E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Kosslick Immer auf dem Teppich bleiben
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-455-00364-2
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Von magischen Momenten und der Zukunft des Kinos
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-455-00364-2
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dieter Kosslick, 1948 in Pforzheim geboren, studierte Kommunikationswissenschaften, Politik und Pädagogik an der LMU München. Er war von 1979 bis 1982 Büroleiter, persönlicher Referent und Redenschreiber von Hamburgs erstem Bürgermeister Hans-Ulrich Klose und Pressesprecher der 'Leitstelle Gleichstellung der Frau', danach schrieb er für die konkret. Nach Stationen bei den Filmförderungen in Hamburg, Brüssel und Nordrhein-Westfalen leitete er 18 Jahre lang die Internationalen Filmfestspiele Berlin. Er lehrte als Professor an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf, erhielt viele nationale und internationale Auszeichnungen und berät heute Filmfestivals weltweit.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Cover
Titelseite
Widmung
Vorwort
Teil 1 DIE HAND AUF DER KLINKE
Teil 2 MIT ROTEM SCHAL UND SCHWARZEM BARBISIO – BERLINALE-GESCHICHTEN
Teil 3 THURSDAYS FOR FUTURE
Nachwort
Endnoten
Über Dieter Kosslick
Impressum
Teil 1 DIE HAND AUF DER KLINKE
Pferdeflüsterer
Mein erster Kinofilm auf einer riesigen Leinwand in einem richtigen Kino war ein Pferdefilm. Vielleicht Pferdefilm der Filmgeschichte: Die aufgebrachte Menge jubelt frenetisch, als die Kontrahenten in die überwältigende Weite der Arena einreiten. Fanfarenstöße erklingen, riesige, muskelbepackte Bronzestatuen stehen im Hintergrund. Adrenalin ist spürbar. Die Energie der Pferde, die Entschlossenheit in den Augen der Männer sind mitreißend. Brot und Spiele, es geht um Leben und Tod, darum, alles zu verlieren oder als strahlender Sieger mit einem Lorbeerkranz geschmückt zu werden.
Die Kontrahenten begeben sich in Position, die Pferde, je vier pro Wagen, scheuen, bäumen sich auf. Als das Startsignal erfolgt, bricht sich ihre unbändige Kraft endlich Bahn. Es folgen atemberaubende Minuten voller Dynamik, Geschwindigkeit, Bewegung. Man hört nur die donnernden Hufe, das hemmungslose Knallen der Peitschen, das geifernde, schimpfende Gebrüll der aufgebrachten Menge.
Am Ende der zweiten Runde liegt unser Held Judah Ben-Hur mit seinem erbittertsten Gegner und Todfeind Messala gleichauf. Aber Messala spielt falsch, schlägt mit seiner Peitsche auf Judah ein, drängt ihn ab. Sein Blick ist sadistisch. So kann man nur hassen, was man einst geliebt hat. Zwei Wagen prallen ineinander, Pferde stürzen zu Boden. Die Bilder werden unscharf, wackeln. Judah fährt über einen der zerstörten Wagen, sein Körper fliegt durch die Luft, nur mit äußerster Mühe kann er sich halten. In Technicolor-Rot tropft das Blut von seiner Schläfe.
Noch drei Runden zu fahren. Messala und Ben-Hur liegen wieder gleichauf. Messala hat metallen blitzende Fräsen an die Naben seiner Räder angebracht. Sie bohren sich in Judahs Rad, nur knapp kann er entkommen, indem er mutig den Wagen herumreißt.
Noch zwei Runden. Die Kamera ist jetzt ganz nah, fängt den erbitterten Zweikampf der Männer ein, das zähe Ringen, den Hass, die Wut. Die Einstellungen wechseln immer schneller, atemloser. Und plötzlich wird Messalas Wagen im Spiel der Kräfte zerrissen, verwickelt in die Zügel, wird der Gegner von seinen Pferden einfach weitergeschleift. Bis er unter die heranstürmenden Hufe eines Verfolgers gerät, der Aufprall, das Erschrecken gräbt sich tief unter die eigene Haut.
Ich riss die Augen weit auf, hielt mich an der Sessellehne fest.
, mit dem legendären Charlton Heston, ist seither einer meiner Lieblingsfilme. Ich war elf Jahre alt, als er im Rio in der westlichen Karl-Friedrich-Straße 104 in Pforzheim, das zu dieser Zeit über eine der größten Leinwände in Baden-Württemberg verfügte, gezeigt wurde. Der Monumentalfilm von Regisseur William Wyler, für mich der monumentalste aller Monumentalfilme. Einer der spektakulärsten Hollywood-Filme, mit dem berühmten elf Minuten langen, atemberaubenden Wagenrennen und 1960 ausgezeichnet mit zwölf Oscars. Unvergesslich das filmische Wunderwerk von Schnitt, Kamera, Schauspielkunst und gigantischer Ausstattung. Mir kam damals das Wagenrennen zehnmal so lang vor.
Der Film war nichts für Elfjährige, er war ab zwölf, und ich musste mich am Eingang durchmogeln. Ich habe viele Filme im Laufe meines Lebens gesehen, es werden einige Tausend gewesen sein. Aber dieser Film, mein erster großer Hollywood-Film, hat meine Liebe zum Kino geweckt. Dieser unvergleichbar magische Moment, der schon beginnt, bevor der Vorhang aufgeht. So etwas kann es nur auf einer Kinoleinwand geben. Nur im Kino.
40 Jahre nach meinem Kinoabenteuer im Rio schaute ich in das kleine Büro von William Wyler im Haus seiner Tochter Catherine in Washington, DC. Sie erzählte mir von der detailversessenen Akribie, mit der ihr Vater diese Magie auf der Leinwand erzeugte. Ich besuchte sie mit Rainer Rother, damals Kurator beim Deutschen Historischen Museum, als wir in der Public Library in Washington nach Filmen für eine Retrospektive der »Marshall-Plan-Filme« recherchierten.
Ich bin mir sicher, dass solche Momente die Macht haben, das Leben eines Kinobesuchers zu verändern. In der Dunkelheit des Kinosaals blickt man fasziniert, weltvergessen und selbstversunken auf die Leinwand. 90 Minuten später (im Fall von 222 Minuten), nach den ersten noch tapsigen Schritten hinaus in die Realität, wirkt diese Kraft noch lange nach. Jedenfalls ist das bei mir so gewesen, schon bei den dörflichen Kinobesuchen als Kind und Jugendlicher im Bali. Die Bahnhofslichtspiele der wunderbaren Elsa Fischer in meinem baden-württembergischen Heimatort sorgten für viele dieser Momente. Ich begann das Kino zu lieben und führte akribisch über alle dort gesehenen Filme Buch: den Titel, den Regisseur und den Hauptdarsteller. Dieser Schatz, ein kleines schwarzes DIN-A5-Brevier, ist leider irgendwann verloren gegangen. Die Filme aber blieben mir im Gedächtnis.
Das Bali befand sich im Saal der Bahnhofsgaststätte gegenüber der kleinen Bahnstation Ispringen auf der Strecke Pforzheim–Karlsruhe. Solche Bahnhofskinos erlebten in den 1950er Jahren eine wahre Blütezeit. Die Lust, sich aus der Kriegszeit wegzuträumen, war groß, und Fernsehgeräte standen noch nicht in jedem Haushalt. Das Kino war auch für mich die einzige Möglichkeit, Filme zu sehen. Ich musste nicht vom Fernseher weggelockt werden, denn wir hatten keinen. Zu erreichen war das Bali über eine Holztreppe am Hintereingang und dann über eine kleine Plattform und eine abweisende Holztür. Filme wurden am Sonntag gezeigt. Das Geld gab mir der neue Liebhaber meiner Mutter; er wollte mich für einige Stunden loswerden. Ich kam also der Liebe wegen zum Kino. Filmbeginn war um 15 Uhr, und ich war mittags der Erste an der Eingangstür. Die Türklinke hielt ich fest in der Hand und ließ sie bis zum Einlass zwei Stunden später nicht mehr los. Wer zuerst da war, hatte die Auswahl der besten Plätze. Die Eintrittskarte kostete 50 Pfennige, die Luxussessel waren 40 Pfennig teurer: acht dunkelrot gepolsterte Sessel auf der nur einen Meter breiten Empore direkt vor dem Projektionsraum. Beste Sicht, schlechtester Ton. Das Rattern des durchlaufenden Films machte den Kinobesuch zu einem sehr authentischen Erlebnis, doch den Filmgenuss konnte das nicht schmälern.
Es war die Zeit des deutschen Heimat- und Liebesfilms, Eskapismus pur im Kino der Nachkriegsjahre. Der jugendliche Anwalt mit dem roten Cabriolet bezirzt die hübsche Tochter des wohlhabenden Unternehmers aus Berlin. Sie alle machen Ferien in einem schönen Hotel am See. Papa will den jungen Schnösel nicht. Die Tochter keinen anderen und wird am Ende mit dem aufstrebenden Anwalt glücklich. So habe ich es in Erinnerung.
war 1950 der erste westdeutsche Farbfilm und begründete eine wahre Flut an ähnlichen, enorm erfolgreichen Filmen. Das Traumpaar jener Zeit hieß Sonja Ziemann und Rudolf Prack, »Zieprack«, wie sie damals genannt wurden, sozusagen die »Brangelinas« der 1950er Jahre. Zahllose Filme folgten, viele mit »Schwarzwald« oder »Bodensee« im Titel. Sie prägten nachhaltig das Bild des Südwestens in den Köpfen von Millionen von Kinozuschauern. Eine unbezahlbare Werbung für die Region, lange bevor 1985 die Fernsehserie die Nation bewegte und das Glottertal von Touristen überrannt wurde.[1]
Heute sind es nicht mehr Gerhard Riedmann und Marianne Hold aus , mit denen die Region assoziiert wird, sondern die Schwaben Roland Emmerich und Volker Engel, die an der Ludwigsburger Filmakademie gemeinsam mit Studenten 1997 die Visual Effects für einen der erfolgreichsten, Oscar-prämierten Hollywood-Filme kreierten. Oder der Dokumentarfilmer Thomas Schadt, die Freiburger Produzenten und Filmemacher Gebrüder Danquart. Pepe Danquart wurde ebenfalls mit einem Oscar für seinen Kurzfilm ausgezeichnet. Auch Peter Rommel, der erfolgreiche Produzent von Andreas Dresens , der auf der Berlinale 2002 den Silbernen Bären erhielt, kommt aus dem Ländle. Und einer der erfolgreichsten Film- und Fernsehproduzenten, Nico Hofmann, lehrt in Ludwigsburg. Nicht zu vergessen das Ulmer Filminstitut, das mit Filmemacher*innen wie Alexander Kluge, Ula Stöckl, Norbert Kückelmann, Edgar Reitz den gesamten deutschen Film beeinflusst hat. Das Biberacher Filmfest mit dem engagierten Adrian Kutter feiert seit über 40 Jahren den deutschen Film. Es ist ein Kult-Filmfest. Meine Heimatgegend: ein produktives Pflaster für große Regisseure, erfolgreiche Produzenten und kleines, feines Kino.
Doch damals, als kleiner Junge im Bali und im Rio, träumte ich mich in die Geschichten der Filme. Von der Filmindustrie wusste ich nichts. Auch nicht, dass nicht weit von Biberach ein gewisser Carl Laemmle aus Laupheim, Sohn einer jüdischen Familie, Ende des 19. Jahrhunderts nach Amerika auswanderte, um dort sein Glück zu suchen. Dieser Carl Laemmle war einer der großen Filmpioniere Hollywoods, er gründete dort 1912 die legendären Universal Studios. Spielfilme seien Kunst, und mit dieser Kunst könne man Massen begeistern, war seine Philosophie. Nach ihm ist heute der Produzentenpreis der Produzentenallianz benannt, der in Carl Laemmles Heimatort Laupheim verliehen wird.[2]
Dass ich 40 Jahre später selbst vor den Toren der Universal Studios im Stadtteil...




