E-Book, Deutsch, 250 Seiten
Koller Die Herrschaft der Großväter. Thriller
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-99074-037-8
Verlag: Federfrei Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 250 Seiten
ISBN: 978-3-99074-037-8
Verlag: Federfrei Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mikhail Vulkov wächst in der Ukraine in ärmlichen Verhältnissen auf. Sein Vater Alkoholiker, seiner Mutter gleichgültig, ?üchtet er sich vor den Misshandlungen im eigenen Heim und tritt in die Armee ein. In der Kaserne angekommen, wird er mit dem brutalen System der Dedowaschtschina konfrontiert: Der Herrschaft der Großväter, die alle Rekruten über die Neuankömmlinge ausüben. Nach Jahren der Unterdrückung wird Vulkov schließlich selbst ein Großvater - und zieht nach seinem Ausscheiden aus der Armee eine blutige Spur der Gewalt hinter sich her.
Michael Koller, geboren am 14. März 1972, lebt in Hoheneich bei Gmünd im Waldviertel. Nach Abschluss der Handelsakademie war er in unterschiedlichen Berufszweigen tätig und lernte so den Facettenreichtum des Lebens bestens kennen. Seine Leidenschaft war und ist das Schreiben. Zeitungsartikel, Kurzgeschichten, Gedichte, Romane und Internetblogs umreißen das Repertoire des Enfant Terribles der Waldviertler Schreibzunft.
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Ich hatte gar nicht vorgehabt, mich Walter Graumann bereits an diesem Tag zu nähern, sondern wollte bloß weiter seine Gewohnheiten studieren. Doch als er die Parlamentstreppe ziemlich schnell heruntergerannt kam und direkt auf das gestohlene Taxi zuhielt, in dem ich saß, konnte ich nicht widerstehen. Einfacher würde er es mir kaum noch einmal machen. Also faltete ich die Zeitung zusammen und wollte sie auf den Sitz neben mir ablegen, doch mein unerwarteter Fahrgast öffnete die Beifahrertür und nahm direkt neben mir Platz. »Wo soll’s hingehen, der Herr?«, fragte ich im standardisierten Wiener Taxifahrerjargon. Graumann lächelte leicht und gab dann eine Adresse im 8. Bezirk an. Eine Strecke, die man auch zu Fuß leicht bewältigen konnte. Doch in Zeiten wie diesen war jemand wie Walter Graumann nicht bloß der Applaus von Sozialromantikern gewiss. Es gab auch Kräfte, die ihn lieber heute als morgen zum Teufel jagen würden. Im wahrsten Sinne des Wortes. Darum setzte er sich vermutlich auch nach vorne. Um alles genau im Blickfeld zu haben. Dass er dabei nicht nach links sah und erkannte, bereits in Feindesland zu sein, hatte schon etwas Ironisches an sich. Als ich von der Ringstraße aus in die Florianigasse einbog, begann sein Handy zu klingeln. Doch ehe er imstande war, den Anruf entgegenzunehmen, griff ich unter den Fahrersitz und holte meine Pistole hervor. Meine gute alte 08 von Luger, die ich in Französisch-Guayana auf einem Markt für Weltkriegswaffen erstanden und im kaum kontrollierten Legionärsgepäck zurück nach Europa geschmuggelt hatte. Inklusive einer stattlichen Menge an Munition. Sie war leicht im Handling und schnell einsetzbar. Perfekt für Situationen wie diese. »Handy weg!«, befahl ich barsch und verlieh dieser Aufforderung mit einem kräftigen Stoß des Pistolenlaufs gegen seine Schläfe Nachdruck. »Was wollen Sie?«, fragte er mit zittriger Stimme und weit aufgerissenen Augen. Der Durchschnittsmensch reagierte auf eine existenzielle Bedrohung stets gleich. Mit Angst, Panik und dummen Fragen. Ich fuhr eine ganze Weile wortlos weiter. Blieb seelenruhig an der ersten Ampel stehen und blickte ihm dann scharf ins Gesicht. »Sie können womöglich auf sich aufmerksam machen. Winken. Schreien. Mich angreifen. Aber es wird die letzte Handlung in Ihrem Leben sein. Da seien Sie gewiss. Also bleiben Sie ruhig sitzen, schauen wie zuvor geradeaus und genießen die Fahrt.« Ich spürte es nicht nur in seinen Augen. Nein, ich vernahm auch die leisen Vibrationen, die sein Zittern auslösten. Erkannte all das, was ich schon so oft in Leuten erkannt hatte, die mir ausgeliefert waren. Sie verfielen in Starre, bäumten sich kurzfristig auf, schmiedeten Pläne, klammerten sich an Strohhalme und gingen letztlich unter. Durch meine Hand. Ein menschliches Wesen war so leicht auszurechnen wie die Fläche eines Kreises. Kannte man die Formel und den Radius, so war alles weitere bloß ein Kinderspiel. Man benötigte nur noch einen Taschenrechner. Oder eine Pistole. Wir überquerten den Hernalser Gürtel, und ich hielt schließlich beim Yppenpark in Ottakring an. Graumann versuchte, sich vorsichtig am Sicherheitsgurt zu schaffen zu machen. Ich unterband das mit einem kräftigen Schlag gegen seinen linken Oberarm. »Sie haben einen Bruder und eine Schwester«, stellte ich fest. Ein kurzes Zucken durchfuhr ihn. Er hatte sofort verstanden. Der Fall Pescher war ihm allen Anschein nach noch in lebhafter Erinnerung. Sie hatte die Drohungen nicht ernst genommen. Und dafür einen hohen Preis bezahlt. Walter Graumann hatte ihr gegenüber aber nun einen Vorteil. Er wusste, wie ernst es mir war. Und kannte die Konsequenzen, die seine Entscheidungen nach sich ziehen würden. »Ja«, antwortete er nach Luft ringend. Die Schweißperlen standen ihm mitten im Gesicht. »An Ihrer Reaktion erkenne ich, dass ich Sie über die Tragik um Anja Pescher nicht näher in Kenntnis zu setzen brauche.« Er schüttelte kurz, aber bestimmt den Kopf. Gut. »Dann sind Ihnen die Spielregeln bewusst. Bis heute Abend, zweiundzwanzig Uhr, will ich wissen, woran ich bin. Schreiben Sie einfach in einem unverfänglichen Zusammenhang das Wort ›Mann‹ oder ›Frau‹ auf Ihre Facebook-Seite. Dann bin ich im Bilde. Höre ich nichts von Ihnen, sind Sie selbst der Ehrengast auf meiner Party, zu der ich Sie zu einem Ihnen unbekannten Termin einladen werde.« Ich lächelte dabei vielleicht etwas zu selbstgefällig. Wortspiele waren nicht das Meine. Und verfiel ich einmal doch auf eines, bereitete es mir beinahe kindische Freude. Eine Schwäche, die ich schleunigst ablegen musste. Denn in dem, was ich tat, durfte ich mir nicht die geringste Blöße leisten. »Wenn Sie die Polizei einschalten, werde ich beide töten. Und zum Schluss Sie selbst. Darauf können Sie Gift nehmen. Wenn Sie jedoch besonnen handeln, dann wird niemals jemand etwas über Ihre Mitwisserschaft erfahren. Sie haben dann zwei Leben gerettet und nicht drei verloren. Das sollte Ihre moralischen Ansprüche doch etwas besänftigen.« Den letzten Satz sagte ich betont süffisant und sarkastisch, weil ich diesem Menschen seinen zur Schau gestellten Humanismus nicht im Ansatz abnahm. Er war einfach nur ein Spinner mehr, der glaubte, dass es nichts Böses in der Welt gab. Selbst dann nicht, wenn es direkt vor ihm stand. Oder saß. Mit einer Waffe im Anschlag. Ich löste den Sicherheitsgurt und schubste ihn raus. Mit qualmenden Rädern fuhr ich davon. Nahm Hornbrille, Schnurrbart und Baskenmütze ab. Und entfernte die beiden kleinen Bällchen in meinen Backen, die sowohl mein Gesicht als auch meine Stimme verzerrt hatten. Rückblende
Meine Einheit nahm an einem Manöver entlang des großen Kama-Stausees nördlich von Perm teil. Einen geschlagenen Monat lang sollten wir im Felde liegen. Was natürlich keinem so richtig schmeckte, zumal unsere Kasernenprivilegien hier sehr eingeschränkt waren und wir mit den neuen Rekruten gemeinsam Hand anlegen mussten. Besonders hart traf es hierbei die Pioniere, die oft ganze Nächte lang durcharbeiten mussten, um provisorische Uferbefestigungen, Stege oder Pontons zu errichten. Wir Artilleristen hatten zumeist mit dem Ausbau von Geschützstellungen zu tun, die aufgrund veränderter Lagebilder laufend gewechselt werden mussten. Tag für Tag schaufelten wir die Haubitzen ein, tarnten sie, gaben einige Übungsschüsse ab und begannen in irgendeinem Erdloch ein paar Kilometer weiter mit dem gleichen Spiel wieder von vorne. Es war ermüdend und nervenaufreibend zugleich, weil bloß die Kadersoldaten mit Wodka versorgt wurden und wir in die Röhren der Geschütze blicken mussten. Da staute sich relativ rasch Frust auf, und Schlägereien brachen sich Bahn. Da niemand einschritt und wir mehr und mehr uns selbst überlassen wurden, verlegten wir in den kurzen Ruhepausen die Kasernenschikanen einfach an die Waldränder der Permer Region. Igor, wie ich meinen persönlichen Assistenten nannte, der mir die Ausrüstung reinigte und mir auch sonst bei allem Unbill zur Hand ging, ölte gerade das Bajonett zu meinem Sturmgewehr ein, als mir eine Idee kam. Da man in Angst vor einem möglichen Gewaltausbruch keine scharfe Munition ausgegeben hatte und wir während des ganzen Manövers mit Platzpatronen vorliebnehmen mussten, würden wir uns eben auf andere Art und Weise behelfen. Also riss ich meinem Lakaien Messer und Flinte aus der Hand, pflanzte Ersteres auf Letztere und schrie einen Weißrussen an, der mir schon seit einigen Tagen mächtig gegen den Strich ging. Und nicht bloß, weil er einen lettischen Namen trug. »Rastorgujevs!«, bellte ich und winkte den Mann unmissverständlich herbei. »Heute werde ich dir eine Lektion erteilen, Grünschnabel«, sprach ich und befahl ihm, seine Waffe zu holen. Schnell bildete sich ein Kreis um uns, und ein wilder Kampf entbrannte. Ich war nicht mehr der Typ, der sich auf Schwächlinge stürzte und ihnen im Schutze der Dunkelheit das Verderben brachte. Nein, ich war während der Herrschaft der Großväter in meinem ersten Militärjahr zu etwas mutiert, vor dem ich in meinen dunkelsten Stunden selbst Angst bekam. Und so rang ich mit diesem bulligen Kerl scheinbar um die Ehre, in meinen Augen aber längstens auf Leben und Tod. Der dann auch relativ schnell eintrat, als ich ins Hintertreffen geriet und mich mit einem wuchtigen Stoß genau in seinen Brustkorb zu befreien vermochte. Zwei Stunden später wurde ich in Gewahrsam der Militärpolizei genommen, die mich in einen grünen Kleintransporter prügelte und schließlich die Käfigtüre hinter mir zumachte. Zurück in der Kaserne wurde mir binnen weniger Tage der Prozess gemacht, an dessen Ende ich vom Gefreiten wieder zum Soldaten degradiert wurde. Von kopflosem Handeln und Zweckentfremdung von sowjetischem Militärgerät sprach der Richter bei seiner Urteilsbegründung. Ein junger Bürger der UdSSR war dieser Unbedarftheit zum Opfer gefallen. Aus eigener Schuld, wie man nicht vergaß zu betonen. Ansonsten wäre das System der Dedowschtschina in sich selbst zusammengefallen. Was man augenscheinlich verhindern wollte. Schließlich waren der Kommunismus und all seine Institutionen unfehlbar. Obwohl sie...