Kokemoor | Entwicklungsbegleitung autistischer Kinder in Krippe und Kita | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

Kokemoor Entwicklungsbegleitung autistischer Kinder in Krippe und Kita


1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-451-82861-4
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

ISBN: 978-3-451-82861-4
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



In Kitas und Krippen ist eine deutliche Zunahme von Kindern mit einer Diagnose aus dem Spektrum Autismus zu beobachten. Um die besonderen Verhaltensweisen autistischer Kinder besser verstehen und somit angemessener darauf reagieren zu können, bedarf es eines Perspektivwechsels, so der Autor Klaus Kokemoor. Er erläutert in seinem Buch, was Autismus überhaupt ist und warum sich autistische Kinder oftmals 'anders' fühlen. Darüber hinaus zeigt er auf, wie sich Autismus in den Alltag von Krippe und Kita integrieren und sensibel inkludieren lässt. Zahlreiche praktische Fallbeispiele verschaffen pädagogischen Fachkräften ganz konkrete Sichtweisen und erleichertern den Transfer in den Kita-Alltag.

Klaus Kokemoor Jg.1962,, Diplom-Sozialpädagoge, Supervisor, Therapeut (Entwicklungsbegleitung Doering, Psychomotorische Praxis Aucouturier sowie Marte Meo-Video-Interaktionsanalyse). Koordinator für das Thema Inklusion der Stadt Hannover. Seit 1982 beschäftigt er sich in Praxis und Theorie mit Menschen mit Autismus und hat bereits zahlreiche Bücher zum Thema veröffentlicht.
Kokemoor Entwicklungsbegleitung autistischer Kinder in Krippe und Kita jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


1.


Autismus – Begegnung mit einer anderen Kultur?


1.1 Ein anderes Von-der-Welt-Bild


Wir können davon ausgehen, dass das Verhalten des Kindes erst einmal sinnhaft ist (vgl. Jantzen 2018, S. 160). Die Symptome, die Autismus beschreiben, geben uns zunächst keine Information darüber, was Autismus genau ist oder wie er sich für autistische Kinder anfühlt. Die Symptome sind eine bewusste oder auch unbewusste Reaktion des Kindes darauf, nicht hinreichend mit seinen Mitmenschen in eine Wechselbeziehung gehen zu können, und nicht das Resultat eines genetischen Programms (vgl. Hobson 2003, S. 192 f.). Donna Williams beschreibt die autismusspezifischen Verhaltensweisen als Verteidigungsmechanismen, die auftreten, wenn Betroffene mit Gefühlen und Erwartungen überfordert sind (vgl. Williams 1999). Symptome sind pauschale Aussagen zum Autismus und bleiben eine Draufsicht, die uns helfen soll die Kinder in eine Kategorie einzuordnen. Wenn wir jedoch verstehen wollen, was Autismus wirklich ist, so sollten wir uns mit den Beschreibungen und Erzählungen von persönlich Betroffenen beschäftigen. Dieser Perspektivwechsel bleibt zwar immer nur eine Annäherung an das einzelne Kind mit seiner ihm eigenen Biografie, seinem spezifischen genetischen Potenzial, doch er hilft uns eher Grenzen zu wahren und das Kind nicht mit missverständlichen, eigenen Vorstellungen zu überfordern. „Kartoffeln und Möhren können jedenfalls damals wie heute ein schönes Bild auf meinem Teller ergeben. Für mich ein Bild der Klarheit und Ruhe. – Tief versunken in meinem Tellerbild hörte ich kaum etwas von dem was um mich herum gesprochen wurde“ (Brien 2011, S. 4). Das Zitat von Matthias Brien gibt uns hier einen kleinen Einblick in seine Perspektive.

Die Zusammenarbeit mit Matthias, der die Diagnose Asperger-Syndrom erst mit 50 Jahren erhielt, hat für mich die Sicht auf das Thema Autismus vertieft und um sein Von-der-Welt-Bild erweitert. Wir sind uns einig darin, dass wir mit unserer Aufmerksamkeit, unseren Handlungen und unseren Worten an das anschließen müssen, was das Kind in der aktuellen Situation durch sein Tun zum Ausdruck bringt, um es nicht mit unseren Erwartungen, die oft konträr zum Erleben oder Bedürfnis des Kindes liegen, zu überfordern. Es ist wichtig, an sein Handeln, seine Welt anzuschließen, um es konstruktiv in seiner Entwicklung zu begleiten und ihm Orientierung zu geben. Das Kind spürt durch dieses Vorgehen keine Widersprüche zu seiner autistischen Sicht, es kann den Anderen dadurch gut in seiner Nähe akzeptieren, es geschieht nun für Momente nichts, was nicht vom Kind gewollt ist. Mit dem Anschließen an die andere Lebensform, anderen Verhaltensweisen, anderen Handlungen und möglichen Gefühle über unsere Aufmerksamkeit und Worte kreieren wir für das Kind eine Realität, die ihm sonst oft nicht begegnet (vgl. Brien, in Kokemoor 2016, S. 150).

Die Menschen, die ich in diesem Buch zu Wort kommen lasse, sind beeindruckende Menschen, die über ihre Gedanken und die damit verbundenen Bilder zeigen, über welche besondere Weltsicht sie verfügen. Doch sie bringen auch immer wieder ihr Leid zum Ausdruck, welches damit verbunden ist, oft überfordert und von unserer Realität ausgeschlossen zu sein. „Ich schien einfach nirgendwo hineinzupassen, als ob ich in eine falsche Welt hinein geboren wäre. Das Gefühl, nie ganz dazugehörig und geborgen, sondern immer irgendwie getrennt und abgeschnitten zu sein, lastete schwer auf mir“ (Tammet 2008, S. 104).

Ich bin der Auffassung, es gibt einen zusätzlichen Leidensdruck, der durch gesellschaftliche Bedingungen, die verständlichen Sorgen der Eltern sowie durch Unverständnis im Umfeld verstärkt wird. Doch dieses Unverständnis ist wiederum verständlich, denn es ist so schwer, eine Vorstellung davon zu haben, wie sich die Welt eines autistischen Kindes oder einer erwachsenen Person anfühlt.

Der Körper

Eine Beobachtung, die ich besonders intensiv in der therapeutischen Begleitung von autistischen Kindern machen konnte, aber mit deren Erkenntnis ich auch heute noch arbeite, ist die Schwierigkeit des Kindes, ein gutes Gefühl zum eigenen Körper zu haben. William, auf den ich später noch zurückkommen werde, scheint mich nicht oder kaum wahrzunehmen, als er vor mir steht und immer wieder mit dem kleinen Plastikschlauch wedelt. Dann baue ich vor ihm auf dem Boden einen kleinen Turm aus Holzbauklötzen auf, um ihn in das Spiel mit dem Turm einzuladen. William, der im Langsitz direkt neben dem Turm sitzt, scheint jedoch keine Notiz davon zu nehmen. Ich nehme daraufhin seine Füße in meine Hände und drücke die Fußspitzen vorsichtig Richtung Knie, um die Spannung auf seine Achillessehne zu erhöhen und somit sein Gefühl zu seinem Körper zu optimieren. Als ich dieses mit den Worten „eins, zwei, drei, dschubs!“ mehrere Male wiederhole, schmeißt er den Turm bei meinem dritten Versuch mit Schwung und absichtsvoll um. Ich sage daraufhin freudig: „Ooooh, du schmeißt den Turm um und ich bau ihn wieder auf!“, während ich den Turm wieder aufbaue.

Wir lachen uns beide an und dieses Beziehungsspiel mit dem Turm, welches alle Eltern von nicht autistischen Kindern kennen, setzt sich fort. Dieses Spiel war William erst möglich, als er seinen Körper, sein Körperselbst, spüren konnte. Viele Kinder können sich auch erst zu uns in Beziehung setzen, wenn sie sich hinreichend spüren.

Temple Grandin ist Autistin und Professorin für Tierverhalten an der Universität von Illinois. Weil sie ihren Körper nicht gut spürt, hat sie für sich eine Druckmaschine entwickelt, in welche sie sich täglich legt, um sich besser zu spüren und zu entspannen. „Als kleines Mädchen hatte sie sich danach gesehnt, gewiegt und umarmt zu werden, sich aber gleichzeitig vor jeglichem Körperkontakt gefürchtet.“ – „Ihre Maschine arbeitete exakt so, wie sie es sich erhofft hatte, und erzeugte genau das Gefühl von Ruhe und Freude, von dem sie seit ihren Kindertagen träumte“ (Sacks 2003, S. 363 f.). Peter Schmidt beschreibt seine Beziehung zu seinem Körper wie folgt: „In den Momenten, wo ich so da bin, fühle ich mich gefangen in mir selbst und schwer. Ich erlebe mich als ganz großes Gnubbel. Als ein Körper mit Gnubbeln. […] Ich versuche die Gnubbel abzuschütteln. Es gelingt mir nicht. Sie gehören offenbar irgendwie zu mir“ (Schmidt 2015, S. 17).

Autismus ist vor allem auch mit der Schwierigkeit des Kindes verbunden seinem Körper hinreichend zu spüren. Viele dieser Kinder spüren keine Verbindung zwischen den einzelnen Teilen des Körpers und nehmen ihren Körper nicht als Einheit war. Aus diesem Grund lieben es diese Kinder, im Außen Einheiten herzustellen, die als eine Art Spiegelbild ein wohliges Körperbild erzeugen sollen. „Ich hatte viele kleine Matchbox-Autos, die ich in langen Reihen auf der Marmor-Fensterbank aufzustellen pflegte. Mit Geldmünzen spielte ich auf die gleiche Weise“ (Schäfer 1997, S. 38). „Alles in eine Reihe zu legen, Gegenstände nach Kategorien zu ordnen und in die gleiche Richtung gucken zu lassen, gab mir Frieden“ (Williams 1994, S. 68). Doch wenn wieder mal dieses Spiel durcheinandergebracht wird, verwandelt sich das wohlige Gefühl schnell in Frust, existenzielle Not oder Panik. Es geht mit einem Verlustgefühl am eigenen Körper einher. „Verliert ein Mensch den Bezug zu seinem Körper, verliert er sein Selbstgefühl und steht der Welt entfremdet gegenüber“ (Esser 1995, S. 19).

Dieser Entfremdung setzt das autistische Kind eine Art eigene Wirklichkeitskonstruktion von der Welt gegenüber, in der wohltuende Stereotypen Orientierung, Sicherheit und Strukturierung geben können. Die oft stereotyp ausgeführten Rituale geben Sicherheit in einer als chaotisch erlebten äußeren Welt und helfen dabei, das Gefühl der eigenen Existenz zu spüren (vgl. Theunissen 2020, S. 41). Doch die Wirklichkeitskonstruktion des autistischen Kindes bleibt ein fragiles Konstrukt, da es in der Regel wenig flexibel ist, dessen Bedeutung von der Umwelt nicht erkannt oder verkannt wird und oft mit vielen Denkleistungen verbunden ist. Dabei können wir mit unserem Körper die Bedeutung von Situationen oder Begegnungen viel verlässlicher und schneller wahrnehmen als mit dem Intellekt (vgl. Rogers 1976, S. 38).

Der Geist

„Ich musste über jede soziale Interaktion nachdenken. Ich beobachtete ständig, versuchte herauszufinden, welches die beste Verhaltensweise war, doch ich gehörte nie dazu. Wenn andere Studentinnen für die Beatles schwärmten, bezeichnetet ich ihre Reaktion als ISP – als interessantes soziologisches Phänomen. Ich war eine Wissenschaftlerin, die versuchte, die Verhaltensweisen der Eingeborenen zu ergründen. Ich wollte teilhaben, doch ich wusste nicht, wie“ (Grandin 1997, S. 166). Die Schwierigkeit, die Bedeutungen von sozialen Situationen zu verstehen, die vor allem im Körper verankert ist, liegt in der Schwierigkeit dieser Kinder, sich vom Anderen emotional bewegen zu lassen und sich somit emotional verbunden zu fühlen (vgl. Dornes 2010, S. 147).

Wenn Matthias von der Polizei angehalten und gefragt wird, ob er etwas getrunken hat, antwortet er mit: „Ja!“ Wir würden immer mit Nein antworten, obwohl wir bereits Tee oder Kaffee getrunken haben, weil wir wissen, dass mit der Frage der Polizei der Verzehr von Alkohol gemeint ist. Dies ist ein kulturell oder sozial verankertes Verhalten. Autistische Kinder bleiben ohne diesen Ausgleich und erhalten sich eine Art eigene Kultur, die sie in unseren kulturellen Zusammenhängen oft...


Kokemoor, Klaus
Klaus Kokemoor Jg.1962, Diplom-Sozialpädagoge, Supervisor, Therapeut (Entwicklungsbegleitung Doering, Psychomotorische Praxis Aucouturier sowie Marte Meo-Video-Interaktionsanalyse). Koordinator für das Thema Inklusion der Stadt Hannover. Seit 1982 beschäftigt er sich in Praxis und Theorie mit Menschen mit Autismus und hat bereits zahlreiche Bücher zum Thema veröffentlicht.

Klaus Kokemoor Jg.1962, Diplom-Sozialpädagoge, Supervisor, Therapeut (Entwicklungsbegleitung Doering, Psychomotorische Praxis Aucouturier sowie Marte Meo-Video-Interaktionsanalyse). Koordinator für das Thema Inklusion der Stadt Hannover. Seit 1982 beschäftigt er sich in Praxis und Theorie mit Menschen mit Autismus und hat bereits zahlreiche Bücher zum Thema veröffentlicht.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.