Klier Grüne Zeiten
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-902534-22-4
Verlag: Limbus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-902534-22-4
Verlag: Limbus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Walter Klier, geboren 1955, lebt als Schriftsteller und Maler in Innsbruck. Arbeitete als Rezensent, Publizist und Herausgeber, mehrere Preise und Stipendien, zuletzt Otto-Grünmandl-Preis (2012). Zahlreiche Bücher, unter anderem Leutnant Pepi zieht in den Krieg (2008, als Limbus TB 2014), Der längste Sommer (2013), Grüne Zeiten (als Limbus TB 2014).
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Wenn er nur still hielt, erledigte manches sich von selber. Das war schon mit sieben so gewesen, als Martin Rauch zur ersten heiligen Beichte viel zu spät kam, so dass alle anderen, auch der Pfarrer, längst gegangen waren. Die Kirche war nachmittäglich leer und dunkel, und eine Zeitlang stand er hinten und überlegte, was hier zu tun wäre. Schließlich machte er sich einfach aus dem Staub, hinaus auf die weite, sonnenwarme Straße, wo ihm gleich viel wohler war. Als die Mutter ihn fragte, wie es gewesen sei, sagte er: «Gar nicht so schlimm.» Je näher der Tag der Erstkommunion rückte, desto mehr beunruhigte ihn die Angelegenheit. Er würde das Sakrament ja nun im Stand der Sünde empfangen; er fand allerdings keinen Weg, dem Missstand abzuhelfen. Dann war es so weit, und er stand in blauem Blazer und neuer grauer Hose mit den anderen in Zweierreihe vor der Kirche, in einer separaten Zweierreihe daneben, überirdisch weiß, die Mädchen. Er schob den Moment, an dem er aus der Reihe treten und den bereits im Ornat befindlichen und unaufhaltsam an der Feierlichkeitsschraube drehenden Stellvertreter Gottes oder wenigstens den nicht ganz so furchteinflößenden Kooperator ansprechen würde, immer weiter hinaus. Schließlich begann die Messe, und damit war die Lage ausweglos geworden. Auf die Gefahr hin, eine beträchtliche himmlische Strafe aufgebrummt zu bekommen, nahm er die Hostie, einfach so wie alle anderen, in seinen unverändert mit der Erbsünde behafteten Leib auf und versuchte sich nicht nur vor den Menschen, sondern auch vor Gott möglichst unauffällig zu verhalten. Er würde das irgendwie ins Lot bringen. Doch bei der nächsten, für ihn ersten Beichte konnte er sich nicht überwinden, mit der eminenten Verfehlung herauszurücken, und begnügte sich mit dem Geständnis, die Fastengebote übertreten, die Eltern beschwindelt und den Namen des Herrn unnötigerweise in den Mund genommen zu haben.
Mit zwölf verlor er das Interesse an der Religion und begann stattdessen Briefmarken zu sammeln. Das ging ungefähr bis fünfzehn gut. Da begann, was auf dem Rücken eines von der Großmutter übriggebliebenen Romans aus alter Zeit so treffend Die Jagd nach Liebe hieß, die sich bei ihm anscheinend ungewöhnlich in die Länge zog. In der Woche, als er die mündliche Reifeprüfung bestand, wurden im Spiegel die neuesten Daten über Jugendsexualität veröffentlicht. Er studierte sie genau. Es waren anschauliche Kurven, die klarmachten, in wie rarer Gesellschaft er sich befand, wenn er mit achtzehn noch nicht das Vergnügen gehabt hatte.
Nach der Matura kam das Militär, und dann kam die Freiheit. Die Universität erleichterte den Kontakt zum anderen Geschlecht, im Vergleich zum Knabengymnasium, doch erheblich. Zumindest in so unmännlichen Fächern wie Deutsch und Englisch, dem Stufenbarren unter den Geisteswissenschaften, war die Frau zahlenmäßig gleichgestellt. Mit den Kolleginnen ins Gespräch zu kommen, die ihrerseits dasselbe Problem hatten, bedurfte es keiner besonderen Listen, und es ergab sich zwanglos, dass man nach der Vorlesung mitsammen ins Café Thaler ging. Auf den kleinen runden Tischen breiteten sie ihre konfusen Mitschriften aus. Vielleicht würde man den Rätseln der hochdeutschen Lautverschiebung hier auf die Spur kommen. Die festverschraubten stumpfbraunen LederimitatBänke im Stil der sechziger Jahre hatten in regelmäßigen Abständen blankgewetzte Dellen. Die waren im Gegensatz zum Rest glänzend rot und gaben an, wo genau man sich zu setzen hatte. Die Zigarettenasche landete – man war noch ungeübt – nie im Aschenbecher, sondern wanderte vom Schreibblock auf die gelbe Resopaloberfläche und mischte sich dort mit den Coca-Cola-Ringen und Kaffeeresten zu einem Klebstoff, der mit den Ellenbogen großzügig verteilt wurde.
Im ersten Jahr machte Martin Rauch die Bekanntschaft einer Anzahl kleiner, dünner, streberhafter Vorarlbergerinnen und ebensolcher, doch an ihrem Studienfach auffallend desinteressierter Südtirolerinnen, die sich nicht nur nicht für die Literatur jenseits der Leselisten, sondern auch nicht fürs Kino oder den Jazz begeistern konnten. Und wenn, dann war diese Begeisterung durchsichtig, oberflächlich, es fehlte das banalste Grundlagenwissen.
Es gab eine Ausnahme, Elisabeth Berghofer, von Freunden Betty gerufen. Sie stammte nicht aus den genannten Ländern, sondern aus Oberösterreich, und trug als einziger Mensch ihrer Zeit keine grüne Parka, sondern eine braune, etwas abgeschabte Lederjacke. Das verlieh ihr, zusammen mit den randlosen Brillen, dem gescheitelten, halblangen, straff nach hinten gebundenen Haar und ihrer tadellosen linken Gesinnung etwas Strenges, um nicht zu sagen Politkommissarhaftes: ein Eindruck, der gleich verflog, wenn die Rede auf ihre Lieblingsautoren kam, George Eliot oder Jane Austen, von denen sich Rauch umso lieber erzählen ließ, als er sie selber nicht gelesen hatte. Er versuchte mit Flaubert und Marcel Proust zu punkten, doch bei letzterem wurde es Elisabeth zu bürgerlich-dekadent.
In jedem Fall war sie außer Reichweite, nämlich in einer festen Beziehung. Er sah sie manchmal mit diesem Menschen Arm in Arm auf der Straße gehen, den er nicht leiden konnte, obwohl er ihn gar nicht kannte. Dabei hätte er ihm dankbar sein müssen und war es insgeheim auch. Bettys Freund, politisch noch strikter als sie, bewahrte ihn vor der Zumutung, eine Annäherung im Ernst zu unternehmen. Sie nahm ihm auch dann den Mut, wenn sie, zwischendurch unstreng, in ihr raumfüllendes Lachen ausbrach, das sie größer wirken ließ, als sie war, nämlich fast so groß wie er und eindeutig größer als die vielen fleißigen Kolleginnen, die sich ohne Zweifel innerhalb der Mindeststudiendauer (welch ein Wort) zu hundertprozentig systemerhaltenden Gymnasiallehrerinnen fortentwickeln würden.
Im dritten Semester absolvierte Rauch das erste Seminar. Es handelte von den Methoden der deutschen Literaturwissenschaft, und man war angehalten, sich Gedanken über das Handwerkszeug der Wissenschaft und dessen richtigen Gebrauch zu machen. Für die vierköpfige Referatsgruppe, in der er sich befand, war das Endergebnis dieser Reflexion ein Mordsstreit mit den damals noch intellektuell regen und stets wachsamen Marxisten. Deren geistliches Oberhaupt, Morak, ein höheres Semester mit langem Haar, Bart und Krankenkassenbrillen, der die Parka auch in gutbeheizten Räumen nie ablegte, um bereit zu sein, sollte die Revolution überraschend losbrechen, war fassungslos, zu welch erzreaktionären Ansichten sie da in ihrer heiligen Einfalt gelangt waren. Die Literaturwissenschaft habe die Aufgabe, zu einer allgemeinen Bedeutung des jeweiligen Textes zu gelangen, etwas, das sie «umfassende Interpretation» nannten. Der Begriff stammte von Rauch, und er war sehr stolz darauf gewesen. Dieser Stolz verlor sich ohne Rückstände in dem Gebrüll und Gezeter, das den Hörsaal füllte. Der Dozent verlor die Kontrolle über das Geschehen, und Rauch, Mumelter, Mair und Niedermeyer kamen über die einleitenden Bemerkungen nie hinaus. Der Professor, dem sie später die schriftliche Fassung des Referats vorlegten, dachte glücklicherweise gleich altmodisch wie sie.
Betty Berghofer lachte schallend, als er von dem Eklat erzählte, und sagte, ihn müsse man tatsächlich ins Museum für spätbürgerliche Ausnahmeerscheinungen stellen. Sie hatte inzwischen von der Germanistik zur Geschichte gewechselt. So sahen sie sich seltener, da er seinerseits die Anglistik wegen schwer erträglicher Langweiligkeit boykottierte; doch wann immer sie sich trafen, mussten sie auf ein Stündchen ins Café Thaler oder, als dieses zugesperrt wurde, notgedrungen gegenüber ins biedere Murauer.
Bettys feste Beziehung hatte sich mittlerweile wegen Differenzen über die führende Rolle der kommunistischen Partei (die sie nicht akzeptierte) in eine unfeste verwandelt. Allerdings war von ihr selber dazu nichts zu vernehmen. Sie legte in den Schwung, mit dem sie sich das Haar aus dem Gesicht fegte, zwar alle Verachtung der Welt für konventionelle Tugenden und Vorschriften, doch folgte für sie daraus nicht, dass das eigene Intimleben vor anderen Leuten ausgebreitet zu werden hatte. Im äußersten Fall sagte sie: «Das soll jeder halten, wie er will.» Folgte der bekannte Haarschwung, manchmal mit Hilfe der rechten Hand ausgeführt, manchmal ohne, und der dünne weiße Strich des Mittelscheitels glänzte streng.
Das Methodenseminar verhalf Martin Rauch nicht nur zu einem Schein, wie die Bestätigung für den positiven Abschluss einer Lehrveranstaltung in der Verwaltungssprache hieß, sondern auch zur langersehnten Frau fürs Leben, zumindest zu deren Bekanntschaft. Sie hieß Viktoria, und er belagerte sie in diesem Winter beharrlich. Da sie Kaffeehäuser verabscheute, musste er sich alles Mögliche ausdenken, damit er sie daheim besuchen konnte. Sie wohnte in einem winzigen Zimmer am anderen Innufer, in der Gilmgasse, wo es immer zu kühl war und drunten die Autos vorbeibrausten, dass die Scheiben klirrten. Aus dem Kassettenrecorder tönten Georges Brassens und Jacques Brel, mit deren Leben und Werk er sich nun vertraut machte, obwohl er sonst ausschließlich für Jazz zu haben war. Von der so unbestimmten wie umfassenden Traurigkeit der Studienanfänger erfüllt saßen sie beisammen und tranken Tee und redeten. Wie man den kleinen Schritt vom Reden zum Tun bewerkstelligen sollte, blieb ihm weiterhin ein Rätsel.
Noch im Februar versuchte sie sich während eines endlosen nächtlichen Heimwegs von einem Fest mit einem «Bleiben wir einfach Freunde» aus der Affäre zu ziehen. Aber Martin nahm nach Wochen dumpfer Resignation die Belagerung unverdrossen wieder auf. Aus...




