Köhler | Mein Höllenleben im Wohlfahrtshimmel | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 184 Seiten

Köhler Mein Höllenleben im Wohlfahrtshimmel

Ein fiktiver Bericht

E-Book, Deutsch, 184 Seiten

ISBN: 978-3-7526-6365-5
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Andreas Köhler schildert das Schlingern zwischen Resignation und Renitenz eines Vierzigjährigen, der es trotz grossen Anstrengungen nicht geschafft hat, sich in die Arbeitswelt zu integrieren. Die Diagnose einer passiv-aggressiven Persönlichkeit sichert ihm zwar Zahlungen der Invalidenrentenanstalt, schliesst ihn aber aus dem Kreis der Wertbegnadeten aus. Sein Leben verläuft ereignislos, bis die Masse der Invaliden das Berner Bundeshaus besetzt und sich ein rauschendes Fest entwickelt. Dieses reisst ihn aus seiner Einsamkeit und gewährt ihm die Flucht in ein vergängliches erotisches Paradies.
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Erstens
In gesitteten und gesättigten Völkern hingegen arbeitet
zwar eine grosse Zahl von Menschen überhaupt nicht; …
ADAM SMITH: Untersuchung über das Wesen und
die Ursachen des Volkswohlstandes, 1776 … trotzdem ist meine Untätigkeit kein Problem. Ich darbe nicht, ich leide keinen Hunger; mein Dach ist dicht, das Wohnzimmer geheizt; ich bin nicht in Lumpen gekleidet; meine Gesundheit ist passabel, wenigstens auf den ersten Blick, mein unheilbares Kranksein dem Laien nicht ersichtlich. Kurz: Mein Zustand ist gesittet und gesättigt; ich kann im Frühjahr in properem Hemd dem ersten Buchengrün entgegenschreiten und im Herbst mit Stiefeln durchs dürre Laub stapfen. So braucht sich keiner Sorgen um mich zu machen, denn ich habe alles, was der Mensch in unseren Breitengraden gemeinhin zum Leben braucht, sogar ein wenig mehr als das: Mein Einkommen liegt – um Geringes – über dem sogenannten Existenzminimum, wie mir mehrfach versichert wurde. Das habe ich auch noch nie angezweifelt, im Gegenteil, denn gerade diese Existenzminimumnähe, dieses Existenzminimalistendasein bezeugt mir mehr als alles andere meine lebendige Wirklichkeit, mein reguläres Bestehen, mein unbezweifelbares Wandeln in den Dinglichkeiten dieser Welt. Meine Existenz ist minimal, aber gesichert. Abgesichert. Sie wird durch die Invalidenrentenanstalt garantiert. Mit grösster Regelmässigkeit bezahlt mir die IRA das Menschennotwendige. Es besteht also nicht das geringste Problem. Insbesondere besteht kein Problem für das Gedeihen des Volkes, denn angesichts der Erfahrung, dass sich mein früheres Arbeiten, meine sämtlichen Einsätze durchs Band als sinn- und nutzlos herausgestellt haben, hat man mich folgerichtig als unproduktiv und damit wertlos deklariert. Diese meine uneingeschränkte Wertlosigkeit, diese absolute Invalidität, diese von Fachleuten diagnostizierte und von Sachbearbeitern bestätigte Nichtsnutzigkeit wiederum verhalf mir zur Fürsorge der Tätigen, der Produktiven und Wertvollen und gewährt mir bis an mein Lebensende eine geregelte monatliche Rentenzahlung. Somit beeinträchtigt meine Untätigkeit das Volkswohl in keiner Weise: Es wird im Gegenteil von mir erwartet, dass ich nicht im Mindesten davon abweiche, dass ich nicht durch unüberlegtes, kontraproduktives Verhalten ebendiesem Volkswohl schade. Es ist logisch und wird auch von niemandem bestritten: Der Wert eines Menschen wird durch sein Einkommen bestimmt – ausschliesslich. Der Lohn, das monatliche Gehalt, ist die einzige Grösse, an welcher die Kraft, die Leistung, ja das sittliche Verdienst des Menschen gemessen und bequem in Zahlen ausgedrückt werden kann. Natürlich ermöglicht das Einkommen dem Werktätigen, dem Produktiven den Lebensunterhalt, doch ist das reine Nebensächlichkeit; viel wichtiger ist, das dieses Salär ihm zu Würde und Stellung verhilft. Am Lohn erkennt man die Produktivkraft des Einzelnen, erkennt man seinen Erfolg. Am Lohn erkennt man seine Bedeutung für die gesamte irdische und überirdische Welt. Denn: Je erfolgreicher der Einzelne, umso erfolgreicher ist die Gemeinschaft. Und je mehr Erfolg die Gemeinschaft als Ganzes erstrebt, desto wichtiger wird es für sie, ihre Produktivkräfte unablässig zu überprüfen, zu revidieren. Es ist also nicht nur angebracht, sondern von entscheidender Bedeutung, die Nutz- und Erfolglosen rasch und präzise im Getriebe zu lokalisieren und aus dem Arbeitsprozess auszugliedern, da sie dem Produktionsablauf nur hinderlich sind, nicht anderes als schlecht drehende Achsen, als lotternde Halterungen, als Räder mit ungenormten Zahnkränzen in mechanischen Apparaten. Und es ist sogar Zeichen der Potenz, der Leistungsfähigkeit einer hoch entwickelten Gesellschaft, möglichst viele, möglichst alle diese menschlichen Hemmnisse, diese schadhaften und schädlichen Teile auszugliedern und auszumerzen – und sie dennoch leben zu lassen, das heisst, für ihren Unterhalt aufzukommen. So ist mein Nichtstun ein Dienst am reibungslosen Ablauf der Ökonomie. Je weniger die Nichtsnutzigen tun, desto potenter ist die Wirtschaft. Und: Je potenter die Wirtschaft ist, desto mehr Unproduktive kann sie sich leisten. Die Anzahl der Unwerten, der Wertlosen ist somit schlechthin das Mass der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Objektiv gesehen habe ich also nicht den geringsten Grund über mein Schicksal zu klagen, im Gegenteil: Dankbarkeit, ja Erkenntlichkeit wäre das Mindeste, was von mir zu erwarten wäre. Doch genau dazu bin ich nicht fähig. Besser: Meine Seele, meine verquer und verbogen gebaute Seele, die für meine Nutzlosigkeit verantwortlich ist und an der sich alle Produktiven und Wertvollen so lange gerieben haben, ist nicht fähig, den entsprechenden Dank zu bezeugen; ganz generell ist sie für solche Regungen und Empfindsamkeiten unbrauchbar. Auch wenn die menschliche Arbeitsgemeinschaft mich ausgeschieden und sich optimiert hat, bin ich selbst keineswegs von mir befreit, sondern reibe mich weiterhin an den Kanten und Scharten, an den Rissen und Verwerfungen meiner schadhaften Seele, die obendrein unablässig mein Bewusstsein, mein Denken, meinen Alltag mit allerhand tristen Stimmungen und gehässigen Regungen anfüllt. Eines halte ich mir immerhin zu Gute: Ich behellige niemanden mit diesen Gehässigkeiten. Täglich bin ich mir bewusst: Ich gehöre zu den Wertlosen, zu den Unwerten, somit zu jenen, welche die Klappe zu halten haben. Ich habe die Klappe auch immer gehalten, und ich würde sie auch weiterhin bescheiden und in Anstand halten, wenn man mich nicht genötigt hätte, sie aufzumachen. Wenn man nicht ausgerechnet mich aufgefordert, was sage ich, herausgefordert hätte, meinen Alltag, dieses seelenhinkende Dasein öffentlich zu machen, darzulegen vor einem Publikum, vor einer Zusammenballung von besonders Wertvollen, wie sie ja seit einiger Zeit in Mode ist. Überall treffen sie sich, die Wertvollen, die Produktiven, und halten Tagungen, Konferenzen, Kongresse ab, wo sie ihre Produktivität zelebrieren und sich gegenseitig den Bauch pinseln. Und genau da soll ich … Ja, was in Dreiteufelsnamen erwarten sie denn? Erwarten, ja fordern sie nun plötzlich Fähigkeiten? Sie, die mir gänzliche Unfähigkeit attestiert haben? Vortragsfähigkeiten? Rhetorische Leistungen? Powerpointpräsentationsbeamerbedienfähigkeiten? Erwarten sie gar, dass ich in meinem Namen und im Namen aller übrigen Wertlosen Dankesbezeugungen plätschern lasse, in denen sie sich alle gehörig suhlen können, bevor sie zum Apéro schreiten? Oder wollen sie sich vielmehr heimlich ergötzen an meinem Leiden, meinem lächerlichen Alltagsleiden, an meinen Seelenqualen, meinen Existenzqualen, wollen sie gar eine leibhaftige Probe meiner steten Übellaunigkeit; muss ich mein Innerstes, dieses dysfunktionale Seelenkonstrukt, nach aussen kehren? Oder wollen sie, dass ich wiederum versage? Hoffen sie auf eine neue Niederlage meinerseits, eine letzte Bestätigung meiner Unbrauchbarkeit? Suchen sie einen erneuten Beweis, dass sie richtig entschieden haben? Und erwarten darüber hinaus, dass ich – abermals geschlagen und zertreten – mir meinerseits ihre selbstgefälligen Referate anhöre, deren dünnen Gehalt ich mir schon jetzt ausdenken kann? Können sie mich denn nicht in Frieden lassen? Sie, die doch froh sein sollen, mich endlich los zu haben und nur noch als Schatten, als scheinlebendiger Schatten unter sich zu wissen? Ich weiss, ich habe es vernommen. Schliesslich bin ich nicht taub: Sie wollen meine Erfahrungen hören, meine Erfahrungen in meinem Leben und mit meinem Leben. Ganz einfach. So sagten sie: Ganz einfach. Ungeschminkt. Ein Häppchen von meinem Leben wollen sie. Ein Häppchen als Amuse-Bouche zu ihrem Kongressfestessen. Wenn sie also ganz einfach Aufrichtigkeit erwarten, dann Folgendes: Meine Haupterfahrung besteht in der unsäglichen Penetranz all dieser wertvollen Menschen, welche Teile und Rädchen der universalen Arbeits- und Produktionsgemeinschaft bilden, besteht in ihrer Lautstärke, mit der sie alles und jedes kommentieren, in ihrer Selbstüberzeugung, in ihrem Dünkel, ihrer lachhaften Eitelkeit. In ihrem aufgeblasenen Auftreten, in ihrem gewichtigen Daherfahren mit irgendwelchen viel zu grossen Personenwagen, in ihrer modischen Allerweltkleidung, mit der sie einherschreiten, in ihrem umständlichen Platzieren von Laptops und Akten allerorten, von Mappen und Schlüsselbünden, von Schreibzeug und Brieftaschen. Ihr ganzes Wesen ist durchtränkt von einer Lächerlichkeit, mit der sie offensichtlich erfolgreich sind und sogar noch Geld verdienen, Geld, das nicht nur ihnen, sondern – ich bin es mir bewusst und wiederhole es nochmals – auch mir zu Gute kommt. Ich weiss Bescheid. Denn ich selbst hatte mich seinerzeit – als ich noch versuchte, mich in jene Gemeinschaft der Wertvollen einzufügen – nicht entblödet, diese dümmliche Art der Existenzdarbietung zu imitieren. Ich hatte die gleichen Kleider gekauft wie sie, wie alle Anderen, hatte einen gleichen zu grossen Wagen gefahren, hatte Taschen voller Computerware herumgetragen, voller Akten und lächerlicher Handbücher....


Köhler, Andreas
Andreas Köhler ist Psychiater, Psychotherapeut und Schriftsteller und hält Lesungen in der DenkBar beim Kloster St. Gallen. Er arbeitet als Facharzt FMH in eigener Praxis in St. Gallen, ist verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Söhnen. Er hielt öffentliche Vorlesungen an der Universität St. Gallen und war Präsident der St. Galler Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie. Er verbrachte seine Jugend in den Tälern der Limmat, der Jona und der Eulach, studierte Medizin an der Universität Zürich und der Freien Universität Berlin. Er schloss sein Studium mit einer Dissertation zum Thema «Religiöser Wahn und Religiosität» ab und bildete sich an der St. Galler Schule für Gestaltung weiter. Sein seelenkundliches und literarisches Interesse gilt der geistigen Fähigkeit des Menschen, seine soziale Welt mittels Geschichten zu durchdringen und zu gestalten.


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