E-Book, Deutsch, 254 Seiten
Klein Rauch
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-903460-50-8
Verlag: MILENA
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 254 Seiten
ISBN: 978-3-903460-50-8
Verlag: MILENA
Format: EPUB
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Peter Klein geb. 1953 als Sohn rumänisch-deutscher Einwanderer, lebt in der Obersteiermark und in Wien. Nach einer Ausbildung zum Volksschullehrer in Graz Studium der Psychologie und Politikwissenschaft. Ab 1980 freier Mitarbeiter im ORF Landesstudio Vorarlberg. Gestalter und Autor einer Vielzahl von Dokumentationen, dazu einige Hörspiele (etwa 'March Movie', gemeinsam mit Michael Köhlmeier). Daneben langjährige Tätigkeit als Universitätslektor für Sozialwissenschaft. 1999 Übernahme der Leitung der Feature-Redaktion im Kultursender Ö1. Ab 2007 Leiter des Ressorts 'Literatur, Hörspiel und Feature'. Von 2014 bis zu seiner Pensionierung 2019 Programm- und Senderchef von Ö1. RAUCH ist Peter Kleins erster Roman.
Autoren/Hrsg.
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1. Dreier
Seine erste letzte Zigarette rauchte Sam Sapadi im Juni vor sechsundzwanzig Jahren. Sie würde ihn nicht länger küssen, hatte Lucinda gesagt, wenn er weiterhin so stinke.
Sam zögerte nicht. Er spürte etwas Heldenhaftes in sich aufsteigen. Es war nötig zu zeigen, dass er Herr seiner selbst war. Dass er sich im Griff hatte. Morgen, sagte Sam, gib mir Zeit bis morgen. Morgen höre ich auf.
Lucinda war, obwohl sie nicht reiten konnte, Argentinierin. Ringo und er hatten sie und Samantha, eine kleine, drahtige Schottin mit kurzen Zöpfen, in Kufstein an der Grenze aufgegabelt. Sie hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, am frühen Abend Tramper einzusammeln. Sie kamen aus Deutschland, Dänemark oder Holland und wollten in den Süden. Die meisten waren froh über ein Abendessen und einen Platz im Matratzenlager. Manche blieben eine Nacht, andere eine Woche, Einzelne verbrachten den ganzen Sommer in Tiefenbach. Das Haus am Inn war jahrelang leer gestanden. Ringos Großeltern hatten es bald nach dem Krieg gebaut. Jetzt roch es nach Moder, und der Hang drückte Wasser in den Keller.
Der Garten war verwildert. Ringos Eltern, ein glückloser Fotograf und eine evangelische Heimleiterin, zahlten die Baumaterialien; renovieren müsse er es selbst. Ringo ließ sich das nicht zweimal sagen. Seine Schwester Edda, die in Heidelberg Sozialpädagogik studierte, brachte ihren Freund und dessen Freunde mit. Revolutionäre, die Rudi Dutschke kannten.
Oder zumindest jemanden kannten, der Rudi Dutschke kannte. Bruno, er war bereits siebenundzwanzig und versuchte auszusehen wie der junge Fidel Castro, hatte in Heidelberg eben sein Medizinstudium abgeschlossen. Er hatte gegen den Vietnamkrieg demonstriert und wollte Schönheitschirurg werden. Man müsse die Reichen dort treffen, wo’s wehtut, sagte er.
Mit dem Skalpell mitten ins Gesicht. Dafür sollten sie bluten und blechen, die Fettsäcke und ihr Aufputz. Nicaragua sei bloß ein Alibi, Kaffee ernten könne jeder. Sam, der damals noch Thomas hieß, gefiel das. Er wollte raus aus dem Schweinesystem.
Sam rauchte Dreier. Billig und unparfümiert. Zumindest während er arbeitete, rauchte er Dreier. Allein schon aus Solidarität mit der Arbeiterklasse. Wiewohl die Arbeiterklasse selbst die filterlose Ära auf dem Weg zum Kleinbürgertum bereits hinter sich gelassen hatte. Sams Vater und seine Kollegen rauchten mittlerweile Hobby oder Smart. Teurer, aber gesünder, sagte Sams Vater. Als ob er sich jemals um seine Gesundheit geschert hätte.
Die Dreier konnten herrlich sein, vorausgesetzt, sie waren einigermaßen frisch. Ausgetrocknet sprühten sie, wenn man sie anzündete, wie Weihnachtskerzen und schmeckten nach Stroh.
Die Schachteln waren flach, die Zigaretten elliptisch. Man konnte sie, wenn man sie bis auf den Stummel rauchte, mit Daumen und Zeigefinger wie mit einer Pinzette halten und anziehen, bis die Glut an den Fingerspitzen brannte.
Viele Jahre später, Sam lebte bereits in Wien, zündete er sich, als man in U-Bahnstationen noch rauchen durfte, in der U1-Station am Süditroler Platz eine Zigarette an, um das Eintreffen des Zugs zu beschleunigen. Das funktionierte immer. Als er mit dem Fingernagel gerade die Glut wegschnippte, um den Rest der Zigarette zu retten, legte sich eine schwere, behaarte Hand auf seine Schulter. Du auch Arbeiterklasse?, sagte ein offenbar vom Balkan stammender Mann mit Arbeitsschuhen und einem Malerkübel in der Hand. Sam hätte ihn umarmen mögen. Er schenkte dem Mann die halb volle Packung. Ich habe noch genug, sagte er, ich habe genug.
Abends, wenn beide Hände frei und sauber waren, wuzelte Sam sich seine Zigaretten. Zunächst aus Landtabak, später brachten die Heidelberger Drum mit nach Tiefenbach. Ein Tabak, der nach »holländischer Art« aufbereitet wurde, wie es hieß. Und Holland war immer gut. Wenn der Tabak austrocknete, legte man über Nacht ein, zwei Apfelspalten in die Packung oder mischte ein paar Tropfen Wasser bei. Cognac wäre besser, sagte Bruno.
Aber Cognac hatten sie nicht. Wenn Sam Beton mischte, auf dem Gerüst stand, um den groben Außenputz abzuschlagen, oder wenn er den Garten zu roden versuchte, mussten es Dreier sein. Austria 3 hieß die Marke offiziell. Irgendwann einmal nahm die Österreichische Tabakregie die Zigarette vom Markt. Billig allein reichte nicht mehr.
Sam sah sich gern mit einer Dreier im Mundwinkel. Das erinnerte ihn an die Fotos amerikanischer Bauarbeiter, die beim Bau von Wolkenkratzern in schwindelnden Höhen auf Stahlträgern sitzend eine Arbeitspause machten und sich eine Zigarette gönnten. In einem Kino in Graz hatte er einmal ein Plakat gesehen. Arbeiter in atemberaubender Höhe. Direkt daneben ein zweites Plakat. Humphrey Bogart ließ lässig eine Zigarette aus seinem Mundwinkel hängen. Niemand konnte rauchen wie er.
Sam hatte spät damit angefangen. Nicht mit fünfzehn oder sechzehn, sondern in den großen Ferien vor dem letzten Schuljahr. Er hatte in einer Kettenfabrik in der Obersteiermark im Zweischichtbetrieb gearbeitet. Sie stellten Schneeketten her. Auch Schiffsketten. Sam bediente eine der Maschinen, die die bereits zu einem Glied gebogenen, manchmal fingerdicken Ketten an der noch offenen Stelle verschweißten. Seine Aufgabe bestand darin, darauf zu achten, dass die offenen, unverschweißten Stellen immer oben zu liegen kamen, bevor die Maschine die Kettenglieder ruckweise fraß. Die Maschine erledigte alles. Fast alles. Nur oben und unten konnte sie nicht unterscheiden. Seine Maschine stand an der Frontseite der riesigen Halle direkt unter der Uhr. Immer wieder bemühte er sich, mindestens fünf Minuten lang nicht auf die Uhr zu blicken. Es gelang selten. Es konnte Ewigkeiten dauern, bis der große Zeiger mit einem federnden Ruck in die nächste Minute sprang.
Beim Bier nach der Arbeit, wenn sie auf den Bus warteten, gehörte es dazu. Es war das Mindeste, was Sam tun konnte, um guten Willen zu beweisen. Als Kind hatte er sich geschworen, niemals, niemals eine Zigarette anzurühren. Wenn sein Vater, egal zu welcher Tageszeit, aufstand, hörte man aus dem Obergeschoß sein langes, trockenes Husten. Es dauerte eine gute Viertelstunde, bis der Schleim sich aus den Tiefen der Lunge löste und Vater sich mit einer Hand am Treppengeländer in Richtung Badezimmer zitterte. Immer noch in Unterhosen und Trägerleibchen kam er mit bleistiftdicken Adern am Hals und rotblau angelaufen grußlos in die Küche, nahm ein Bier aus dem Kühlschrank, trank es stehend in zwei, drei Zügen und rauchte, während er sich mit einer Hand am Kühlschrank abstützte, die erste Zigarette des Tages. Das nie, dachte Sam. Niemals wolle und werde er so enden.
Mit achtundfünfzig wurde Vater als Schicht- und Schwerarbeiter mit einem Warenkorb verabschiedet und in Rente geschickt. Wenige Jahre später war er tot. Die Lunge hatte nicht mehr mitgemacht.
Von dem Moment an, als Sam Lucinda versprochen hatte, ab dem nächsten Morgen nicht mehr stinken zu wollen, war jede Selbstverständlichkeit verflogen. Er sagte es niemandem. Er wollte, falls er es nicht schaffte, nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Es war sein erstes Mal. Sam hatte noch nie aufgehört zu rauchen. Es könne nicht so schwierig sein, dachte er, nachdem er ja erst seit drei oder vier Jahren rauchte. Er fühlte sich nicht süchtig. Sucht war kein Thema. Er rauchte bloß. Alle rauchten. Bis auf Ringo. Nachdem man einen Schatten auf seiner Lunge festgestellt hatte, war die Sache für ihn erledigt. Er verbrachte fast das ganze Sommersemester der siebten Klasse in einem Lungensanatorium. Davor hatte er filterlose Gitanes geraucht. Nicht viele, aber doch. Nach den vier Monaten im Sanatorium nutzte Ringo die Chance und kehrte nicht mehr in die Schule zurück.
In diesem Sommer war Ringo schon zwei Monate vor Sam nach Tiefenbach gekommen. Er hatte, während Sam sich auf seine Lehramtsprüfungen vorbereitete, den Präsenzdienst absolviert. Nicht den Zivildienst, den Präsenzdienst. Ringo war an praktischen Dingen interessiert. Auch Waffen, sagte er, seien Geräte, die man auseinandernehmen und wieder zusammenbauen könne. Wie Autos, Möbel oder Häuser. Mac, Soziologe, Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei und Roth-Händle-Raucher, der auf dem Weg nach Kreta gemeinsam mit Lilo mehrere Wochen in Tiefenbach verbrachte, war der Einzige, der Ringos Entscheidung guthieß. Bruno und er kannten sich seit ihrer Schulzeit. Es ginge nicht, meinte Mac, dass alle linken Wichser in den Zivildienst auswichen. Man könne das Militär nicht den Arschlöchern überlassen. Mac war pausbäckig und rotgesichtig. Er wirkte, als ob er dem Etikett einer Schweizer Kräuterschnapsmarke entstiegen wäre. Lilo, die ihre violett verspiegelte John-Lennon-Brille nur selten abnahm, schwieg. Sam wusste wenig über sie. Nur, dass sie aus einer Ärztefamilie in Hannover stammte. Manchmal sah man sie gemeinsam mit Edda im Garten sitzen, sie sprachen lange und leise. Edda in einem lang wallenden, indisch anmutenden Gewand, Lilo in kurzen, abgeschnittenen Jeans. Edda rauchte nicht. Sie habe es mit dem Magen, sagte sie. Sam verstand nicht, was Zigaretten mit dem Magen zu tun haben sollten. Lilo paffte. Manchmal wäre Sam gerne eine Frau gewesen.
Ringo zeigte sich von den endlosen Debatten genervt. Es gab nichts, was nicht auf seine gesellschaftliche und politische Relevanz hin überprüft werden musste. Ringo war aber in der Welt des Praktischen zu Hause. Er konnte alles. Er reparierte Autos, legte...