E-Book, Deutsch, Englisch, 264 Seiten
Klüger / Dane Anders lesen
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-8353-8467-5
Verlag: Wallstein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Juden und Frauen in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts
E-Book, Deutsch, Englisch, 264 Seiten
ISBN: 978-3-8353-8467-5
Verlag: Wallstein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ruth Klüger (1931-2020) war von 1966 bis 1992 Professorin für Deutsche Philologie an verschiedenen amerikanischen Universitäten, zuletzt an der University of California / Irvine. Von 1978 bis 1986 war sie Herausgeberin der Zeitschrift 'The German Quarterly', von 1980 bis 1985 Vizepräsidentin der Internationalen Vereinigung der Germanisten (IVG). Sie war Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Mit ihrer in mehrere Sprachen übersetzten Autobiographie 'weiter leben' (1992) wurde sie einem breiten Publikum im In- und Ausland bekannt. Für ihre Werke erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, darunter: Roswitha-Preis (2006), Lessing-Preis des Freistaates Sachsen (2007),Bundesverdienstkreuz erster Klasse der Bundesrepublik Deutschland (2008), Ehrendoktorwürde der Universität Wien (2015), Bayerischer Buchpreis - Ehrenpreis des Bayerischen Ministerpräsidenten (2016). Gesa Dane forscht und lehrt an der Freien Universität Berlin. Sie ist Verwalterin des literarischen und wissenschaftlichen Nachlasses von Ruth Klüger.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Literaturwissenschaft Deutsche Literatur
- Geisteswissenschaften Literaturwissenschaft Literaturgeschichte und Literaturkritik
- Geisteswissenschaften Jüdische Studien Jüdische Studien Jüdische Studien: Literatur & Kunst
- Geisteswissenschaften Literaturwissenschaft Literatursoziologie, Gender Studies
Weitere Infos & Material
Dichten über die Shoah
Zum Problem des literarischen
Umgangs mit dem Massenmord
Amerikaner haben den Ruf, gewohnheitsmäßig ihre Vorträge mit einer Anekdote oder einem Witz zu beginnen. Dieses Thema eignet sich kaum für gute Witze, folglich ist der Witz, den ich Ihnen erzähle, ein schlechter Witz. Unter den mir bekannten jüdischen Witzen würde ich ihn in die Riege der zweitschlechtesten einreihen.
Das ganze Unterfangen mag befremdlich und unpassend erscheinen, aber das gehört schon zum Thema und ist ein Aspekt der Problematik der Holocaustliteratur. Eine weitverbreitete Kritik an dieser Literatur ist die, dass Massenmord und Belletristik nicht zusammenpassen. Dafür wird in Deutschland gern Theodor W. Adorno mit seinem Ausspruch ›nach Auschwitz keine Gedichte mehr‹ benutzt.[1] Aber wir brauchen Adorno nicht, um das Problem von Verstand und Phantasie beim Thema der großen Judenverfolgung in den Griff zu bekommen. Das Unbehagen, das ich mit meinem schlechten Witz verursache, ist beabsichtigt, und auch die Auseinandersetzung mit diesem Unbehagen.
Dieser schlechte Witz spielt in der Zeit, als die Synagogen nicht mehr brannten, weil sie schon verbrannt waren, also irgendwann nach der Kristallnacht, und irgendwo im Hitler-Europa. Da findet ein frommer Jude in einer fremden Stadt zu seiner Freude ein Häuflein Gleichgesinnter, die in einem Keller einen Gottesdienst veranstalten. Ein jüdischer Gottesdienst kann stattfinden, wo immer zehn religionsmündige Männer beisammen sind. Eines Geistlichen bedarf es nicht. Er tritt also ein und ist erstaunt, dass nur im Flüsterton gebetet wird. »Warum«, fragt er, »sprecht ihr nicht mit normaler Lautstärke? Die Straße ist leer, im Haus wohnen nur Juden, was soll das unverständliche Geflüster?« »Sei schon ruhig«, antwortet man ihm verärgert, »wenn du weiter so schreist, wird ER uns noch hören, und wenn ER herausfindet, dass es uns noch gibt, sind wir erledigt.«
Sie werden den Witz nicht zum Lachen finden, genau wie vorauszusehen war. Die Pointe ist teilweise gotteslästerlich und besteht natürlich darin, dass ER, also Adonoi Elohenu, unser Herrgott, sich auf die Seite der Nazis geschlagen hat und dementsprechend das tiefste Misstrauen hervorruft. Gleichzeitig wird er nach wie vor im Geheimen verehrt.
Nun beruht, oder beruhte, ein religiöses jüdisches Selbstverständnis darauf, dass Gott einen Bund mit seinem auserwählten Volk geschlossen hatte. Dieser Bund, im Regenbogen bestätigt, verpflichtete die Nachkommen von Noahs Erstgeborenem, den Namen Gottes zu verkünden und seine Gesetze zu befolgen. Gott hingegen verpflichtete sich seinerseits, sein Volk zu schützen und es am Leben zu erhalten. So ging es lange Zeit ganz gut, beide Parteien hielten ihren Kontrakt, von gelegentlichen und vielleicht unvermeidlichen Entgleisungen abgesehen. Mit Hitler aber kam etwas Neues in die Geschichte: Das Volk war Gott treu geblieben und befolgte weiterhin seine Gesetze, Gott aber hatte sein Volk verraten.
Und damit sind wir bei der Vergabelung der Pointe in meinem hochliterarischen Witz: Das Glaubensritual verläuft weiterhin in den alten Bahnen, obwohl den Gläubigen das Vertrauen in Gott abhandengekommen ist. Die Gemeinde behilft sich, so gut es geht. Ihr Ausweg aus dieser Auswegslosigkeit ist der, dass die Menschen Gebete sprechen, die Gott jedoch möglichst nicht hören soll.
Dieser Witz ist nicht dumm, er ist nur schlecht, denn er behandelt mehr, als ein Witz sich erlauben darf, hier das Paradoxon des Gläubigen, der sich zu einem Gott bekennt, der sein Wort nicht hält. Seine Tiefsinnigkeit sprengt den Rahmen dessen, was sich innerhalb dieser sehr kleinen und bescheidenen literarischen Gattung schickt. Und wenn solche Ausdrücke wie ›sich schicken‹ und ›was man sich erlauben darf‹ nicht behagen, weil sie als Maßstab für ein ästhetisches Urteil veraltet klingen, so ist die Frage, ob es nicht doch damit seine Richtigkeit hat, und ob unsere Großeltern nicht doch vielleicht Unrecht hatten, als sie sich über unsere Urgroßeltern lustig machten, wenn diese mit der Literatur zu Gericht gingen, als sei der gute Geschmack ein objektiver Maßstab. Dieser ›gute Geschmack‹ richtet sich nämlich häufig an außerästhetischen Grundsätzen aus. Um seinem seichten Moralismus gegenzusteuern, wurde von einer längst veralteten Avantgarde kategorisch erklärt, dass moralische Werturteile nichts in der Kunst zu suchen hätten.
Wie aber, wenn eine ganze Literatur oder doch ein Korpus von Werken entsteht, die gegen den guten Geschmack verstoßen? Und wenn diejenigen, die es nicht tun, diejenigen, die sich auch in der guten Stube ausstrahlen lassen, ohne dass man die reifere Jugend verfrüht ins Bett schicken muss, also z. B. die amerikanische Filmserie Holocaust, das Außerordentliche bis zur Trivialisierung vereinfachen, die Frage nach dem Bösen bis zum Kitsch sentimentalisieren? Damit sind wir mitten in den literarischen Problemen, die in der sogenannten Holocaustliteratur behandelt werden, und bei der Frage, in welchem Rahmen deren Behandlung möglich ist.
Ein Beispiel einer gelungenen Verarbeitung des Themas ist André Schwarz-Barts Roman Der Letzte der Gerechten (1959), der mit großer Konsequenz das erwähnte Motiv der Gottverlassenheit behandelt. Einer jüdischen Legende zufolge lässt Gott die Welt in ihrer Schlechtigkeit nur deshalb weiter bestehen, weil es immer 36 Gerechte gibt, die die Sünden der anderen Menschen wettmachen. Zu diesen Lamed Waw (hebräisch: 36) gehört der Held der Geschichte, Ernie Levy. Er steht am Ende einer langen Generationenreihe, die sich für auserwählt hielt.
Gershom Scholem hat zu Recht darauf hingewiesen, dass der Autor die Legende nicht getreu angewandt hat, denn die Gerechten sollten sich nicht, wie Ernie Levy und seine Vorfahren, bewusst sein, dass sie auserwählt sind.[2] Zudem vererbt sich das Märtyrertum nicht. Gershom Scholem hatte recht und dann auch wieder unrecht. Denn der Roman handelt von der verinnerlichten, selbsterfundenen Auserwähltheit einer Gruppe Menschen. Der Roman wirft die Frage auf, ob diese Menschen sich nicht nur einbilden, auserwählt zu sein, und sich gerade dadurch mit Unglück belasten. Ihre Mission, die Pflichten, die sie sich auferlegen, haben vielleicht gar nichts mit einer himmlischen Berufung zu tun und sind also von einem objektiven Standpunkt aus sinnlos, führen nur zu Unglück und Leiden. Damit wird die Bedeutung der Legende von den Lamed Waw zur Bedeutung des Judentums schlechthin ausgeweitet. Sie wird nicht einfach ausgeschmückt, oder, wie Scholem meinte, mit dichterischer Freiheit nacherzählt, sondern sie wird zu einem lebendigen Mythos, geprüft im Feuer der Judenverfolgungen, bald verneint und bald bejaht, und eigentlich bis ans Ende in Schwebe gehalten. Ein Gerechter zu sein, ist eine geistige Lebensform, aber letzten Endes eine physische Lebensunmöglichkeit, in der Zeit der Shoah bleibt dem Gerechten als letzte Konsequenz nichts anderes übrig, als freiwillig in den Zug nach Auschwitz zu steigen, denn die Alternative wäre eine tierische Existenz der Selbstverleugnung.
»Nur eben: Was soll ein Jude tun, der keiner mehr ist, um nicht auf alle viere zu fallen?«[3] Dieser Roman ist meines Wissens nach einzigartig, darum habe ich ihn gleich zu Anfang erwähnt. Es ist das einzige Buch, das den Holocaust in eine Kette von Judenverfolgungen einbettet und gleichzeitig das jüdische Selbstverständnis in jedem Kapitel hinterfragt. Es ist so, als ob man abwechselnd den Gedanken fasst, es gäbe gar nichts Abgeschmackteres als Judesein, und auf der nächsten Seite erkennt, dass es gar nichts anderes gibt, das Sinn macht.
Diese Ambivalenz verdichtet sich noch einmal auf der letzten Seite des Romans. Da steht ein blasphemisches Gebet: »Und gelobt. Auschwitz. Sei. Maidanek. Der Ewige. Treblinka. Und gelobt. Buchenwald. Sei. Mauthausen. Der Ewige. Belzec.«[4] Es folgen noch ein Dutzend weiterer Namen, die sich steigern, alle im Rahmen der paar Worte, mit denen jeder jüdische Segensspruch anfängt, »Baruch ato Adonai Elohenu« – »gesegnet (oder gelobt) seist du, o Herr«. Also ein verneinendes Ende, möchte man annehmen. Doch in den letzten Sätzen des Romans wird auch diese Abkehr aufgehoben, denn da taucht unvermutet ein erzählerisches Ich auf, in dem Ernie Levy, der Letzte der Gerechten, aber auch der Repräsentant aller Ermordeten, in jedem Regentropfen gegenwärtig ist und bleibt. Also doch Bejahung?
Die Problematik dieses Romans, die ihm eigentümliche Spannung, ist also das Selbstverständnis der Juden. Diese Spannung bildet den Vordergrund. Das Gegebene, der Hintergrund, ist das ihnen zugefügte Böse.
Eine solche oder ähnliche Spannung ist in allen Werken zu finden, die als Literatur gelten. Es ist das eigentlich literarische Element in den besten autobiografischen Berichten. Die religiöse Problematik, das Lob eines Herrn, der seine Kreaturen nicht schützt, findet sich zum Beispiel auch bei Elie Wiesel. Wiesel ist in den Vereinigten Staaten eine Art Kultfigur. Wenn es ihm einfällt, von der Bibel zu lesen, sammelt sich das Volk um ihn wie um einen Propheten. Wenn er an einer Universität einen Vortrag hält, ist meist Belagerungszustand vor der Rednerhalle, und drinnen hängen die Hörer von der Decke.
Von einem schmalen Band, den er zehn Jahre nach dem Krieg schrieb, hat inzwischen eine Generation junger Juden ihre Eindrücke über Auschwitz empfangen, und aus diesem Band,...