis. »Inzwischen arbeite ich hier, kenne mich aus und finde das alles ganz normal. Unsere Produkte machen viele Menschen glücklich, und darauf bin ich sehr stolz.« Über eine Treppe gelangen wir ins Untergeschoss. Sie führt unter den gewaltigen Schamlippen einer riesenhaften Puppe hindurch, die mit gespreizten Beinen über dem Treppenlauf thront. Sie hat blaugraue Haut und anstelle von Haaren kräftige, ausgearbeitete Tentakel. Sie war ein Requisit in dem weniger bekannten Bruce-Willis-Film Surrogates – Mein zweites Ich. Die Treppe endet in einem großen Raum mit Halogen-Lichtbändern, wo die Fertigung beginnt. »Hier wird gezaubert.« Von einer an die Decke montierten Schiene hängen an Metallketten reihenweise kopflose Körper herab wie Kadaver im Schlachthof. Finger und Beine sind gespreizt, der Brustkorb vorgewölbt, der Bauch eingezogen. Keine Puppe gleicht der anderen: Manche haben übergroße pendelnde Brüste, andere einen athletischen Körperbau, doch ausnahmslos alle eine unglaublich schmale Taille. Weil sie hängen, sind sie in Bewegung. Gruselig baumeln sie knapp über dem Boden, auf dem wie abgestorbene Hautschuppen gummiartige Silikonabfälle herumliegen. »Fassen Sie sie ruhig an«, fordert mich Dakotah auf und versetzt einer Puppe einen kräftigen Klaps aufs Hinterteil. »Klingt sehr menschlich.« Stimmt. Ich erschaudere unwillkürlich. Das Schaurigste an all diesen kopflosen Körpern ist die Haut. Sie besteht aus einer individuellen Mischung aus hochwertigsten medizinischen Silikonen in einem Farbspektrum, das von Hell bis Kakao reicht, fühlt sich an wie menschliches Fleisch, hat auch dieselben Reibungs- und Widerstandsmerkmale, ist aber kalt. Die Hände haben Linien, Falten, Fältchen, Knöchel und Venen. Ich verschränke meine Finger mit einer solchen Silikonhand und spüre das harte Skelett mit seinen Gelenken darunter – wie Knochen. »Die Hände sind am schwersten zu modellieren«, erklärt mir Dakotah. »Gewöhnlich werden die Hände und Füße echter Menschen nachgeformt.« Er bleibt stehen und betrachtet mehrere Exemplare genauer. »Ein paar Puppen haben übrigens die Hände meiner Exfreundin.« Mike knipst mit einer winzigen Schere vorsichtig überschüssiges Silikon an den Nahtstellen einer Hand ab. Brian füllt die Formen rund um die Skelette, damit die Körper in die kesse, vorwitzige Pose gegossen werden können. Tony lässt sich ein Sandwich schmecken. Das Arbeitsumfeld hat so gar nichts Anrüchiges: Es ist eine Werkstatt, eine Fabrik, und für die Techniker hier gehören die Puppen zum Arbeitsalltag – nicht anders, als würden sie Toaster zusammenbauen. Am Hauptsitz in San Marcos arbeiten 17 Beschäftigte. Das reicht aber nicht, um die Nachfrage zu befriedigen. Die Herstellung einer RealDoll – von der Bestellung bis zum Versand – kann mehr als drei Monate dauern. Hier wird unbestreitbar mit viel Liebe zum Detail und hochprofessionell gearbeitet. Dakotah ist sichtlich stolz auf das alles und mit so viel Ernst bei der Sache, dass ich meine nächste Frage eigentlich gar nicht stellen mag. Denn auch an RealDolls ist nur wenig real. Sie haben die Körper schönheitsoperierter Pornostars. Sie sind im Grunde Karikaturen. »Aber so sehen Frauen doch gar nicht aus?«, formuliere ich vorsichtig. »Wir haben ein paar Modelle, die zu 100 Prozent realen Frauen nachempfunden sind, ganz realistisch, doch generell wird schon ein bisschen übertrieben, das stimmt«, räumt Dakotah ein. »Wir streben eben die weibliche Idealform an.« RealDolls sind voll beweglich, mit einem Skelett aus maßgefertigten Stahlgelenken und PVC-Knochen. Sie sind so konzipiert, dass die Puppe einen ähnlichen Bewegungsradius hat wie ein Mensch – mit Ausnahme der Beine. »Die lassen sich ziemlich weit öffnen, bis ganz nach oben«, erklärt Dakotah und führt mit einer kopflosen Puppe ein paar extreme Gymnastikübungen aus, indem er ihr einen Knöchel zweimal nacheinander bis zum Schlüsselbein hochzieht. Unwillkürlich verziehe ich das Gesicht. »Das schafft doch kein Mensch«, wende ich ein. »Ein echter Mensch nicht, nein. Nun, manche vielleicht, aber sicher nicht alle.« »Aber die perfekte Frau kann es?« »Die perfekte Frau könnte das wahrscheinlich.« Die perfekte Frau hat also die Maße einer Kardashian und die Gelenke eines Schlangenmenschen. Dann führt mich Dakotah zu einem Tisch voller Vaginaleinsätze. Das sind rosa Austauschteile, die sich in den vaginalen Hohlraum der Puppe einpassen – wie eine gerippte Gummisocke mit Schamlippen an der Öffnung. »Wir haben 14 verschiedene Schamlippenformen zur Auswahl«, erfahre ich. Es gibt auch Mundeinsätze mit austauschbaren Zungen und perfekten Zähnen (schlechte Zähne gehören zu den wenigen Attributen, die nie nachgefragt werden, wie Dakotah zu berichten weiß). Die Zähne bestehen aus weichem Silikon. Daher besteht keine Gefahr, dass sich etwas darin verfangen könnte, was in den Mund eingeführt wird. Früher bekam man eine RealDoll nur unter der Dusche oder in der Wanne richtig sauber. Mit Erfindung der Einsätze wurde das einfacher. »Die lassen sich im Waschbecken reinigen. Wer es schön geschmeidig mag, kann ein bisschen Babypuder verwenden, doch das muss nicht sein. Dann setzt man das Teil einfach wieder ein.« Dakotah beschreibt das, als würde er mir erklären, wie man einen Staubsaugerbeutel wechselt. »Viele Kunden bestellen gleich mehrere Einsätze.« Es gibt auch männliche Puppen, aber nicht viele. Ich erspähe eine, die in der Fertigungsstraße hängt. Sie trägt einen OP-Kittel und hat sogar einen Kopf, der aussieht wie ein Doppelgänger von Matt McMullen. Er schaut auf uns herab mit einer Miene, die wohl ernst und versonnen sein soll, doch von da oben fast ein bisschen arrogant wirkt. »Da drüben hängt eine männliche Puppe, die...


Kleeman, Jenny
JENNY KLEEMAN ist eine preisgekrönte Journalistin und Filmemacherin. Sie studierte in Cambridge Politik und Sozialwissenschaften und reist auf der Suche nach spannenden Geschichten und Persönlichkeiten um die Welt. Kleeman lebt in London und schreibt unter anderem für den Guardian, The Times und The Sunday Times. Für BBC und Channel 4 hat sie diverse TV-Sendungen gemacht.


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