E-Book, Deutsch, 230 Seiten
Kofler Erzählen über Liebe
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-593-41285-6
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Die Konstruktion von Identität in autobiografischen Interviews
E-Book, Deutsch, 230 Seiten
ISBN: 978-3-593-41285-6
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Alexandra Kofler, Dr. phil., erhielt für ihre Dissertation den Michael-Mitterauer-Preis für Gesellschafts-, Kultur und Wirtschaftsgeschichte. Sie lebt und arbeitet als freie Wissenschaftlerin in Wien.
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Inhalt
Einleitung9
1.Identität: Ein uneindeutiges Konzept15
1.1(Personale) Identität und Individualität21
1.2Der sozialwissenschaftliche Identitätsbegriff28
1.3Identität als modernes Problem33
1.4Biografie als Lösung des Identitätsproblems?36
2.Identität in Geschichten41
2.1Was ist eine Erzählung?45
2.2Narrativität und die Philosophie der Geschichten50
2.3Das Konzept der narrativen Identität55
2.4Autobiografisches Erzählen und die Konstruktion des Selbst60
3.Selbsterzählungen über Liebe als Orte von Identitätskonstruktionen?65
3.1Liebe als Erzählung65
3.2Der Liebesdiskurs: Eine Skizze69
3.3Identität(en) in Bezogenheit?75
4.Rekonstruktion narrativer Identität(en)77
4.1Das Design der Interviewstudie77
4.2Das narrative Interview82
4.3Materialanalyse und Auswertung90
4.4Fallstrukturen, Sampling und Fallvergleich95
5.Geschichten von der Liebe99
5.1Fallgeschichte Andrea: True Romance - Eine Apologie der Liebe100
(K)eine Liebe auf den ersten Blick101
Eine geheime, verbotene Liebe104
Glaubenskampf und Säkularisierungsprojekt107
Apologie der Liebe111
Eine ganz normale Beziehung?112
Gegenwelten114
5.2Fallgeschichte Markus: Interkulturelle Liebe - Eine Aneignungsgeschichte115
Herkunft und Aneignung116
Eine interkulturelle Beziehung?118
Ein typischer Asiate und narrativer Rollentausch120
Romantische Liebe als Rettung des Selbst124
Ernüchterung und virtuelle Liebe125
5.3Fallgeschichte Thomas: Zwischen Bindungsehnssucht und Wahlfreiheit - Ein (männlicher) Reifungsprozess127
Die ›vernünftigste‹ Lebensform: Eine Argumentation129
Männliche Lehrjahre und die Exploration des Weiblichen129
Eine Beziehung zwischen Liebe und Kalkül132
Tanja und die Anderen134
Handlungspraxis und Gedankenspiele136
5.4Fallgeschichte Gisela: Liebe als Projekt - Eine biografische Konversionsgeschichte138
Ehe: Automatismen und Sozialisationseffekte: Eine weibliche Normalbiografie?140
Konversion: Von der Fremd- zur Selbstbestimmtheit142
Riskante Freiheiten143
Liebe, Familienleben und Karriere: Ein Spannungsfeld144
Partnertausch und Liebe als Projekt146
Eine biografische Erfolgsbilanz?147
5.5Fallgeschichte Michael: Zwischen Nähe und Autonomie - Eine Passionsgeschichte148
Vorenthaltene Mutterliebe150
Kampfzone der Geschlechter151
Das Drama der Adoleszenz153
Sexuelle Initiation und therapeutischer Wandel156
Geschlechterkonstruktionen160
5.6Fallgeschichte Veronika: Ein ungleiches Paar? Oder: Die narrative De-Konstruktion von Beziehung163
Das erste Treffen in zwei Versionen165
Das Milieu167
Zukunftspläne170
Bildungsunterschiede173
Resignation?175
Eine negative Bilanz?176
6.Schlussbetrachtung: Erzählte Identität(en)?179
6.1Identitätskonstruktionen zwischen Gleichheit und Wandelbarkeit181
6.2Biografische Schemata und kulturelle Narrative als Ressourcen der Identitätskonstruktion185
6.3Narrative Strategien im autobiografischen Erzählen194
6.4Identitäten in Bezogenheit?
Zwischen Romantik und Ernüchterung198
Nachwort209
Literatur211
Dank229
In einer Aussendung des Centre interdisciplinaire d'études et de recherches sur l'Allemagne (CIERA) vom Juni 2009 wird von einem Wiederaufleben der Erzählung berichtet. Es ist die Rede vom Aufkommen eines 'postklassischen Erzählens', von einer 'Rückkehr der großen Erzählungen' und dem 'Eintritt in ein neues narratives Zeitalter'. Das Storytelling habe als zentrale Strategie in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Therapie und im Privaten einen Wechsel vom Begründen zum Erzählen herbeigeführt. Mehr als Fakten und Argumente zähle heute die gute Story, wenn es darum geht, Wahlerfolge zu erzielen oder Produktbindungen herzustellen. Tatsächlich legt schon ein kurzer Blick auf die gegenwärtige Bekenntnis- und Selbstinszenierungskultur (Burkart 2006) die Vermutung nahe, dass gerade heute mehr denn je erzählt wird. Das (außerliterarische) Erzählen bildet ein favorisiertes Mittel der Selbstdarstellung im Alltag. Überall wird erzählt, werden Selbsterzählungen geliefert - in Blogs, Talkshows, im psychotherapeutischen Kontext, in life-writing-workshops u.s.w. In gleicher Weise übersteigen auch im wissenschaftlichen Kontext die vielfältigen Bezugnahmen auf das Erzählen und die Erzählung mittlerweile den Rahmen der Darstellbarkeit.
Diese Neuentdeckung mag aber erstaunen, bedenkt man, dass es sich beim Erzählen um eine zentrale Praxis menschlichen Lebens handelt:
'Außerdem findet man die Erzählung in diesen nahezu unendlichen Formen zu allen Zeiten, an allen Orten und in allen Gesellschaften; die Erzählung beginnt mit der Geschichte der Menschheit; nirgends gibt und gab es jemals ein Volk ohne Erzählung; alle Klassen, alle menschlichen Gruppen besitzen ihre Erzählungen. [...] Die Erzählung schert sich nicht um gute oder schlechte Literatur: sie ist international, transhistorisch, transkulturell, und damit einfach da, so wie das Leben.' (Barthes 1988: 102)
Erzählen ist eine universelle Kulturpraxis, wie Roland Barthes deutlich macht. Sie beschränkt sich nicht auf den Bereich professionalisierten Erzählens, sondern sie findet sich in jedem Bereich des Lebens. Der enge Zusammenhang zwischen Kultur und Erzählen hat die Erzählung mitunter zu einem Gradmesser kultureller Einschätzungen gemacht: Die These vom Verlust des Erzählvermögens im Zeitalter der Massenmedien erscheint etwa bereits bei Walther Benjamin als Untergang der Kultur. Dennoch bildet das Erzählen nach wie vor ein zentrales Medium der Selbst- und Welterkenntnis. Vielmehr erlangt es angesichts erhöhter Anforderungen biografischer Sinnstiftung und Orientierung neuerliche Dringlichkeit. Das gegenwärtige Interesse am Erzählen lässt sich somit auch als ein Indiz für gesellschaftliche Veränderungen und Verluste verstehen. Vor allem sozialpsychologische Konzeptionen weisen dem Erzählen angesichts sozialer Differenzierung, Individualisierung und Fragmentierung die Funktion subjektiver Identitätsbildung zu: Nur die Erzählung vermöge jene Einheit wiederherzustellen, die gesellschaftlich bereits unmöglich geworden sei. Erzählen stiftet Identität und Zugehörigkeit - eine Funktion, die besonders in Zeiten biografischer Brüchigkeit an Bedeutung gewinnt.
Die vorliegende Untersuchung nimmt das autobiografische Erzählen als eine Praxis der Identitätskonstruktion in den Blick. Dies erfolgt in zweifacher Hinsicht: Im Rahmen einer kritischen Auseinandersetzung mit den gängigen Positionen der Identitätsdebatte wird eine narrative Konzeptualisierung des Identitätsbegriffs vorgeschlagen. Der Frage nach der identitätskonstitutiven Bedeutung des Erzählens wird in Form einer Analyse autobiografischer Selbsterzählungen zum Thema Liebe nachgegangen. Anhand von Interviews, in denen Personen von ihren Lebens- und Liebeserfahrungen berichten, soll gezeigt werden, inwiefern Identität weder ein stabiler Tatbestand, noch ein Besitz der Person ist, sondern sich vielmehr als eine immer wieder neu zu leistende narrative Aufgabe darstellt. Auf diese Weise verbindet die vorliegende Studie eine philosophisch-hermeneutische Theorie der narrativen Identität mit einem empirisch-biografischen Forschungsansatz.