Köpf | Die Souffleuse | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Köpf Die Souffleuse

Erzählungen
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-99200-351-8
Verlag: Braumüller Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Erzählungen

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

ISBN: 978-3-99200-351-8
Verlag: Braumüller Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Sieben Geschichten nehmen uns mit auf eine ebenso unterhaltsame wie poetische Reise. Das hohe Lied auf Individualisten und Einzelgänger beginnt im Theater mit dem späten Glück einer Souffleuse. Wir tauchen ein in die Welt eines Frackschneiders, der einst als Chirurg gescheitert ist. Wir erleben im versunkenen Manderley die Verwandlung des Lebens in einen Traum und erfahren, dass sich der Totentanz zu Wolgast eigentlich Salzburger Exulanten verdankt. In Begleitung eines seltsamen Mitreisenden mit bizarrem Appetit reisen wir bis in den Hohen Norden, um einen der seltenen Drachenelche zu suchen. Das Ende führt uns wieder zurück ins Theater zu einer skurrilen Geschichte über jenen Vorhang, der die Kunst vom Leben trennt.

Gerhard Köpf, 1948 geboren, ehemaliger Literaturprofessor an verschiedenen Universitäten des In- und Auslandes, danach Gastprofessor an der Psychiatrischen Klinik der LMU München; diverse Literaturpreise für sein literarisches Werk (u. a. 1983 Preis der Jury beim Ingeborg-Bachmann- Preis; 1989 Förderpreis Berliner Akademie der Künste, 1990 Raabe-Preis); spielte kleine Rollen in Film und Theater (Münchner Kammerspiele).
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DIE SOUFFLEUSE


Als Dr. med. Vitus Strand starb, stand über seiner schlichten Todesanzeige Psalm 90:10: Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; denn es fährt schnell dahin, als flögen wir davon.

Die Frau, die das veranlasst hatte und um den Verstorbenen trauerte, gehörte zu jener seltenen Sorte von Personen, die ab einer gewissen Anzahl an Jahren ihr Aussehen nicht mehr verändern. Sie scheinen nicht länger zu altern, und wie alt sie wirklich sind, bleibt auf diese rätselhafte Weise ihr Geheimnis. Sie nehmen auch nicht mehr zu, sondern halten auf diskrete Art ihr Gewicht ebenso, wie sie ihren Teint beibehalten. Überhaupt eignet solchen Persönlichkeiten meist etwas Enigmatisches, weswegen sie auch nicht leicht zu finden sind.

Das beste Beispiel dafür war Paulette. Entgegen anderslautenden Angaben von Leuten, die sie nicht näher kannten, war Paulette natürlich weder schmächtig noch gebrechlich. Nein, das war sie durchaus nicht. Schmächtig wäre das falsche Wort, denn sie war vielmehr von zartem Wuchs und dabei doch geschmeidig bis in ihre hohen Tage. Vielleicht beeindruckte sie deshalb, weil nichts Fahriges oder Abruptes an ihr war. Drehte sie sich behutsam und stets kontrolliert zur Seite, hätte man meinen können, sie sei in einem Geschäft für kostbares Porzellan aufgewachsen, das so hell schimmerte wie ihre Haut. Sie bewegte sich, als habe sie ihr Lebtag immer nur in den engsten Räumen zugebracht, als walte hier eine wohl kalkulierte Ökonomie, die genau austariert, wie weit oder wie eng die Grenzen gezogen sind, damit nichts zerstört werde. Die feine kleine Dame, die an einem Stock mit silbernem Knauf durch ihre letzte Lebensdekade ging und vorsichtig wie eine scheu die Bühnentiefe durchmessende Ballerina Schritt vor Schritt setzte, die aufrecht stand und gesittet saß, die sich stets gerade hielt und sich bei Tisch nicht auf die Ellenbogen stützte, die der Welt und jedem, der mit ihr sprach, klar ins Auge sah, hieß eigentlich Elodie, Elodie Winter und war die einzige Tochter eines Apothekers, der nach dem frühen Tod seiner anämischen Ehefrau sein Kind abgöttisch liebte und ihm jeden Wunsch von den Lippen las. Die Leute mochten sie, denn sie war ein Mädchen von rücksichtsvoller Distanziertheit und hatte nichts Hochnäsiges. Vielmehr war sie mit jener Aura des Außergewöhnlichen gesegnet, als gehöre sie qua Geburt einer besonders privilegierten Schicht von Auserwählten an. Anfänglich schien sie mit ihrem knabenhaft kurz geschnittenen Haar noch ein wenig weltfremd und abgehoben. Doch das verlor sich. Elodie genoss eine vorzügliche Erziehung in einem Institut für Höhere Töchter in Vevey am Genfer See.

Sie verbrachte danach einige Jahre in Paris und kehrte schließlich, nachdem sie dort den obligatorisch törichten Teil ihrer Jugendträume begraben hatte, zurück und fand in unserer Stadt ihre Erfüllung. Es war eine lange Suche danach gewesen, die nicht ohne Schmerzen verlaufen und auch mit einer enttäuschten Liebe zu einem Zirkusartisten verbunden war.

Schon als Kind hatte Elodie gelernt, ihren Träumen und Wunschvorstellungen mehr Gewicht zuzubilligen als der Wirklichkeit, denn Elodie, dieses blass leuchtende Mädchen mit dem Porzellangesicht, hatte einen hässlichen Buckel, der ihr zartes Elfenwesen auf das Bizarrste entstellte. Derart von der Natur verabsäumt lernte Elodie beizeiten, dass Glück und Verstand im Leben durchaus nicht harmonisch verteilt sind, und das unglückliche Apothekerstöchterlein sah in mancher durchweinten Nacht ein, wie wenig ihr von dem möglich war, ja jemals möglich sein würde, was sogar dem einfältigsten Bauerntrampel vergönnt war.

Man weiß, dass derlei Kummer bestimmte Sinne und verborgene Fähigkeiten auf besondere Weise schärft und ein inwendig gekehrtes Spezialistentum herausbildet, insbesondere für Gefühlslagen, die von niemandem sonst wahrgenommen oder gar verstanden werden können. Und Elodie erkannte, dass sie sich ins Unabwendbare fügen musste. Dies mit ansehen zu müssen, brachte ihren liebevollen Vater vorzeitig ins Grab, und so stand Elodie eines schönen Tages mit ihrem Buckel allein in der Welt, aus der sie sich mehr und mehr zurückzog, um Handarbeiten nachzugehen, zu klöppeln, kunstvoll zu sticken, schwere und prächtige Stoffe zuzuschneiden und zuletzt Zuflucht in der Kunst zu finden. Sie verkaufte die Apotheke, legte ihr Vermögen diskret und gewinnbringend an und gab Geld nur noch für ihre ausgesuchte Garderobe und für Bücher aus.

Eines Tages geriet sie an Victor Hugos Roman Notre-Dame de Paris. Dieses Werk wurde ihr der Schlüssel zu einem neuen, einem gänzlich anderen Universum, wie sie es bislang noch nie gekannt hatte. In der Gestalt des im Ruf eines Hexenmeisters stehenden Dompropsts Frollo erkannte sie ihren Apotheker-Vater, wie sie sich selbst in dem missgestalteten, auf den Treppen der Kathedrale abgelegten Findelkind Quasimodo wiederfand. Er war hässlich, wie sie glaubte, hässlich zu sein, denn beiden gemeinsam war jener Buckel, den er nur beim Klang der Glocken vergessen konnte, so wie sie ihren Buckel nur dann vergaß, wenn sie in ihrer ständig wachsenden Bibliothek beim Schein einer Leselampe Roman um Roman verschlang oder im Dunkel einer Theaterloge saß und einem Drama beiwohnte, in dem das Schicksal noch erbarmungsloser waltete als an ihr selbst.

Was hätte sie nicht alles gegeben, um so schön zu sein wie Esmeralda mit ihrem langen schwarzen, von Zecchinen durchflochtenen Haar, ihrer goldbraunen Haut und den samtschwarzen Augen, der schmalen Taille und den zierlichen Beinen einer verführerischen Tänzerin?

Und während sich Elodie noch von Pierre Gringoire an die Hand nehmen ließ, erkannte sie, dass es die Welt des Theaters war, die ihr Erlösung gewähren würde. Natürlich wäre ihr Platz aufgrund ihres Buckels nicht auf der Bühne, sondern hinter den Kulissen, mithin dort, wo sie niemand aus dem festlich gekleideten Publikum anstarrte, wo endlich nicht mehr das hämische oder mitleidige Getuschel hinter ihrem verunstalteten Rücken zu hören wäre. Gewiss, die als exzentrisch und überspannt geltende, von zahllosen Liebhabern verwöhnte Sarah Bernhardt blieb nach ihrem berühmten Bühnenunfall in Rio de Janeiro auch noch mit einem Holzbein ein Weltstar. Doch damit konnte Elodie natürlich nicht mithalten. So hoch hatten die Götter bei ihr nicht gegriffen.

Mit ihrem Buckel hätte sie nicht einmal die herrschsüchtige, abgründig intrigante Prinzessin von Eboli spielen können, die bei einem Fechtunfall ihr rechtes Auge verloren hatte. Vermutlich wäre der Apothekerstochter nur noch die Rolle der buckligen Irrenärztin Fräulein Doktor Mathilde von Zahnd geblieben, einer alten, machtbesessenen Jungfer, letzter Spross einer langen Ahnenreihe Wahnsinniger, welche die fürsorgliche Samariterin immer nur geheuchelt hat – doch war das Stück damals noch gar nicht geschrieben. Schließlich sollte diese Rolle auch zurecht Therese Giehse vorbehalten bleiben, von der Dürrenmatt einst behauptete, sie sei die einzige Schauspielerin, die auch mit dem Rücken spielen könne. Aber die Welt des Theaters ist groß und birgt selbst noch in ihren finstersten Katakomben Platz genug für verbotene Träume, geheime Wünsche und exzentrische Existenzen.

Das Erste, was Elodie tat, war, ihren Namen abzulegen. Von nun an nannte sie sich Paulette. Aus Mademoiselle wurde Madame, und siehe da, sogar der Buckel bekam Würde. Paulette: Das schien ihr ebenso wohltuend gewöhnlich wie verstohlen frivol. Elodie wollte sie nicht mehr heißen – vielleicht, weil Elodie ein wenig fragil klang und auf jene Lebenszeit zurückverwies, die sie nunmehr hinter sich zu lassen beschlossen hatte. Überdies wollte sie so wenig eine Femme fragile sein wie eine Femme fatale. Madame genügte. Wenn man Paulette hieß, konnte man auch einen Buckel haben. Mit Elodie hingegen war das unmöglich. Sie kultivierte allerdings auch als Paulette weiterhin jenes Benehmen, das man einst als nobel bezeichnet und damit Menschen charakterisiert hat, die zwar keinen Adelstitel im Namen führten, denen aber dafür eine Noblesse des Herzens und der Umgangsformen eignete. Madame Paulette trug stets Hütchen mit winzigem Schleier, bevorzugte Strümpfe mit Naht und Kostüme von Chanel, und man sah sie nie ohne ihre langen schwarzen durchbrochenen Handschuhe. Allein wie sie diese abzulegen gewohnt war, bewies, dass sie aus anderen Zeiten kam. Sie hatte einen roten Kirschmund, war von Kopf bis Fuß eine Dame und es umgab sie etwas Französisches, womöglich sehnsüchtig herübergerettet oder trotzig verschleppt aus jenen Tagen, in denen sich die besseren Herrschaften noch in dieser eleganten Sprache unterhielten, die vom Zarenhof bis Biarritz verstanden wurde und vor allem dann zum...


Gerhard Köpf, 1948 geboren, ehemaliger Literaturprofessor an verschiedenen Universitäten des In- und Auslandes, danach Gastprofessor an der Psychiatrischen Klinik der LMU München; diverse Literaturpreise für sein literarisches Werk (u. a. 1983 Preis der Jury beim Ingeborg-Bachmann- Preis; 1989 Förderpreis Berliner Akademie der Künste, 1990 Raabe-Preis); spielte kleine Rollen in Film und Theater (Münchner Kammerspiele).



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