E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Reihe: Phantastische Stories
Korb Der Struwwelpeter-Code
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-95719-307-0
Verlag: Blitz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
und andere sonderbare Erzählungen
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Reihe: Phantastische Stories
ISBN: 978-3-95719-307-0
Verlag: Blitz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Lebenslauf und Veröffentlichungen Markus K. Korb Markus K. Korb wurde 1971 in Werneck bei Schweinfurt (Unterfranken/Bayern) geboren. Er veröffentlichte seine Erzählungen zunächst in zahlreichen Literaturmagazinen und Anthologien. Im Jahr 2002 betätigte er sich als Herausgeber der Anthologie 'Jenseits des Hauses Usher' (Blitz-Verlag), wo er Storybeiträge zusammentrug, geschrieben von deutschen Autoren als Hommage an Edgar Allan Poe. Preise: Für die Erzählung 'Der Schlafgänger' (aus: 'GRAUSAME STAEDTE') erhielt Markus K. Korb den DEUTSCHEN PHANTASTIK PREIS 2004 in der Kategorie 'Beste Kurzgeschichte'. Die Erzählung 'Joanna' erhielt den Ersten Preis des Marburg-Awards 2004. Sie ist in der Sammlung 'Nachts...' (Eldur Verlag) enthalten. 'Grausame Städte 2' erzielte den dritten Platz beim Vincent-Preis
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MUTTER DER PUPPEN
Dutzende Augenpaare blickten auf Eric herab.
Und nur eines blinzelte.
Die Frau vor ihm musste ihr siebzigstes Lebensjahr bereits weit überschritten haben, dennoch wirkte ihr Gesicht seltsam alterslos. Jedenfalls aus der Entfernung, in der Eric vor ihr saß. Ihn trennte ein altmodischer ovaler Wohnzimmertisch in Kniehöhe von der alten Dame. Auf dem Tischchen standen zwei Plastiktabletts, darauf je eine dampfende Tasse Tee nebst Porzellan-Kännchen.
Tante Barbara war eine höchst merkwürdige Person. Sie ging nicht aus, sah nicht fern und Eric hatte sie bei seinen wöchentlichen Besuchen niemals woanders als in diesem Zimmer gesehen, wo sie am Nachmittag um vier Uhr stets eine Tasse Tee mit ihm trank. Seine Eltern bestanden darauf, dass er Tante Barbara regelmäßig besuchte. Sie war seine einzige Tante und die Eltern hatten sich mit Barbaras Tochter Teresa zerstritten, sodass jene in der alten Villa am Rand der Stadt nicht mehr gern gesehen waren.
Im Zimmer herrschte ein schattendurchwobenes Zwielicht. Es rührte von den Rankenpflanzen her, welche den Balkon bis hoch über die Fenster in Besitz genommen hatten. Im Hintergrund schlug eine alte Standuhr die vierte Stunde. Kurz nur hallten die Schläge im Wohnzimmer wider und unterbrachen das peinliche Schweigen. Arabische Teppiche schluckten jedes Geräusch und Spanische Stellwände, wohinter sich alles Mögliche versteckt halten mochte, brachen die Schallwellen wie Felsklippen die Brandung.
Eric räusperte sich. Er fühlte sich unwohl unter den Blicken unzähliger Augenpaare, die auf ihm ruhten. Hinter Tante Barbara hing eine Regalwand und darin saßen, standen, hingen oder kauerten Dutzende von Puppen. Die meisten besaßen kindliche Züge, runde Pausbacken, kleiner roter Mund mit angedeuteten Milchzähnen. Sie steckten in Kinderkleidung, streckten ihre dicklichen Beinchen und Ärmchen Eric entgegen. Andere aber wirkten wie Erwachsene in Miniatur, trugen Soldaten-Uniformen, Matrosenanzüge oder eng anliegende Outfits von Stewardessen.
Tante Barbaras Hobby verwunderte Eric nicht, schließlich war sie die Senior-Chefin eines alteingesessenen Unternehmens, das sich mit der Herstellung von Puppen aller Art beschäftigte. Bereits der Urgroßvater Tante Barbaras, ein Herr Hofmann aus Bamberg, hatte sich der Zunft der Puppenmacher verschrieben. Seit jenen Tagen im 19ten Jahrhundert stellte die Firma Olivia Kinderpuppen her. Ins Sortiment gelangten noch Schaufensterpuppen und Gliederpuppen für Schneiderinnen. Irgendwann im 20ten Jahrhundert kamen sogar maschinelle Automaten hinzu, die durch ein Uhrwerk angetrieben wurden und sich roboterhaft bewegten, sobald man sie mit einem Schlüssel aufzog.
In der hohen Flügeltür erschien Teresa. Ihr Gesicht war zur Faust geballt, dennoch mühte sie sich ein Lächeln ab, das ihr teigiges, frühzeitig gealtertes Gesicht etwas aufhellte.
„Na, Eric? Alles in Ordnung?“
Er brachte nur ein Nicken zustande und nippte an seiner Tasse Tee. Teresa mochte an die vierzig Jahre alt sein. Gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Stefan lebte sie bei ihrer Mutter in der Villa, die über der Puppenfabrik auf einem Hügel thronte. Es war ein offenes Geheimnis, dass sie schon lange die Leitung der Fabrik übernehmen wollte. Aber ein Passus in den Gründungsunterlagen untersagte es ihr. Tante Barbara hatte hineinschreiben lassen, dass nur eine verheiratete Frau oder ein verheirateter Mann die Geschicke der Firma weiterführen durfte. Da Teresa diese Forderung nicht erfüllen wollte, blieb ihr die Betriebsleitung verwehrt. Doch Tante Barbara war kein Unmensch. Ein anderer Passus schrieb vor, dass man dem zukünftigen Firmeninhaber eine hübsche monatliche Summe als Honorar-Vorschuss auf dessen Konto überweisen sollte. Daher lebte Teresa nicht schlecht, und solange Tante Barbara am Leben war, ging es ihr besser als jeder Made im Speck.
Teresa nickte ihm zu, das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht.
„Nur eine Stunde, das weißt du.“
Eric nickte und nippte am Tee.
„Tante Barbara soll nicht zu lange angestrengt werden. Sie braucht ihren Schönheitsschlaf.“
Teresa verschwand und ließ Eric allein mit seiner Tante.
Nicht ganz allein, allerdings.
Rechts neben dem altmodischen Plüschsofa, auf dem Tante Barbara mit eng geschlossenen Knien saß, ragte eine Stahlstange empor. Auf deren Spitze befand sich eine Querstange, um die sich die Krallen von Rocco fest geschlossen hatten. Rocco war ein Papagei und das einzig Lebendige in diesem Wohnzimmer. Ständig rutschte er hin und her, schlug mit den Flügeln, krächzte laut und ließ die Kette klirren, mit der seine rechte Kralle an der Stange festgebunden war.
Tante Barbara besaß die Eigenart, die Lippen zu bewegen, sobald Rocco mit seiner rauen Stimme sprach. Das wirkte seltsam, als sei Tante Barbara ein Bauchredner und der Papagei sein Stofftier, dem sie ihre verstellte Stimme lieh. Dann wiederum redete Tante Barbara wieder mit ihrer normalen Stimme. Manchmal geschah dies in einem Satz, sodass die Worte durcheinanderwirbelten und Erics Gehirnwindungen verknoteten.
Ihm schwindelte stets, wenn er Tante Barbara verließ. Das lag zum einen an ihrer Sprechweise, zum anderen an dem Geruch, der das Zimmer ausfüllte. Tante Barbara pflegte ein schweres Parfüm aufzulegen. Sie verwendete es offenbar in solchen Mengen, dass sogar der Tee danach schmeckte. Schwer, orientalisch, mit einem Beigeschmack, den Eric nicht exakt einzuschätzen wusste, ihm aber scharf wie Scheuermittel vorkam. Möglich, dass dieser Geruch unter dem Parfüm verborgen war. Erics Mutter hatte einmal gesagt, dass alte Menschen streng riechen würden. Es konnte also sein, dass Tante Barbara diesen Geruch mit dem Parfüm zu überdecken versuchte.
Eric stellte seine Tasse mit einem Klappern auf der Untertasse ab und blickte Tante Barbara in die Augen. Sie waren leicht gerötet und von einem tiefen Blau. Schon als Eric noch ein kleiner Junge gewesen war, hatte er sich gern in diesen blauen Seen verloren, die so gnädig und würdevoll blickten. Aber nun, da er das zehnte Lebensjahr vollendet hatte, wirkten die Seen, als wären sie zugefroren und mit einer dicken Eisschicht bedeckt.
„Wie geht es dir, Tante Barbara?“
Das Gesicht, eben noch zur Seite gedreht, wandte sich ihm langsam zu. Eric bemerkte, dass etwas Flüssigkeit in Tante Barbaras Mundwinkel hing.
„Gut, mein Junge. Wie geht es dir?“
„Danke, prima.“
Die Worte fielen wie Wassertropfen in einen See, breiteten sich aus, verklangen. Schon war die Oberfläche des Wassers wieder still und ruhig. Tante Barbara hob den rechten Arm, der Ärmel ihres Kleides flatterte für einen Moment und hing dann wieder unbewegt herab. Sie führte die Teetasse an ihren Mund, neigte die mit Altersflecken übersäte Hand, die so gar nicht zu ihrem bleichen, faltenlosen Gesicht passen wollte. Tee rann ihr über die Lippen in den geöffneten Mund. Sie bemerkte nicht, dass nicht wenig der Flüssigkeit an den Mundwinkeln herabrann.
Fasziniert blickte Eric auf die Tasse, deren Porzellan bereits in unzähligen Rissen gesprungen war und nur noch vom Firnis zusammengehalten wurde. Seine Entsprechung fand das Porzellan im dicken Puder Tante Barbaras, das ihre mit Rouge betupften Wangen bedeckte und ebenfalls spinnennetzartige Risse aufwies. Als sie die Tasse absetzte, glänzten ihre dünnen Lippen vor Nässe. Klirrend schlug das Porzellan auf die Untertasse, welche Tante Barbara in ihrer Linken hielt.
„Ungezogener Bengel! Mach, dass du verschwindest!“
Tante Barbara bewegte den Kiefer zu Roccos Gekrächze. Eric irritierte das immer wieder aufs Neue. Manchmal fragte er sich, ob Tante Barbara nicht doch Roccos Stimme imitierte, um ihre wahre Meinung kundzutun.
„Dummer Papagei! Halt den Schnabel!“, beeilte sich Tante Barbara hinzuzufügen und drehte ihren Kopf langsam in Richtung des Vogels und wieder zurück.
Minuten verstrichen, in denen nicht gesprochen wurde. Eric nippte an seinem Tee und blickte sich um. Die Dschungelatmosphäre im Raum wurde durch eine Vielzahl an Rankenpflanzen unterstrichen, die an den Wänden aufgereiht waren und ihre Blätter und Stängel und Ranken über die gesamten Wandflächen verteilten. Eine vorwitzige Pflanze ließ ihre Blätter im Laufe der Jahre tiefer und tiefer auf Tante Barbaras sauber geteilten Scheitel weißer Haare herabsinken, die hinten zu einem Dutt zusammensteckt waren.
Tante Barbaras Kleid war luftig leicht wie Gardinenstoff. Doch darunter verbarg sich dicke Wolle, die blickdicht ihren Körper umschloss. Eric hatte noch nie ihre Füße gesehen, geschweige denn ihre Knöchel.
Die Uhr schlug fünf Mal. Als die Schläge vom arabischen Teppich verschluckt worden waren, hörte Eric die Schritte auf dem Parkett vor der Tür. Teresa streckte ihren Kopf herein, einen Schlüssel in der Hand.
„Es wird Zeit, Eric!“, sagte sie tonlos.
Eric setzte die Tasse ab und erhob sich.
„Danke für den Tee, Tante Barbara.“
Sie rührte sich nicht, blickte reglos durch ihn hindurch in die Ferne.
„Ist schon in Ordnung. Du muss verstehen, sie ist müde.“
Teresa winkte Eric mit dem Zeigefinger. Er trat auf sie zu, wirkte seltsam steif mit seinem schwarzen Sonntagsanzug, fast wie ein Roboter.
Als er draußen auf dem Flur war, klingelte das Telefon. Teresa rollte mit den Augen.
„Oh Mann! Das wird Stefan sein. Er ist auf Dienstreise im Ausland. Entschuldige mich, Eric. Du kannst schon mal zur Haustür gehen.“
Teresa verschwand durch den Flur nach hinten in die Küche, wo das Telefon stand. Eric machte sich auf in die andere...




