- Neu
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Kohout Hyperreaktiv
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8031-4429-4
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie in Sozialen Medien um Deutungsmacht gekämpft wird
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-8031-4429-4
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Annekathrin Kohout ist promovierte Kulturwissenschaftlerin und freie Autorin. Sie ist Mitherausgeberin der Buchreihe Digitale Bildkulturen im Wagenbach Verlag sowie der Zeitschrift POP. Kultur und Kritik. Für die TAZ schreibt sie eine Kolumne über Internetkultur. Zuletzt erschienen von ihr Bücher über Netzfeminismus, Nerds und K-Pop.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Interdisziplinäres Wissenschaften Wissenschaft und Gesellschaft | Kulturwissenschaften Populärkultur
- Sozialwissenschaften Medien- und Kommunikationswissenschaften Kommunikationswissenschaften Digitale Medien, Internet, Telekommunikation
- Mathematik | Informatik EDV | Informatik Digital Lifestyle Internet, E-Mail, Social Media
- Interdisziplinäres Wissenschaften Wissenschaft und Gesellschaft | Kulturwissenschaften Kulturpolitik, Kulturmanagement
- Interdisziplinäres Wissenschaften Wissenschaft und Gesellschaft | Kulturwissenschaften Kulturwissenschaften
- Geisteswissenschaften Kunst Kunstformen, Kunsthandwerk Installations-, Aktions-, Computer- und Videokunst
- Mathematik | Informatik EDV | Informatik EDV & Informatik Allgemein Soziale und ethische Aspekte der EDV
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Soziale Gruppen/Soziale Themen Gewalt und Diskriminierung: Soziale Aspekte
- Wirtschaftswissenschaften Wirtschaftssektoren & Branchen Medien-, Informations und Kommunikationswirtschaft Informationstechnik, IT-Industrie
Weitere Infos & Material
GET FEEDBACK OR IT DIDN’T HAPPEN
Viele Menschen sammeln etwas – einige sehr ernsthaft und systematisch, andere eher intuitiv. Oft hängt das davon ab, was gesammelt wird. Ich sammle Screenshots. Wo andere Briefmarken, Münzen oder Vintage-Platten anhäufen, archiviere ich digitale Momentaufnahmen: einen absurden Kommentar, ein virales Meme, eine bizarre Diskussion. Schon lange. Die Motive haben sich mit den Jahren stark verändert. Kein Wunder, schließlich haben sich auch Benutzeroberflächen, Designs und Inhalte unserer digitalen Geräte gewandelt. Ich habe zum Beispiel Miley Cyrus’ 420-Weed-Phase auf Instagram dokumentarisch festgehalten. Und es gab mal diese Livestreaming-Plattform namens Periscope: Ich habe unzählige Screenshots von US-amerikanischen Selbstdarstellern, die singen, tanzen oder einfach reden – in ihren Betten, Autos, auf der Straße oder im Kindergarten. Heute ist das natürlich nichts Besonderes mehr. Heute gibt es ja TikTok.
Meine Sammlungen aus jüngerer Zeit stammen überwiegend von Instagram. Sie sind für mich ein anschauliches Archiv einer zunehmend politisierten Plattform. Besonders faszinieren mich Storys, in denen sich Nutzer für ihre Posts rechtfertigen. Irgendjemand – vielleicht auch mehrere Follower oder zufällig Rezipierende – hat Anstoß genommen: an einer unbedachten Formulierung, einer vermeintlich problematischen Haltung, einer übersehenen Sensibilität. Nun gibt es Klärungsbedarf. Diese Storys nehmen zu. Anfangs entschuldigend, sachlich, heute eher als Statement: »Ich habe folgende Kommentare erhalten, hier erkläre ich, warum sie unberechtigt sind!«
Dabei sind Storys eines der wenigen Formate im Social Web, bei denen Kommentare nicht für Außenstehende sichtbar sind. Wer eine Story postet, könnte negative Reaktionen also einfach ignorieren – niemand außer den Beteiligten würde davon erfahren. Doch genau das geschieht oft nicht. Stattdessen wird proaktiv geklärt, richtiggestellt und verteidigt. Diese ständige Selbstverteidigung ließe sich natürlich erstmal damit erklären, dass man sich in der Gegenwart anderer beobachtet und dadurch objektiviert fühlt – das Selbstbild wird schließlich durch den Blick von außen geformt. Die Rechtfertigung im digitalen Raum kann insofern als Versuch gelesen werden, das Bild, das sich andere von einem machen, aktiv zu gestalten. Solche Rechtfertigungs-Storys sind somit zunächst einmal ein Ausdruck des Wunsches, die Kontrolle über die eigene Identität beziehungsweise die eigenen Selbsterzählungen zu bewahren. Im Rechtfertigungsdruck zeigt sich aber ebenso, wie exponiert und verletzlich sich User online fühlen, wie hoch der soziale Druck ist, wie spannungsgeladen zwischenmenschliche Beziehungen, wie groß die Sorge, nicht akzeptiert zu werden, und welche emotionalen Herausforderungen der digitale Alltag mit sich bringt. Hinzu kommt: Wer viel von sich preisgibt und aktiv am Online-Diskurs teilnimmt, sieht sich einer permanenten Erwartungshaltung ausgesetzt. Und zwar nicht nur selbst Inhalte zu produzieren, sondern auch auf jede Reaktion einzugehen, jeden Kommentar zu würdigen, jede Kritik zu adressieren. Niemand bleibt von negativen Rückmeldungen unberührt – ob öffentlich oder privat.
Dieser Rechtfertigungsdruck hat durch Soziale Medien enorm zugenommen. Nie war es einfacher, Meinungen und Entscheidungen vor großem Publikum zu teilen. Viele User sind zu semi-öffentlichen Personen geworden.6 Doch noch entscheidender für den Anstieg dieses Drucks scheint mir die Möglichkeit zu sein, permanent sofortiges Feedback zu geben und zu erhalten. Dieses Feedback, das in vordigitalen Zeiten meistens dosiert verteilt wurde, ist im Social Web regelrecht zur Grundlage einer jeden digitalen Existenz geworden: .
Ursprünglich stammt der Begriff Feedback aus der Regelungstechnik. Er bezeichnet dort einen Mechanismus, bei dem das Ergebnis einer Aktion auf ihren Ausgang zurückgeführt wird, um zukünftige Aktionen anzupassen. Betrachtet man Feedback online als entscheidenden Faktor für Entwicklungen verschiedenster Art – wie es mittlerweile in vielen Bereichen der Fall ist –, hat man es zunächst mit einem positiven Mechanismus zu tun. Durch zahlreiche Feedbacks wird so viel und so schnell gelernt wie selten zuvor. Natürlich gibt es auch die gegenteilige Perspektive, dass die menschliche Intelligenz bedroht sei, weil Wissen und Fähigkeiten zunehmend von digitalen Geräten übernommen werden7 – die Rede ist von »digitaler Amnesie« oder »Google-Effekt«.8 Doch die Fähigkeit zu lernen hat nicht nachgelassen – im Gegenteil: Die Allgegenwart von Feedbacks in Form von Likes, Kommentaren, Bewertungen oder Reaktionen hat eine gewisse Form des Lernens enorm beschleunigt. Das zeigt sich besonders deutlich in der Entwicklung von Diskursen: Argumente werden aufgrund von Echtzeit-Feedback rasch angepasst, entkräftet, verworfen oder neu formuliert. Allerdings spielt die Qualität des Feedbacks nicht immer eine Rolle. So kann es passieren, dass Menschen etwas verinnerlichen, das bei näherer Betrachtung gar nicht wert gewesen wäre, gelernt zu werden. Etwa wenn sie Gesundheitstipps von Influencern übernehmen, nur weil diese viral gehen und positives Feedback erhalten – obwohl sie medizinisch fragwürdig sind. Oder wenn sie glauben, komplexe politische Zusammenhänge durch vereinfachende Memes begriffen zu haben, oder wissenschaftliche Erkenntnisse über knackige Infokacheln verinnerlichen, die bei genauerer Prüfung grob verkürzt oder sogar falsch sind. Feedback ist also nicht nur positiv – es kann Lernprozesse auch verzerren.
Feedback ist unabhängig von seinem Inhalt eine grundlegende und treibende Kraft im Social Web, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Auf technischer Ebene bestimmt Feedback, was Algorithmen für Nutzer sichtbar und unsichtbar werden lassen: Jeder Like, jeder Kommentar, jede Verweildauer wird gemessen und fließt in komplexe Berechnungen ein, die entscheiden, welche Inhalte bei wie vielen Nutzern auftauchen. Die Plattformen sind darauf programmiert, jene Inhalte zu bevorzugen, die viel »Engagement« erzeugen (ein euphemistischer Begriff für alles, was User dazu bringt, zu klicken, zu tippen, zu reagieren) – unabhängig davon, ob dieses »Engagement« positiv oder negativ ist. Ein empörender Post, der hunderte wütende Kommentare provoziert, wird vom Algorithmus als »erfolgreich« eingestuft und entsprechend weiterverbreitet. Auch von Künstlicher Intelligenz gesteuerte Systeme und maschinelles Lernen hängen fundamental von diesen Feedback-Schleifen ab: Sie lernen aus den Reaktionen der User, was ›funktioniert‹, und optimieren ihre Empfehlungen entsprechend. Diese technische Logik hat weitreichende Folgen: Sie belohnt nicht Qualität oder Wahrheit, sondern Reaktionstauglichkeit. Inhalte, die starke Emotionen auslösen – Empörung, Angst, Begeisterung –, werden systematisch bevorzugt, während nuancierte, ausgewogene Beiträge in der Versenkung verschwinden.
Auf wirtschaftlicher Ebene nutzen Unternehmen und Organisationen diese Feedback-Daten, um Entscheidungen zu treffen, Trends vorherzusagen und Strategien anzupassen. Sie analysieren, welche Produktankündigungen viral gehen, welche Werbekampagnen Shitstorms auslösen, welche Influencer-Kooperationen die meisten Reaktionen generieren. Für die Plattformen selbst sind diese Daten wiederum ebenfalls eine Währung: Je mehr Reaktionen ein Inhalt erzeugt, desto länger bleiben User online, desto mehr Werbung können sie ihnen zeigen, desto höher sind ihre Einnahmen. Das erklärt, warum Algorithmen systematisch auf »Engagement« optimiert sind – nicht auf schwer messbare Werte wie Wahrheit, Qualität oder gesellschaftlichen Nutzen.
Und als kulturelle Kraft beeinflussen und prägen Feedbacks die Kommunikation, die Inhaltsproduktion und nicht zuletzt die Gemeinschaftsbildung. Feedbacks gestalten die Art und Weise, wie Individuen und Kollektive interagieren, Werte teilen und Kultur online gestalten. Auch was als wünschenswert oder akzeptabel angesehen wird, ist von Feedbacks in Form von Likes, Kommentaren und Shares beeinflusst. Positive Rückmeldungen verstärken bestimmte Verhaltensweisen, negative Reaktionen schwächen sie ab. Auf diese Weise werden soziales Verhalten und kultureller Content unterstützt oder sanktioniert. Nicht zuletzt ist der vielfach naserümpfend kritisierte, in der Influencer- und Selfiekultur vermeintlich vorherrschende Narzissmus im Netz ein performativer Nebeneffekt solcher Feedbackmechanismen. Je mehr Gesicht im Bild oder Video, desto mehr Likes, desto mehr Reichweite, desto mehr Anerkennung, desto mehr Selbstbewusstsein. So spielen diese Mechanismen auch bei der digitalen Identitätsbildung eine große Rolle und beeinflussen somit das Selbstbild und die Selbstwertgefühle enorm – auch (IRL). Da die meisten Menschen im Netz selbst Erfahrungen mit den genannten Feedback-Mechanismen machen, sind sie sich deren Bedeutung und Kraft durchaus bewusst und setzen sie als Werkzeug ein – mal intuitiv, mal strategisch.
Denn umgekehrt transportiert jedes Feedback auch eine Haltung: Zustimmung, Distanz, Solidarität, Empörung. Feedback ist nicht nur auf Inhalte bezogen, es ist ebenso sehr Ausdrucksmedium. Wer Feedback gibt, sagt auch: Ich habe gesehen, ich lehne das ab, ich gehöre dazu, ich durchschaue das. Feedbacks sind verkürzte Formen der Selbstauskunft, Mini-Selbstdarstellungen, Kleinstinterventionen: flüchtig, aber nicht folgenlos.
Die technischen Systeme des Feedbacks haben sich so zu sozialen Systemen entwickelt,...